Es überraschte Alexandra, dass Stefan tatsächlich ohne Problem wieder zu seinem normalen Verhalten übergegangen war. Sie war am Dienstagmorgen mit einem unguten Gefühl im Magen in die Redaktion gekommen, doch er hatte sie auf dem Flur freundlich gegrüßt und während des Mittagsessens wie immer höflich mit ihr geredet. Als wäre nie etwas gewesen.
Ein Teil von ihr war fast ein wenig beleidigt, wie leicht er den Korb, den sie ihm gegeben hatte, verarbeiten konnte. Aber der Teil war nur sehr klein, so dass sie ihn leicht ignorieren konnte. Der viel größere Teil war erleichtert und froh, dass offensichtlich nur noch der fröhlich scherzende, lockere Stefan übrig geblieben war, der ihr am Arbeitsplatz mit Respekt begegnete.
Offenbar hatte er jedoch nicht vor, sein Flirten generell einzustellen. Eigentlich hatte sich Alexandra auf ihren Artikel konzentrieren wollen, doch sie sah aus den Augenwinkeln, wie Stefan aus seinem Büro auf ihren Schreibtisch zusteuerte – genauer gesagt auf den Nachbartisch, wo Katharina gerade eifrig auf den Tasten tippte.
„Hey, meine Schöne", begrüßte er sie: „Fleißig wie immer? Was gibt's Neues in der Lokalredaktion?"
Natürlich hatte Katharina ihn ebenfalls kommen sehen, doch sie hatte sich extra Mühe gegeben, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Mit einem Augenrollen registrierte Alex, wie ihre Kollegin so tat, als wäre sie über die plötzliche Anrede erschrocken: „Stefan! Du kannst dich doch nicht einfach so anschleichen!"
Grinsend setzte er sich auf den Tisch: „Siehst du doch, dass ich das kann."
„Du Schuft!", kam es anklagend von Kathi, die ihm zusätzlich spielerisch auf den Oberschenkel schlug: „Eines Tages sterbe ich noch an einem Herzinfarkt wegen dir!"
„Solltest du tatsächlich einmal in Ohnmacht fallen", erwiderte Stefan mit einem Tonfall, den Alexandra inzwischen nur zu gut kannte, „bin ich sofort zur Stelle, um Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen."
Kopfschüttelnd widmete Alex ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Bildschirm. Es war unfassbar, was für ein Gesülze er von sich geben konnte, wenn er wollte. Aus einer Laune heraus öffnete sie den redaktionsinternen Messenger und suchte Matthias aus ihrer Kontaktliste raus.
„Hilfe. Jungfrau in Nöten. Erbitte Rettung."
Es dauerte nur einen Moment, dann kam schon die prompte Antwort ihres Kollegen: „Ritter in strahlender Rüstung steht in den Startlöchern. Was ist zu tun?"
Mit einem hinterlistigen Grinsen tippte Alex: „Widerliche Schleimspuren durch unangebrachtes Verhalten von Vorgesetzten sind zu entfernen. Jungfrau in Nöten verspürt Brechreiz, ein Eimer wäre mitzubringen."
Kurz tat sich nichts im Messenger, dann erschien die nächste Nachricht: „Ritter ist bereit, voll ausgerüstet und zu allem entschlossen. Erwarte meine glorreiche Ankunft in fünf Minuten!"
Mühsam unterdrückte Alexandra ein Kichern. Sie hatte keine Vorstellung, was Matthias tun würde, doch sie hoffte, dass es Eindruck hinterlassen würde. Es war schon genug, dass sie sich von Kathi ständig direkt oder indirekt vorhalten lassen musste, wie gut sie sich doch mit Stefan verstand. Dass er jetzt herkam, nur um mit Katharina zu flirten, setzte dem Ganzen eine Krone auf. Wenn sie eine geheime Affäre führen wollten, sollten sie ihre Beziehung nicht ganz so stark in die Öffentlichkeit tragen.
Wieder schaute sie zum Nachbartisch hinüber. Während Katharina am Anfang noch zumindest versucht hatte, den Eindruck zu erwecken, mit ihrer Arbeit beschäftigt zu sein, hatte sie sich inzwischen vollständig zu Stefan gewandt, der noch immer auf ihrem Schreibtisch saß und kaum die Augen von ihr nehmen konnte. Entschlossen, sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, arbeitete Alexandra an ihrem Artikel weiter, während sie auf die Ankunft ihres Ritters wartete.
