"Ey, Fettie! Na schmeckt dir dein Futter?!", der flachsblonde Junge vor mir lachte über seine eigenen Worte und kam einen Schritt näher auf mich zu.
Ich blickte noch immer auf meine Brotdose, in der sich ein angebissenes Sandwich befand. Entschlossen ihn zu ignorieren blieb ich auf der Bank sitzen und biss in mein Pausenbrot. Das hatte bis jetzt immer funktioniert, doch er ließ nicht locker.
"Hallo, ich rede mit dir, du fette Sau!", blökte er und kam noch näher, ich konnte seine Schuhe sehen, übergroß und grau waren sie. Seine Beine wirkten im Vergleich dazu wie Streichhölzer.
Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als ich die Beleidigung am Ende hörte. So dick war ich doch eigentlich gar nicht und trotzdem schleuderte er mir derartige Worte jeden Tag entgegen. Nur weil er spindeldürr war, glaubte er wohl, dass er das durfte. Was war schlecht daran ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen zu haben? Warum wurde ich nur nach meinem Körper beurteilt?
Ich wusste doch, dass alles, was der Junge zu mir sagte, einfach nur Schwachsinn war.
Und doch schnitten die Worte in meinen Körper wie Messerklingen. Es tat weh, wie er mich behandelte, er konnte mich mit einer fiesen Bemerkung in ein tiefes Loch ziehen, aus dem ich erst wieder ansatzweise hinauskam, wenn ich zuhause war, aber doch nie ganz.
Die Sonne mochte noch so warm scheinen, aber in meiner Brust schmerzte es und mir wurde innerlich ganz kalt.
Als ich immer noch nicht antwortete, schlug er mir das Brot aus der Hand und schrie dann triumphierend: "Dicke Schweine wie du können doch gleich vom Boden essen!"
Dann rannte er weg und ließ mich allein auf der Bank zurück. Meine Tränen sah er nicht und auch der Lehrer, der vorbeikam und mich beschimpfte, weil er glaubte, ich hätte mein Essen auf den Boden geschmissen, sah sie nicht.
Niemand sah sie, weder die Schüler, die an mir vorbeiliefen, noch einer von den Lehrern, als ich das Sandwich aufhob, zum nächsten Mülleimer ging und es dort hineinwarf.
Ich weinte immer für mich allein, auf der Welt schien es keinen zu geben, der sich für meine Tränen interessierte. Vielleicht war ich doch nur ein kleines, dickes Mädchen, dass niemand mochte...
***
"Na Emily, wie war es heute in der Schule?"
Meine Mutter grinste mich fröhlich an, als ich zur Tür hereinkam.
"Solala...", sagte ich nur. Ich wollte nicht das sozial gestörte Kind für sie sein.
"Aber heute hattest du doch Kunst und Deutsch, das macht dir doch soviel Spaß!", meinte sie und wuschelte mir durch meine braunen Locken. Ihre grauen Augen schienen mich zu durchleuchten.
Ich senkte schnell den Kopf und widmete mich meinen Schuhen.
"Ja schon, aber heute irgendwie nicht so...", nuschelte ich in den Kragen meiner Regenjacke.
"Kopf hoch, mein Schatz. Es gibt manchmal Tage, die nicht immer ganz so werden, wie wir sie uns vorstellen.", sagte sie, während ich meine Schuhe in die Ecke kickte.
"Hmm.", machte ich. Warum sollte ich mir auch wünschen von jemandem gehänselt zu werden?
"Aber jetzt komm erstmal essen, okay?", schlug meine Mutter vor.
"Was gibt es denn?" Ein bisschen Hunger hatte ich schon, weil das Pausenbrot ja im Müll gelandet ist.
"Schweineschnitzel!", meinte sie grinsend und lief schon in Richtung Küche.
Schwein... Schweine können doch gleich vom Boden essen!
Warum erinnerte ich mich gerade jetzt daran? Schnitzel war doch mein Lieblingsessen.
Doch jetzt hatte ich plötzlich keinen Hunger mehr...