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Nach dem Prompt „Eisbär“ der Gruppe „Crikey!“
Beitrag zum Bärnesstag 2021
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Der Weg war beschwerlich, dennoch war es die einzige Wahl, die ihnen geblieben war. Die Vojak hatten das Schiff im Geheimen gebaut, in einem Berg weitab vom Meer, damit keiner ihrer Feinde ihren Plan erkennen und ihnen zuvorkommen konnte. Sie hatten bis zu diesem fürchterlichen Sturm warten müssen, denn der Blizzard war die einzige Deckung auf dem weiten Feld der Eisschollen.
Viele waren gestorben, während die Elfen auf diesen Tag gewartet hatten. Heute nun würden sie entweder entkommen oder im Krieg zugrunde gehen.
Inda war vorausgelaufen, die Hacke über der Schulter, doch sie versuchte ständig, nach Stimmen im Wind zu lauschen. Dabei war der Stamm zu weit hinter ihr.
Männer und Frauen zogen das Schiff, während die Kinder und die Kranken in dessen Windschatten folgten. Fünf Elfen hatten sie in den Höhlen zurücklassen müssen, da sie nicht mehr laufen konnten. Sie waren verloren und würden mit Sicherheit in den nächsten Tagen sterben. Wenn sie Glück hatten, dann würde die Kälte sie töten, bevor die anderen Stämme begriffen, dass alle, die sich auf den Beinen halten konnten, das Versteck verlassen hatten.
Indas Mutter war eine dieser Unglücklichen. In der letzten Schlacht hatte ein Hieb ihr das Bein abgetrennt. Sie war eine starke Frau gewesen und hätte sich womöglich sogar mit einer Krücke mitschleppen können - doch nach diesem Schlag hatte sie allen Lebensmut verloren und würde nun bald ihrem Ehemann folgen.
Inda stoppte abrupt, als sie mit einem Mal die Wellen vor sich sah. Sie hatte den Rand des Eises erreicht. Atemlos schätzte sie nach, wie weit wie gelaufen war. Es war eine ganze Strecke, die zwischen den Bergen und dem rettenden Meer lag. Und niemand wusste, wie lange der Sturm dauern würde. Wenn er abflaute, wären die Vojak ungeschützt auf der offenen Ebene.
Und jene drei Stämme, die sie erbittert bekriegten, würden den zerschlagenen und geschrumpften Clan zerfetzen.
Inda biss die Zähne zusammen und holte mit der Hacke aus, um sie in das Eis zu treiben. Risse zogen sich durch die weißen Blöcke und einige Schollen brachen bereits heraus. Doch sie waren kaum eine Handlänge dick. Ihre Arbeit würde noch früh genug schwierig werden.
Verbissen arbeitete sie weiter, auch wenn die Hacke bald kaum noch in das Eis dringen wollte und dieses immer dicker und fester wurde. Doch Inda wusste, was von ihr abhing. Sie war die einzige Gesunde, die ihr Stamm entbehren konnte, während der Rest das Schiff über das Eis zog. Wenn sie keine Schneise schlug, müsste der Stamm das Gefährt bis zum Meer ziehen. Und das könnte zu lange dauern.
Lange, dunkle Risse zogen sich gezackt unter der dünnen Schneeschicht durch's Eis. Immer wieder brachen Brocken heraus. Einer war so groß wie Inda selbst und ließ beim Aufprall eine Fontäne hervorschießen, die ihr ins Gesicht klatschte und ihr den Atem nahm. Eisig rann das kalte Wasser unter ihren Pelzkragen. Sie machte weiter, doch ihre Zähne klapperten immer stärker, bis sie kaum sehen konnte, wie sich die Risse zu ihren Füßen verästelten.
Sie ließ die Hacke sinken und wischte sich über die Augen. Wenn sie nichts sehen konnte, würde sie am Ende noch ins Wasser fallen! Verzweifelt überlegte die junge Frau, was sie tun sollte. Sie konnte ihren Stamm nicht im Stich lassen - sie musste diese Schneise ziehen, denn jeder Meter, den das Schiff eher im Wasser wäre, waren kostbare Minuten gespart.
Doch ihre Kräfte ließen sie im Stich. Entmutigt sank sie auf die Knie. Sie war einfach zu jung und zu schwach - der Grund, weshalb man sie bei den Schleppern hatte entbehren können.
"Bitte ...", flehte sie zum Vielgesichtigen Gott. "Bitte hilf mir. Ich schaffe es nicht allein."
Nur der heulende Wind antwortete Inda. Tränen liefen über ihre Wangen und gefroren sofort. Monatelang hatte der Stamm sich in den Bergen verschanzt. Nun drohte ihre einzige Hoffnung auf eine Flucht zu scheitern.
Sie hatten der Kälte Holzscheit um Holzscheit abgetrotzt, gefroren und gehungert, weil ihre Jäger statt Fleisch lieber die Knochen der Beute mitgebracht hatten, Material, um das Schiff daraus zu erbauen.
"Ich weiß, es war unrecht, was Häuptling Kaukaarak getan hat", schluchzte Inda. "Doch bitte, Beerash Inu, gib mir Kraft. Der Stamm selbst trägt keine Schuld und der Häuptling ist tot. Bitte, lass uns fliehen."
Inda erstarrte, als sie ein tiefes Brummen hörte. Dann wirbelte sie herum und fand sich Auge in Auge mit einem großen, schneeweißen Bären, der auf sie herabsah. Wann sich das Raubtier genähert hatte, wusste sie nicht. Der tobende Sturm hatte jedes Zeichen seiner Ankunft verdeckt, bis sich das Tier nun mit einem Brummen zu erkennen gab.
Starr vor Angst sah Inda in die schwarzen Augen des Eisbären. Sie wusste, wozu diese Bestien fähig waren, und zweifelte nicht daran, dass nun ihr Ende gekommen wäre.
Doch der Bär sah sie einfach nur an, vielleicht mit einem Hauch Verwunderung im Blick, während die junge Elfe vor Furcht zitterte.
Dann schnaubte der weiße Bär, sodass sein Atem als Dampf aus seiner Nase fuhr, wandte sich ab und trottete in den Schneesturm, als habe er sie nicht gesehen.
Eine Weile konnte Inda sich nicht rühren, während ihr Herz wie wild hämmerte. Das musste ein Zeichen gewesen sein, ein Bote der Götter - anders konnte sie sich nicht erklären, dass sie noch lebte.
Von neuem Mut erfüllt ergriff sie die Hacke und schwang sie auf das Eis nieder. Eine weitere Scholle löste sich krachend vom Rand und Inda wurde von der Gewissheit erfüllt, dass die Vojak heute fliehen würden. Sie würden fortsegeln, Lamaria hinter sich lassen, und an einer neuen Küste ein neues Leben beginnen, weit entfernt von allen Sünden der Väter.
Sie würden überleben, denn der Weiße Bär schützte sie.