Exakt fünf Minuten später war aus dem Gang vor dem Großraumbüro ein blechernes Klappern und Poltern zu hören, gefolgt von Matthias, der einen Mopp in der rechten, einen großen Eimer in der linken Hand und noch einen zweiten Eimer auf dem Kopf trug, zwei Flaschen mit Reinigungsmittel irgendwie in seinen Gürtel geklemmt und ein billiger Mundschutz im Gesicht. Alle Redakteure, die so kurz vor Feierabend noch da waren, blickten auf.
Auch Katharina und Stefan kamen nicht umhin, den Ritter in Putzuniform wahrzunehmen, der mit großen Schritten auf sie zugestampft kam. Mit angestrengt neutraler Miene wartete Alexandra auf das Schauspiel, das sich gleich entfalten würde.
„Ich hörte, hier sind Schleimmonster dabei, ihre Ergüsse in die Welt zu tragen!", verkündete Matthias, nachdem er sich breitbeinig vor Stefan und Katharina positioniert hatte: „Ich, der Ritter in strahlender Rüstung, bin hier, um die Redaktion vor weiterem Unheil zu bewahren und jeglichen Schleim zu beseitigen. Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch gleich mit wegputze, dann gelobet, auf der Stelle mit der Schleimproduktion aufzuhören!"
Alexandra musste sich mit beiden Händen ihren Mund zu halten, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Sie hatte schon länger vermutet, dass man mit Matthias Pferde stehlen konnte, doch dass er tatsächlich so wenig scheu hatte, seine Kollegen zu unterhalten, war fantastisch.
Nicht jeder schien jedoch den Spaß in der Situation zu sehen. Katharina stöhnte deutlich hörbar auf: „Oh, bitte, was soll denn das jetzt werden?"
Matthias jedoch, der ihre Gehässigkeit gewohnt war, ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er stellte den großen Eimer, der, wie Alex jetzt sah, voll mit Wasser war, vor sich ab und packte den Mopp, als wäre es ein Speer: „Sprich, Stefan: Gelobst du, künftig keine Schleimschlachten mehr hier zu führen?"
Statt Stefan antwortete jedoch Kathi, die aufgesprungen und sich mit beiden Fäusten in die Hüften gestemmt vor Matthias aufgebaut hatte: „Du willst Stefan ernsthaft verbieten, ein ganz normales Gespräch zu führen? Ernsthaft? Hast du vorher an dem Spüli geleckt oder was ist dir plötzlich so zu Kopfe gestiegen?"
Genervt erhob Alexandra sich aus ihrem Stuhl. Wenn Katharina meinte, sie müsste den Spaß verderben, konnte sie genauso gut ihre Unterstützung für Matthias zeigen. Immerhin hatte er überhaupt nur durch sie dieses Manöver gestartet.
„Mein Held", rief sie lächelnd aus und warf sich an seine Brust: „Danke, dass du zu meiner Rettung gekommen bist."
„Ach, daher weht der Wind", mischte sich nun endlich auch Stefan in das Gespräch ein: „Die gute Frau Berger hat sich offensichtlich belästigt gefühlt durch meine Anwesenheit."
Mit erhobener Augenbraue schaute er sie an, als wollte er sie herausfordern, seine Aussage zu leugnen. Doch das hatte sie gar nicht vor. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und erklärte: „Ich hatte das Gefühl, in Schleim zu ertrinken bei all eurem Gesülze, da musste ich einfach Verstärkung holen. Die andere Option wäre gewesen, in den nächsten Mülleimer zu kotzen."
„Mir war nicht bewusst, dass Ihre Abneigung gegen das Flirten sich auf alle Mitglieder der Redaktion erstreckt", erwiderte Stefan trocken: „Ich dachte, das hätte nur dem Selbstschutz gedient."
Katharina, der offensichtlich nicht schmeckte, dass sie nicht genau verstand, worum es in diesem Gespräch ging, hakte sich bei Stefan unter: „Komm, lass die beiden Kinder doch in Ruhe. Sollen sie sich ohne uns vor versammelter Mannschaft blamieren."
„Wer sich hier wohl blamiert", murmelte Matthias, doch außer Alexandra hatte das keiner gehört. Die umstehenden Redaktionsmitglieder, die neugierig zu ihnen geschaut hatten, widmeten sich nacheinander wieder ihren Aufgaben, während Matthias den Eimer vom Kopf nahm und ebenfalls abstellte.
„Darf ich dich zum Essen ausführen?", fragte Stefan mit seinem charmantesten Lächeln an Katharina gerichtet.
Die nahm nur zu gerne an. Kichernd packte sie ihre Sachen zusammen und ohne sich von Alexandra oder Matthias zu verabschieden, eilte sie zum Büro der Ressortleiter, wo Stefan gerade seinen Mantel holen gegangen war.
