Eigentlich hatte die Dienerin gedacht, sie hätte bereits alle Merkwürdigkeiten des Hauses gesehen. Okay, sie musste zugeben, dass sie in der "Mietwohnung" des Untermieters nicht war und das lag nicht daran, dass der sie nicht eingeladen hätte. Aber er war nun mal ein Ghul und Einladungen eines Ghuls trotz der Beteuerung, dass er sich an die Hausregel hielt und sie wirklich echt und nur platonisch mochte, trotzdem ein Gewisser unangenehmer Beigeschmack beiwohnte, immer so eine Sache. Vor allem das Wort Geschmack war hier doppeldeutig zu sehen. Zum anderen war der Ghul nicht für Sauberkeit bekannt und wie alle Igor war auch Igorine, die von ihrer Mutter tatsächlich mit genau diesem Vornamen betitelt worden war, zum Glück nicht als Erstname, sondern erst an vierter oder fünfter Stelle, eine geborene Ordnungsfanatikerin und schon deshalb hatte sie sich den Besuch verboten. Sie hätte seine Wohnung auf Hochglanz poliert. Und sie hätte damit ein halbes Jahr ihres Lebens verschwenden müssen, den der Ghul bewohnte dem gesamten untersten Keller.
Und obwohl sie das wusste und obwohl sie eigentlich auch diesem speziellen Ghul, trotz dass die beiden eigentlich den ganzen Tag in der Burg zusammen hockten und der in ihrer Gegenwart deutlich an Sauberkeit zugenommen hatte, nicht ganz traute, aber vielleicht auch gerade deshalb, ließ sie sich die Augen verbinden, damit sie den Rest seiner Wohnung nicht sah und von ihm blind in die Mitte seines Reiches führen zu lassen. Während des ganzen Weges hörte sie ihre Gummistiefel unter jedem ihrer unsicheren Schritte schmatzen und fragte sich, in was sie da trat. War es nur Schlamm? War hier unten auch noch was anderes? Wann würde sie auf die ersten Leichenteile treten? Bestand die Gefahr, dass sie ein Teil davon würde? Konnte sie diesem - Mann - wirklich vertrauen?
Als sie gute zwanzig Minuten in den Untiefen der Wohnstätte dieses für andere Menschen nur als Unhold verschrienen Guhls unterwegs waren, änderte sich der Boden. Aus Matsch und Schlamm wurde fast so etwas wie Teppich. Verwundert wollte die Dienerin die Maske lupfen, aber die Hand des Ghuls, die nicht mehr ganz so schleimig wirkte, stoppte sie.
"Lass das, wir sind noch nicht ganz da."
Wo war seine Mundart geblieben, fragte sich die Dienerin. Sie hatte Tage gebraucht, seinem ungepflegten Mischmasch folgen zu können. Seine Sprache war genauso unsauber wie sein ganzes Wesen. Er hatte sich zwar bemüht, so wie er auch seine Stiefel seit neustem vor dem Betreten immer geputzt und auch einen Overall über sein schleimiges Äußeres gezogen hatte, während er im Oberen Teil der Burg in ihrer Nähe herumlief, aber es war quasi in ihn eingebaut. Keiner kann aus seiner Haut. Sie wurde ihren Putzfimmel nicht los. Der Meister konnte es nicht lassen, in Adern zu beißen und der Ghul konnte nicht sauber sein. Das dachte jetzt die Dienerin und trotzdem lag hier ein Teppich? Ob der Sauber war?
Sie schollt sich sofort wegen dieser Annahme, aber eigentlich war diese berechtigt.
"Wann darf ich gucken?"
"Wenn ich mich umgezogen habe", beschied ihr Führer und schon wieder war seine Aussprache super sauber und angenehm noch dazu. Wenn diese Stimme sie gefragt hätte, Mädchen, willst du mit mir einen Kaffee trinken, sie wäre sofort mit dieser Stimme mitgegangen. Magie, hier unten musste es etwas magisches geben.
