»Verdammt, wir sind wieder viel zu lange hier sitzengeblieben! Was machen wir jetzt mit unserem Strandausflug?« Sven schob seine Teetasse weg, verschränkte die Arme auf dem Tisch und sah misstrauisch zum Fenster. Der typisch ostfriesische Überraschungsregen prasselte gerade waagerecht gegen die Scheibe.
John räkelte sich gemütlich und gähnte. »Also, von mir aus können wir gleich zum Abendessen übergehen und heute mal früh ins Bett fallen.«
Anna murmelte: »Du hast auch wieder die ganze Nacht gearbeitet« und schenkte John den Rest Tee aus der Kanne nach. Es war die dritte oder vierte Kanne, in diesem Haus verlernte man ganz schnell, mitzuzählen. Die Regel »Drei Tassen sind Ostfriesenrecht!« hatten die drei ausgedehnt auf »Drei Kannen sind Ostfriesenrecht!«, denn irgendwie dauerte der Tee in dieser gemütlichen kleinen Küche oft Stunden. Aber es gab auch einfach immer so unglaublich viele spannende Themen, über die wir unbedingt quatschen mussten!
Ich wandte mich an Sven. »Also, noch mal, wie machst du das beim Singen, dass du so springen kannst, von den tiefen Tönen zu den hohen? Wenn ich das versuche, quieke ich immer wie ein abgestochenes Schwein! Und dann hab ich solche Angst, dass mich jemand gehört haben könnte, dass ich ein Loch graben und rein springen will.«
Sven rieb sich gedankenverloren die Oberarme und zog kurz die Stirn kraus, dann hatte er die Antwort gefunden. »Technik, Lilly-Fratz. Einfach Technik.«
Ich musste lachen, weil er mich »Lilly-Fratz« genannt hatte. Offenbar wechselten die Spitznamen hier alle drei Minuten, bis sie sich bei irgendeiner liebgewordenen Gewohnheit einpendelten. Ich fragte mich, welcher Spitzname wohl an mir hängenbleiben würde. »Das Malerchen« stieß Sven an und murrte: »Digger, ein Keyword kann sie selbst googeln!«
Anna lachte leise über ihre Männer und stand träge auf, um frisches Teewasser zu kochen. »Du musst erst die Bruststimme trainieren und deine Atemtechnik finden, dann kommen die hohen Töne. Wenn die Bruststimme nicht geübt ist, ist das ähnlich, als würdest du versuchen, bei einem Haus erst das Dach in der Luft zu decken, bevor die Mauern da sind, die dein Dach tragen.«
Ich drehte mich erstaunt zu Anna um. »Aha? Und wie macht man das mit der Bruststimme?«
Sven gab John ein Zeichen. »Auf, Malerchen, komm hoch!«
John nörgelte leise »Immer ich!«, stand aber auf. Sven grinste zufrieden und strich ihm gefühlvoll über den Rücken. »Komm schon, mein Hase, Haltung!«
Während Johns Haltung sich fast unmerklich und gleichzeitig komplett veränderte, zwinkerte Sven mir zu. Ich musste kichern. Ich hatte zwar keine Ahnung, was jetzt wieder kommen würde, aber ich war mir sicher, dass es diebischen Spaß machen würde. Bevor ich verstanden hatte, was los war, fing John an, seltsame Tonfolgen von sich zu geben. Es klang wie »Fffff-sch-zzzz« oder so ähnlich, dann ging er in ein tiefes Brummen über und fing an zu lachen, weil Sven ihm über den Hintern streichelte.
John schimpfte: »Finger weg von meinem Südpol, ich soll hier den Klischee-Iren geben, oder nicht?«
Anna seufzte übertrieben und hauchte: »Ich weiß gar nicht, was mich heißer macht, der Klischee-Ire oder sein Südpol!«
John musste wieder lachen, dann schwebte plötzlich seine Stimme durch die Küche wie durch eine Kathedrale.