Seufzend fuhr Alex sich durch ihr Haar: „Danke. Das war mehr, als ich erwartet hatte."
Matthias grinste breit und klopfte ihr auf die Schulter: „Ich hab schon geahnt, dass Stefan schon wieder seine Tentakeln Richtung Katharina gestreckt hat. Das ist schon immer ein wenig widerlich anzusehen. Und für einen kleinen Scherz bin ich immer zu haben."
„Im Gegensatz zu anderen", nickte Alex mit Blick auf die davoneilende Katharina: „Ernsthaft, man kann sich auch selbst jeden Spaß aus dem Leben nehmen."
Aufmunternd wuschelte Matthias ihr durch das Haar: „Ach, mach dir nichts draus. Wir wissen doch beide inzwischen gut genug, was von ihr zu halten ist. Ich jedenfalls hatte Spaß!"
Alexandra stimmte ihm zu: „Du hast recht. Was meinst du, darf ich dich zum Dank auf eine Tasse Tee einladen? Das Tee-Café hat mir schon ziemlich gut gefallen."
„Da sag ich nicht nein!"
Schnell half Alex ihm, die Eimer und den Mopp zurück in den kleinen Abstellraum am anderen Ende des Ganges zu bringen. Sie war Matthias wirklich dankbar, dass er so schnell und so kreativ reagiert hatte, aber ein schaler Nachgeschmack blieb. Sie hatte Blut und Wasser geschwitzt, als sie am Morgen in die Redaktion gekommen war, weil sie sich nach dem deutlichen Korb am Vortag schlecht gefühlt hatte. Das hätte sie sich sparen können. Stefan hatte das offensichtlich über Nacht verarbeitet. Oder es war von Anfang an nicht so ernst gemeint, wie er ihr vorgespielt hatte.
Wenn sie genauer darüber nachdachte, war sie eigentlich selbst schuld: Er hatte schon ewig vorher mit Katharina geflirtet, natürlich waren seine Avancen nicht ernst gemeint. Katharina war ja auch einer der Gründe gewesen, warum sie sich nicht auf ihn hatte einlassen wollen. Warum nur hatte sie auch nur eine Sekunde befürchtet, ihn verletzt zu haben mit ihrer Ablehnung? Als Mensch mochte Stefan Winkler in Ordnung sein, aber als Mann war er definitiv unberechenbar und gefährlich für ihr Seelenleben. Sie sollte keine weiteren Gedanken an ihn verschwenden, nicht jedenfalls auf diese Weise.
***
„Jetzt erzähl mir mal, wie es eigentlich mit der Frau von letztens weiterging", forderte Alex ihre Begleitung auf, nachdem beide ihren Tee serviert bekommen hatten: „Ist sie nochmal aufgetaucht?"
„Nein, zum Glück nicht. Scheint, als hätte sie die Botschaft verstanden."
„Mmmh", machte Alexandra nachdenklich. Sie pustete in ihre Teetasse und nahm vorsichtig einen ersten Schluck. Natürlich war der Tee noch viel zu heißt, so dass sie die Tasse fluchend wieder zurückstellte, ehe sie nachhakte: „Ich hatte trotzdem den Eindruck, dass du Frauenprobleme hast. Oder läuft was anderes schief?"
Offensichtlich unbehaglich rollte Matthias seine Schultern: „Das hast du wohl bemerkt? Mh. Tja. Was soll ich sagen. Frauenprobleme trifft es schon."
„Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst."
Er lächelte gequält: „Es gibt ja nicht mal viel zu erzählen. Aber vielleicht hilft es, eine weibliche Sicht der Dinge zu kriegen."
Interessiert beugte sich Alexandra vor. Sie hatte nur einen Schuss ins Blaue gewagt, als sie Frauenprobleme angesprochen hatte. Tatsächlich war ihr aufgefallen, dass Matthias häufiger zu spät kam und oft tiefe Augenringe hatte, doch da er ansonsten munter und fröhlich wie immer wirkte, hatte sie dem keine echte Beachtung geschenkt. Offensichtlich steckte aber doch mehr dahinter.
„Ich gehe in meiner Freizeit häufig bowlen", fing er an: „Wir sind eine Truppe von sechs Leuten, die sich alle paar Wochen mal samstags treffen. Und da ist dieses Mädchen. Sie war von Anfang an mit dabei, ich kenne sie also schon ewig. Und ich fand sie schon immer extrem süß. Sie ist so richtig der niedliche Typ, klein, zierlich, braune Locken, Stupsnase. Und sie ist die beste von uns, sie schiebt eine starke Kugel."