Das war auch sowas, was die junge neue Dienerin des tags schlafenden Meisters lernen musste: Magie war nichts, was es nur in den Seiten von Büchern und somit aus den Köpfen von Leuten mit zu viel Fantasie kam. Magie war real. Damit musste eine auf Realismus getrimmter Verstand wie der der Igorine auch klar kommen. Ein Herr, der sich vor ihren Augen nicht etwa in Luft auflöste, wie sie das bei ihrer ersten Begegnung noch geglaubt hatte, sondern in eine Handteller große schwarze Fledermaus und das samt seines Mantels und der aufs peinlichste von ihm selbst geputzten Stiefel, ein Typ, der nicht etwa ungepflegt war, sondern dem die Unordnung aus jeder Körperzelle tropfte. Sie hatte beim Anwalt neben echten lebenden Gartenzwergen gesessen, hatte den dreiköpfigen Wachhund am Bauch gekrault und dem Basilisken mit Sonnenbrille vor den Augen sein wöchentliches Schwein gebracht. Sie war bei den Wölfen gewesen, die sie hatte bitten müssen, doch bitte als Menschen bei der Geburtstagsparty ihres Herren aufzutauchen, was die nur wegen ihr auch versprachen, zu tun. Das war wegen der Kratzer im Parkett, die die junge Frau im Nachgang hätte aus dem selbigen polieren müssen. Das alles war nun Teil ihrer Realität und all das war natürlich auch magisch. Also irgendwie.
Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater zuhause Jahre darauf verwendete, für die einzelnen Aspekte wissenschaftliche Erklärungen suchte. Das begann schon mit unsterblichen Existenz seines Meisters und seiner Diät, mit der er eigentlich nicht überleben sollte. Ein Glas Blut für einen Menschen von einem Meter neunzig, wenn er sich mal voll aufrichtete, waren viel zu wenig. Und damit kam der dann auch noch eine Woche aus. Und die Sache mit dem zum Staub zerfallen und mit einem Blutbad wieder erstehen war dann auch noch sowas. Heute fragte sie sich, was wohl ihr Boss dazu gesagt hätte, wenn der gewusst hätte, dass nicht alles seiner Zellen nach einem solchen Vorfall den Weg zurück in seinen Körper gefunden hatten, sondern im Arbeitszimmer ihres Vaters in einem Reagenzglas schlummerten. Damit der an diesen Experimente und Forschungen durchführte. Ob das auch noch mit dem universalen Schutz des Igors und seinen Freiheiten bei der Arbeit gedeckelt war?
Endlich schienen sie dort angekommen zu sein, wo der Ghul sie hinhaben wollte. Und an diesem Ort war es, anders als sie erwartet hatte, warm. Sie fühlte sich sogar regelrecht beschienen.
"Du kannst die Maske nun abnehmen, edle Maid."
Gott wie förmlich, dachte die Igorine und griff zu dem Tuch vor ihren Augen.
"Wow!"
Das war das einzige, was sie nach guten zehn Minuten des Staunens herausbrachte. Sie stand vor dem prächtigsten Busch mit schwarzen Rosen, den sie je gesehen hatte. Und dieser befand sich in einem Lichtzylinder, der senkrecht von oben genau auf diesen herabstach.
"Ich habe mir gedacht, dass dir das gefällt", sagte die warme Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und konnte ein weiteres Mal nur: "Wow!" sagen.
Der Ghul, und nur an seinen Augen konnte sie erkennen, das er es war, stand mit Stolz gefüllter glatten, sauberen Brust in einem weißen Hemd vor ihr. Der Pelz an seinen Beinen, der eigentlich auch eine Hose sein konnte, endeten unten in Akkurat gepflegten Eselshufen, die hier auf dem grünen Teppich üppigen Grases stand. Aber nirgends sah sie Schmutz, Schleim oder Dreck.
"Das ist der Einfluss der Rose, stimmts?", fragte nur Sekunden später ihr analytisches Gehirn und der Ghul, dessen Gestalt hier unten der eines Satyr oder Pans war, nickte beindruckt und umarmte die junge Frau.
"Könnest du die Rose nicht einfach mitnehmen? Vielleicht reicht es dann für einen Kaffee in der Stadt", war die nächste Idee der schnell denkenden Igorine und wieder war der Untermieter beeindruckt und einmal mehr mochte er die junge Frau und wünschte sich einmal mehr, ihr nie durch seine Natur schaden zuzufügen.