Come over the hills my handsome Irish lad …
John ließ seinen irischen Akzent so tanzen, dass die Worte sich in der Luft melodiös zu drehen schienen. Sven sah mich aus weit aufgerissenen Augen erstaunt an, als hätte er John noch nie singen gehört, aber ich wusste, dass das Quatsch war. Ich hätte über seinen Gesichtsausdruck gelacht, aber Johns Gesang nahm mich von der ersten Sekunde an sofort gefangen. Ich hatte diese keltische Musik immer schon geliebt, aber sie war mir auch immer vorgekommen wie ein mystisches Rätsel. Sie war unglaublich schwermütig und sehnsüchtig und gleichzeitig so leicht.
Sven gab mir mit den Augen ein Zeichen und reichte mir auffordernd die Hand. John ließ sich überhaupt nicht stören und sang einfach weiter. Zögernd streckte ich Sven die Hand hin. Er nahm sie, legte sie John auf die Brust und flüsterte: »Fühl seine Bruststimme!«
Ich schloss intuitiv die Augen und konzentrierte mich auf das sanfte Vibrieren in meiner Hand. Ich konnte tatsächlich fühlen, wie die Töne durch Johns Körper schwangen. Wurde der Ton höher, ließ das Vibrieren nach, dann tanzte Johns Stimme wieder lebendig und schwingend durch seinen warmen Körper. Ich sah Sven völlig fasziniert an, während John einfach so da stand und dieses unglaublich traurige Lied sang. Aber plötzlich stoppte er und sah uns misstrauisch an. »Ihr klebt mir jetzt aber keine Elektroden an die Rübe, um meine Hirnströme zu messen, oder?«
Sven und ich brauchen in Lachen aus. Anna umarmte John von hinten und flüsterte: »Niemand interessiert sich für deine Gehirnströme, wenn du singst!«
John lachte empört auf, drehte sich aber um, um Anna zu umarmen und irgendwas mit ihr zu flüstern. Sven und ich ließen uns wieder auf die Stühle sinken. Ich murrte: »Mah, wieso könnt ihr alle so toll singen? Ich will das auch können!«
Anna löste sich aus Johns Umarmung und stellte den frischen Tee auf den Tisch. Ich registrierte, mit was für sehnsüchtigen Blicken John ihr folgte, aber es tat kein bisschen weh. Es fühlte sich warm und schön an. Das Gefühl, dass John mir mit seiner Liebe für Anna etwas wegnahm, hatte sich irgendwann in den letzten Tagen einfach so in Luft aufgelöst. Anna sah mich offen an und setzte sich wieder. »Sven und ich haben es einfach gelernt. Gesangsstunde bei Papa Magnus, das war das Größte für uns. John ist Ire, der hat es im Blut.«
Der ironische Unterton in Annas Stimme blieb mir nicht verborgen. Prompt ziepte John ihr blitzschnell an einer Haarsträhne. Anna rief empört »Aua!«, dann beugte sie sich über den Tisch und flüsterte mir zu: »Er hasst benevolenten Rassismus!«
Ich prustete los und griff mir das nächste Stück Kuchen. »Ich liebe es, wenn ihr mit solchen Wörtern jongliert!«
Sven lehnte sich zurück und stellte zufrieden fest: »Das ist Annikas Lieblingswort der Woche! Benevolent! Hat sie gerade erst gelernt!«
Anna nickte heftig und erklärte stolz: »Das ist, wenn du dich wohlwollend darüber äußerst, dass jemand dem Klischee entspricht, das du von ihm erwartest!«
Ich musste schon wieder lachen, verlangte aber: »Beispiel!«
Anna ließ kurz die Augen über die Decke wandern. »Wenn ein Kerl dir sagt, dass du fantastisch kochen kannst, weil du eine Frau bist, dann ist das benevolenter Sexismus. Er schreibt dir zwar eine positive Eigenschaft zu, aber er führt das auf dein Geschlecht zurück, nicht darauf, dass du es kannst, weil du als Person es eben kannst.«