„Heißt es nicht eigentlich, eine ruhige Kugel schieben?", unterbrach Alexandra ihn.
Verwirrt schaute er sie an: „Was?"
„Ach, nichts", wiegelte sie errötend ab. Sie sollte zuhören und nicht besserwisserische Bemerkungen einwerfen.
Achselzuckend fuhr er fort: „Jedenfalls war sie immer vergeben, hatte irgendeinen Typen, den wir aber nie zu Gesicht bekommen haben. Letztens hat sie sich wohl von ihm getrennt, und ... naja. Ich habe respektvoll ein paar Wochen gewartet, bis sie drüber hinweg war, und dann angedeutet, dass ich nicht uninteressiert wäre."
Er hielt inne, um einen tiefen Schluck Tee zu nehmen. Seine Miene verriet Alexandra bereits, dass das nicht gut ausgegangen war, doch sie schwieg und wartete darauf, dass er von sich aus weitersprach.
„Tja, was soll ich sagen?", erklärte er schließlich: „Sie kennt mich natürlich inzwischen ziemlich gut. Und meinen Ruf. Ich habe ja oft genug damit angegeben, dass ich schon wieder eine Frau über Nacht hatte."
„Ugh", meinte Alex und zog ihre Schultern hoch: „Das kam vermutlich nicht so gut an?"
„Sie ist halt so treu", nickte Matthias: „Es ist nicht mal so, dass sie mir unterstellt, dass ich nicht treu wäre. Aber sie tut sich schwer, mir wirklich zu glauben, dass ich ernsthaft Interesse hab. Sie denkt, ich will nur eine kurze Affäre oder so. Sowas ist nichts für sie."
Nachdenklich nippte Alexandra an ihrem Tee. Sie verstand die andere Frau nur zu gut, immerhin ging es ihr mit Stefan ähnlich. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass Stefan ihr nie den Eindruck vermittelt hatte, tatsächlich mehr zu wollen. Vorsichtig fragte sie nach: „Aber du hast ihr schon gesagt, dass sie nicht nur eine schnelle Nummer sein soll?"
Matthias verzog seine Mundwinkel: „Naja, jetzt nicht so direkt."
„Nicht so direkt?"
„Eigentlich gar nicht", gab er schließlich zu: „Ich habe es halt ganz locker gesagt, scherzhaft, um sie nicht in die Ecke zu drängen. Und sie ist direkt ernst geworden und hat mir erklärt, dass sie einfach nicht der Typ für kurze Affären ist, so gern sie mich auch hat. Das war dann damit erledigt."
Ungläubig lehnte Alexandra sich zurück: „Das hast du ihr gesagt? Warum warst du nicht ehrlich?"
Unbehaglich zuckte er mit den Schultern: „Weiß nicht. Spielt doch auch keine Rolle, Korb ist Korb."
„Blödsinn!", fuhr sie ihn entrüstet an: „Mensch, genau das ist das Problem heutzutage! Niemand hat mehr den Mut, offen zu seinen Gefühlen zu stehen, aus Angst, dass man zurückgewiesen wird. Aber wenn alle immer nur mit aufgespanntem Sicherheitsnetz rumlaufen und alles so formulieren, dass sie im Zweifel noch sagen können, es wäre ja eh nicht ernst gemeint gewesen, dann kommt nie irgendjemand mit irgendwem zusammen!"
Schmollend verschränkte Matthias die Arme vor der Brust: „Und was schlägst du vor? Dass ich mit der Tür ins Haus falle und ihr direkt mein Herz hinlege, damit sie es in Ruhe zertrampeln kann?"
Verärgert packte Alexandra eine Strähne ihres offenen Haares und zog daran: „Schwarzmaler! Versetz dich doch mal in ihre Lage! Die kennt dich als Frauenheld, der relativ erfolgreich immer neue Mädels abschleppt. Jetzt kommst du daher und flirtest sie locker von der Seite an. Wenn sie sich jetzt tatsächlich offenbart und eventuell vorhandene Gefühle äußert, läuft sie Gefahr, dass du sagst, dass es doch nur Spaß war. Oder nicht so ernst gemeint. Denkst du, da gibt sie zu, dass sie Interesse an dir hat? Natürlich nicht, weil sie auch ihr Herz beschützen will. Sie hat genauso Angst wie du."
Matthias war offensichtlich noch immer nicht bereit, seinen Fehler einzusehen. Unbeeindruckt entgegnete er: „Und warum darf sie ihr Herz beschützen und ich nicht?"