Sven betrachtete mich aus dem Augenwinkel und vertraute mir an: »Wenn sie das nächste Mal sagt, dass ich die Regale zusammenschrauben soll, weil ich der Schwede bin, dann bin ich mit dem passenden Fremdwort bewaffnet!«
John streifte Sven mit einem umwerfend schüchternen Blick und murmelte: »Du bist doch der, der jedes neue Fremdwort kennt und immer das ganze Internet gelesen hat!«
Anna nickte. »Außer den Sportteil, den lässt er immer aus.«
Für einen Moment tauschten Anna und ich einen wissenden Blick. Wir spürten wohl beide, dass Johns scheuer Blick sich nicht auf das bezog, was er gerade zu Sven gesagt hatte, sondern auf das, was er gerade für Sven fühlte. Auch Sven hatte Johns Stimmung aufgefangen. Für einen magischen Augenblick sahen die Männer sich intensiv in die Augen, dann wurde John rot und senkte den Blick. Sven lächelte hingerissen und wandte den Kopf ab, um John Raum zu lassen. Die Luft schien zu knistern.
Langsam verstand ich, wie die Männer flirteten. John wurde immer so schüchtern wie eine unsterblich verliebte Jungfer in Nöten und der so sonst so selbstbewusst in sich ruhende Sven wurde zu einem tapsigen Teenager, der gern cool gewesen wäre, aber es einfach nicht hinbekam.
Mir flitzte der Gedanke durch den Kopf, wie die beiden es wohl schafften, im Bett zu landen. Ich sah an Annas wissendem Lächeln, dass sie meine Gedanken gelesen hatte. Sie stand auf und gab mir einen Wink. »Komm, Lilly, wir Frauen können doch super kochen, lass uns mal in der Speisekammer stöbern, was wir fürs Abendessen finden!«
Viel zu schnell sprang ich auf und hastete hinter Anna her in die Speisekammer. Anna lehnte die Tür an und flüsterte: »Um deine Frage zu beantworten: Sie fallen einfach übereinander her. Sie spielen das Spiel so lange, bis sie es nicht mehr aushalten und dann eskaliert da irgendwas und sie haben verzweifelten Kawämm-Sex! So ähnlich wie bei Katzen, die erst mit der Maus spielen, um die Tötungshemmung abzubauen. Danach grinsen sie sich verschämt an und für eine Sekunde fragst du dich, ob sie jetzt extra männlich anfangen, über Fußball und Autos zu reden. Und dann kannst du dabei zugucken, wie die Testosteron-Spiegel sinken und die Kuschel-Hormone sich in ihnen ausbreiten. Dann werden sie so flauschig und sanft, dass du nur noch schnurrend in der Mitte liegen und in ihrer Liebe baden willst.«
Ich bekam zittrige Knie. Fasziniert wisperte ich: »Wie hältst du das aus, mit den beiden zusammen zu sein, wenn das so knistert? Hast du keine Angst, dass die Luft in Flammen aufgeht?«
Anna strich sich die Haare hinters Ohr und klappte mit einem Schulterzucken die Tiefkühltruhe auf. Sie sah mich nicht mehr an, aber ich hörte das verschämte Grinsen in ihrer Stimme. »Man gewöhnt sich an alles.«
Ich atmete tief durch und bewegte zaghaft die Schultern, als ob ich einen verspannten Nacken hätte. Aber verspannt war wohl eher der Gedanke, der in meinem Kopf festhing. Ich hätte Anna zu gern gefragt, ob es sie genauso erregte wie mich, wenn die Männer in dieser Stimmung waren. Aber ich traute mich einfach nicht, es auszusprechen.
Damit hätte ich ja zugegeben, dass ich heiß war auf Annas Männer und das stand mir gar nicht zu. Unser Deal war, dass John sich in mich verliebt hatte und dass ich hier war, um seine Liebsten besser kennenzulernen. Sven und Anna hatten mich als Johns neue Freundin eingeladen, nicht als gemeinsamen Flirt.
Also beobachtete ich nur stumm, wie Anna in der Truhe kramte und hörte dabei zu, wie Verpackungen gegen das Eis an den Wänden kratzten. Anna richtete sich auf und sah mich an. »Das Biest muss echt mal abgetaut werden.«
Ich zog verwirrt die Augenbrauen hoch, weil ich gar nicht kapierte, wo sie gerade in Gedanken war. Anna blies ratlos die Wangen auf und zerwühlte sich die Haare. »Ja, okay, also, der Grund, wieso ich dich in mein Büro gebeten habe …«
Sie sah sich selbst irritiert in der Speisekammer um. Ich musste lachen. Dieser drollige Moment der Verwirrung war so typisch für Anna! Sie räusperte sich geheimnisvoll, dann kramte sie wieder in der Truhe und hielt mir ein Eis am Stiel hin. »Schoko-Mandel?«
Wir hatten schon beim Tee so viel Eis gelöffelt, dass ich meine Wochenration eigentlich schon verputzt hatte. Ich schnappte mir das Eis und kicherte überdreht. »Ich wollte schon als Kind Eisprinzessin werden!«
Anna zuckte die Schultern und stellte trocken fest: »Wenn du auf polyamore Beziehungen stehst, kannst du das ja machen. Du könntest dir einen dreifachen Axel suchen.«
Ich prustete los und kleckerte mir das Eis aufs Shirt. Während ich mir hektisch über Kinn wischte und an dem Fleck rubbelte, zog Anna nachdenklich die Stirn kraus. »Also, ist das okay für dich, wenn wir einfach Pizza machen? Jede Menge Pizza?«
Ich kannte die drei inzwischen gut genug, um zu wissen, dass »Pizza« nicht einfach Pizza bedeutete. »Pizza ist der Code für was?«
Annas Mundwinkel zuckten auf ihre typische Art, dann wisperte sie: »Die Jungs wollen kuscheln. Und ich ehrlich gesagt auch. Wir sind heute alle irgendwie ein bisschen emotional, manchmal haben wir das einfach. Nein, das ist so nicht ganz richtig. Immer, wenn was Neues passiert. Also, um ganz ehrlich zu sein, du. Du bist neu für uns. Und immer, wenn was Neues passiert, kriegen wir dieses flauschige Bedürfnis …«, Anna starrte nachdenklich ins Leere und verzahnte ihre zierlichen Finger, »Also, wir kriegen dann diesen Drang, näher zusammenzurücken und ganz furchtbar lieb zueinander zu sein. Und dann müssen wir einfach ganz viel kuscheln und«, sie schluckte, dann nickte sie ruckartig. »Das kann auch manchmal ganz schön sinnlich werden. Nicht unbedingt sexy, aber irgendwie erotisch, verstehst du das?«
Ich nickte ganz langsam und fühlte ein heißes und kaltes Rieseln im Nacken. »Du willst mir sagen, dass ich besser in meinem Zimmer im Kluntjehaus schlafen soll, weil ihr allein sein wollt?«
Anna sah mich kurz entsetzt an, dann legte sie mir die Hand auf den Arm. »Was? Nein! Auf gar keinen Fall! Du bist unser Gast und das ist deine Woche bei uns! Ich will nur nicht, dass du dich fühlst, als wärst du in einen Swingerclub geschubst worden und müsstest jetzt bei irgendwas mitmachen, wovor du dich gruselst!«
Ich atmete erleichtert aus und wurde gleichzeitig ein bisschen misstrauisch. »Und wovor genau sollte ich mich gruseln?«
Anna wiegte den Kopf. »Weiß nicht. Pizza heißt eben, dass wir uns für einen Serienmarathon in die Knuddelmuddel-Höhle kuscheln, futtern, Apfelschorle schlürfen, uns gegenseitig den Nacken kraulen, tiefschürfende Gespräche führen, na ja, wir sind dann einfach entspannt und vertraut und so, wie wir eben sind. Ich mache mir nur Sorgen, dass dir das zu viel sein könnte.« Anna neigte den Kopf und lächelte mitfühlend. »Vor ein paar Tagen bist du noch vor Eifersucht gestorben, weil du John nicht für dich haben kannst. Und das verstehen wir alle. Wir wollen dich nur nicht überfordern. Es ist so schon total mutig von dir, dass du dich einfach mal auf unseren Alltag einlässt. Uns besser kennenlernst und so.«
Ich blinzelte Anna verwirrt an. Dass ich vor Eifersucht durchgedreht war, hatte ich selbst schon vollkommen vergessen. Ich genoss jede Sekunde mit dieser liebenswerten Bande. So sehr, dass ich jedes Gefühl dafür verloren hatte, dass »man« eigentlich nicht zu dritt zusammenlebte. Ich zuckte zusammen, als mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass ich eine Frau wie Anna vor ein paar Wochen selbst noch für eine Schlampe gehalten hätte. Und Männer wie Sven und John für egoistische Arschlöcher, die Frauen nur ausnutzten, anstatt sich »anständig« zu verhalten.
Anna sah mich besorgt an. »Hab ich was Falsches gesagt?«
Ich schüttelte mich kurz, dann fragte ich: »Die Alternative zu Pizza wäre?«
Anna zuckte unbekümmert die Schultern. »Weiß nicht. Sven und ich könnten oben in unseren Zimmern pennen, dann hättest du die Höhle mit John für dich. So, wie wir es besprochen hatten.«
Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und nickte ganz langsam. »Hmhm. Und was ist, wenn ich die Stimmung zwischen euch allen wundervoll finde und keine Sekunde davon verpassen will?«
Anna zuckte wieder die Schultern und grinste. »Dann gibt es eben Pizza.«
Die Tür schwang ganz langsam auf und Sven lehnte sich in den Türrahmen. »Ich finde, ihr seht in der Speisekammer absolut bezaubernd aus. Wahrscheinlich, weil ihr Frauen seid!«
Anna blinzelte ihn treuherzig an. »Ich finde, du siehst in der Tür aus wie ein bezaubernder Buckliger. Wahrscheinlich, weil du ein riesiger Wikinger bist, der im Türrahmen immer den Kopf einziehen muss!«
Sven lachte satt und kam zu uns. Zu dritt knubbelten wir uns auf dem freien Quadratmeter zwischen den Regalen. Sven verschränkte zufrieden die Armen. »Und? Bei was genau störe ich euch?«
Anna stellte sich auf die Zehenspitzen und wisperte ihm ins Ohr: »Pizza!«
Sven lauschte mit geneigtem Kopf, dann leuchtete sein Gesicht auf. »Pizza! Gute Idee!«
Anna ließ sich wieder auf die Hacken fallen und verschränkte die Arme auf dem Rücken wie ein verlegenes Schulkind. Wahrscheinlich hatte sie schon vor zwanzig Jahren diese Haltung eingenommen, wenn sie zu Sven aufgeblickt hatte. Naseweis stellte sie fest: »Ich finde aber, Lilly braucht ein Safeword.«
Sven sah sie skeptisch an. »Kleene, ich glaub nicht, dass John in Stimmung ist, um irgendjemand den Arsch zu versohlen.«
Anna lachte unbeschwert auf. »Du Blödmann, das mein ich doch gar nicht!«
Mir wurde ganz kribbelig. »Und was meinst du dann?«
Anna sah mich offen an. »Ich finde, du solltest Bescheid sagen können, wenn sich für dich irgendwas unbehaglich anfühlt. Wenn dir etwas zu nah geht oder so.«
Sven ließ sich das durch den Kopf gehen. »Okay, find ich sinnvoll.«
Anna grinste stolz. »Nicht wahr?«
John tauchte hinter Sven auf. »Wenn ihr hier noch lange tuschelt, fang ich an, mich zu fühlen wie früher auf dem Schulhof.«
Sven ergänzte: »Wenn die großen Jungs über Sex geredet haben.«
Anna mopperte: »John hatte schon Sex mit der halben Mittelstufe, als die großen Jungs noch Sammelkarten getauscht haben!«
Sven runzelte verwirrt die Stirn. »Was für Sammelkarten?«
Anna sah ihn an, als wäre er so doof wie ein Meter Feldweg. »Ist doch egal, was für Sammelkarten! Irgendwelche Sammelkarten halt!«
John versuchte zu vermitteln. »Äh, ich glaube, das war eine Metapher.«
Ich prustete los. »Dafür, dass du total frühreif warst?«
John rieb sich nachdenklich den Nacken, aber Anna ging in die Knie und sah ihm so lange starr in die Augen, bis er ihren Blick erwiderte. Sie strahlte auf. »Pizza?«
John sah unsicher von einem zum anderen. »Ernsthaft?«
Wir nickten alle drei so synchron, als hätten wir das die ganze Zeit geprobt. Plötzlich kam Bewegung in unser kleines Meeting. Anna befahl: »Digger, Pilze!«
Sven griff über mich hinweg eine Dose aus dem Regal und verschwand aus der Speisekammer. Anna klappte die Truhe wieder auf, raffte einen Stapel Pizzakartons auf ihren Arm und sprang mit einem entsetzen Quieken hinter Sven her. »Kalt, kalt, kalt!«
John sah den beiden kurz nach, dann schob er mit gespreizten Fingern langsam wieder die Tür zu, bis sie nur noch einen Spalt breit offen stand. Wir hörten Sven und Anna schwer beschäftigt in der Küche rumkramen und grinsten verlegen. John neigte den Kopf und fing meinen Blick ein. »Also Pizza?«
Ich lachte verschämt. »Anna hat mir erklärt, was Pizza bedeutet.«
John nickte ganz langsam. Seine Augen leuchteten. Er flüsterte wieder: »Also Pizza.«
Ich zog grinsend die Schulter hoch. »Bisschen kuscheln und so.«
Ganz sanft flüsterte John: »Bist du sicher, dass du das willst?«
Ich nickte sofort heftig. John forschte noch immer in meinem Blick. »Lilly, ich kann dir nicht versprechen, dass ich …«
Er zog die Stirn kraus und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Ich hauchte: »Dass du deine Zuneigung nicht gerecht verteilen wirst?«
John sah mich nachdenklich an, dann nickte er ganz langsam. Ich wippte aufgeregt auf den Hacken. »John, das ist okay, wirklich! Ich mag Svanna unheimlich gern und kann verstehen, dass du in die beiden verliebt bist! Du musst dich meinetwegen nicht mit Zärtlichkeiten zurückhalten!«
»Ganz ehrlich?«
Ich nickte wieder heftig. »Ehrlich, ich will einfach nur bei euch sein! Ich fühl mich wahnsinnig wohl mit euch!«
John sah mich aus dem Augenwinkel an und rieb sich nervös über die Brust. »Muss ich etwa eifersüchtig sein?«
Ich lachte auf, aber dann verstummte ich. Meinte er das etwa ernst? Ich sah ihn verwundert an, dann flüsterte ich zerknirscht: »Ich glaube, ich hab mich ein wenig in das Gesamtpaket verliebt. Ist das schlimm?«
John blinzelte und rieb sich fahrig über die weichen Bartstoppeln. »Na ja, schlimm nicht. Nur anders.«
»Anders, als du es erwartet hattest?«
John nickte langsam. »Ja, wahrscheinlich.«
Ich grinste schief und sah zu ihm auf. »Willst du mir jetzt erzählen, dass du der Letzte bist, der sich das vorstellen kann?«
John lachte ertappt und erwiderte zärtlich meinen Blick. Er strich mir sanft eine Haarsträhne hinters Ohr. »Möchtest du, dass wir irgendwelche Grenzen besprechen, bevor wir zu viert die Nacht verbringen?«
Ich sah fasziniert zu ihm auf und hauchte: »Grenzen? Was denn für Grenzen?«
John trat in der winzigen Speisekammer ein kleines Stück zurück und rieb sich wieder auf seine typische Art mit gesenktem Kopf den Nacken. »Na ja, wenn wir die Nacht mit Nicki verbringen, haben wir zum Beispiel die Grenze, dass Anna und ich nicht mit ihr schlafen.« Er sah erschrocken auf. »Entschuldige, ich wollte dich nicht mit Nicki vergleichen! Das war jetzt irgendwie nur ein globales Beispiel! Nein, Quatsch, nicht global, was rede ich denn hier? Das klingt ja, als würden wir ständig mit anderen Leuten das Bett teilen!«
Ich legte John die Arme um den Hals und flüsterte: »Ich versteh schon, was du meinst, mach dir keine Sorgen!«
»Wirklich?«
»Hmhm.«
Langsam tastend schlang John die Arme um mich. Mit geschlossenen Lippen ließ er den Mund über meine Schläfe und meine Wange streifen. Ich liebte diese Nicht-Küsse, mit denen er sich so langsam und gefühlvoll an mich heranpirschte.
Die Tür schwang wieder auf. Sven platzte herein und rief: »Okay, ich komm noch mal rein! Klopf, klopf!«
Während Sven sich auf der Stelle drehte, um mit einem Schritt die Speisekammer wieder zu verlassen und Anna in der Küche leise mit ihm schimpfte, sah John mir tief in die Augen. Wir fingen an zu lachen.
Sven kam wieder rein. »Äh, also, ja. Keine Penetration, kein Oralverkehr, generell kein Sex, oder? Wenn heute Abend was knistert, dann ist das die Chipstüte! Es passiert nichts, was Lilly verschrecken könnte! Wir sind nur flauschige Kameraden, die zufällig ein riesiges Bett vor dem Fernseher haben!«
Aus der Küche schimpfte Anna: »Kameraden und Kameradieschen! Digger, du musst korrekt gendern, wie oft muss ich das noch sagen?«
Sven grinste sein sattes Grinsen. »Wer will vegetarisch und wer nimmt doppelt Käse und Käsinnen?«
John legte mir zart die Hände ums Gesicht und flüsterte: »Ich nehm die 17 und einen gemischten Salat.«
Ich lachte leise und konnte ihn einfach nicht aus den Augen lassen. »Und was ist die 17?«
»Kuscheln und Küssen!« John hauchte mir einen zarten Kuss auf die Lippen. Als ich John kennengelernt hatte, hatte ich mir sagenhaft wilde Gedanken um diese »Knuddelmuddel-Höhle« gemacht, um dieses kuschelige Fernsehzimmer mit dem riesigen, selbst gebauten Bett.
Ich hatte mich sogar eigenartig verklemmt kichernd gefragt, ob es nicht auch grotesk wäre, mit mehreren in einem Bett zu liegen, wenn gewisse Schranken außer Kraft gesetzt waren wie die Schwerkraft.
Um ganz ehrlich zu sein, ein Teil von mir hatte den Gedanken sogar versaut und irgendwie pervers gefunden. Prickelnd, aber pervers. Und jetzt sah ich das warme, liebevolle Gefühl in Johns Augen. Das hier hatte wirklich nichts mit einer grotesken Sexparty zu tun. Nur mit Liebe.
Ich lehnte die Stirn an Johns Schulter und hauchte: »Und doppelt Käse.«
Während die vier sich ins Bett kuscheln, könnt ihr ja ein bisschen Musik hören ...