Frustriert warf Alex die Hände in die Luft: „Darum geht es doch gar nicht! Aber wenn du herausfinden willst, ob sie irgendwelche Gefühle hat, musst du dich öffnen. Du musst etwas riskieren. Eine Frau wie sie, zumindest nach deiner Schilderung, will keine kurze Affäre. Und wenn du ihr nicht sagst, dass das gar nicht deine Intention ist, woher soll sie das dann wissen? Sie wird sich dir nicht öffnen, solange sie denkt, dass du nur Sex willst."
Kurz wirkte es so, als wollte Matthias erneut widersprechen, doch dann ließ er die Arme sinken und blickte zu Boden. Plötzlich wirkte er beinahe so verloren und zerbrechlich, dass Alex ihre harten Worte leid taten: „Hey, sorry. Ich will nur helfen, das war gar nicht böse gemeint."
Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht: „Das weiß ich doch. Es ist nur ... einfach so ungewohnt. Ich habe mich noch nie so gefühlt wie jetzt. Ich bin schon Dreißig, aber ich glaube, ich war noch nie wirklich ernsthaft verliebt. Ich bin einfach nicht der Typ für diesen ganzen ... Gefühlskram."
Darauf musste Alex grinsen. Sie konnte sich tatsächlich nicht vorstellen, dass Matthias über seine Gefühle nachdachte oder gar romantische Dates für seine Geliebte organisierte. Trotzdem beharrte sie auf ihrem Standpunkt: „Niemandem fällt es leicht, mit seinen Gefühlen offen umzugehen. Aber wenn du sie erreichen willst, musst du das tun. Du kannst nicht gewinnen, wenn du nichts riskierst. Und glaub mir, es ist viel leichter, einen Korb zu verarbeiten, als jahrelang in Unwissenheit zu bleiben und zu leiden, weil die Gefühle stetig schwelen."
Langsam wiegte er seinen Kopf hin und her: „Aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich wirklich so richtig in sie verliebt bin."
Skeptisch zog Alex beide Augenbrauen hoch: „Es ist immerhin genug da, dass du mit mir drüber redest. Das würdest du doch sicher nicht tun, wenn es dich nicht wirklich beschäftigen würde, oder?"
„Da hast du auch wieder recht", gab er widerwillig zu: „Verdammt, warum hast du immer recht?"
„Ich hab nicht immer recht."
„Wenn du recht hast, hast du recht."
„Ja, danke für diese erhellende Weisheit", neckte Alex ihn lachend.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Gedankenverloren nippte Alexandra an ihrem Tee. Mal wieder stellte sie fest, dass zwei Ideen, die in ihrem Kopf ohne Verbindung zueinander existiert hatten, in der Realität schwer gleichzeitig zu denken waren. Denn während sie auf der einen Seite der festen Überzeugung war, dass jeder Mensch lieben konnte und sich nach Liebe sehnte, fiel es ihr doch gleichzeitig schwer, sich Matthias verliebt vorzustellen. Aber natürlich hatte sie ihm Unrecht getan, als sie angenommen hatte, dass er für immer der Frauenheld bleiben würde, der er zuvor gewesen war.
Ein anderer Gedanke schlich sich ein und ließ sie plötzlich kichern.
„Was ist denn so lustig?"
„Ach", meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Mir fiel nur gerade auf, wie enthusiastisch ich dafür argumentiert habe, dass du zu deinen Gefühlen stehen solltest. Dass es gut ist, auch mal emotional zu sein."
„Und?", hakte Matthias irritiert nach.
Mit einem schiefen Grinsen erklärte sie: „Unser guter Herr Winkler hat mir schon öfter vorgeworfen, ich würde immer nur rational denken, selbst in Situationen, in denen es angebrachter wäre, emotional zu sein."
Offensichtlich immer noch verwirrt schaute Matthias sie an: „Okay, das ergibt ohne Kontext jetzt nicht so richtig viel Sinn."
Leichte Röte trat in Alexandras Wangen, als sie näher ausführte: „Ach, er flirtet halt gerne. Und ich blocke das immer ab. Er legt das so aus, dass ich unnormal bin, weil ich nicht emotional auf ihn reagiere. Sondern eben rational."
„Oooh!", rief er freudig aus und klatschte in die Hände: „Du hast Stefan also echt so richtig abgewiesen?"
Sie zuckte mit den Schultern: „Naja, du weißt doch, wie er ist. Es ist ja nicht nur einmal passiert, dass er versucht hat, mit mir zu flirten, und ich habe ihm nicht nur einmal einen Korb gegeben. Er scheint sich schwer damit zu tun, das zu akzeptieren."
Matthias nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse, dann sagte er mit offensichtlicher Genugtuung: „Er wird ja auch ständig von Frauen wie Kathi verwöhnt. Das kann einem schon mal zu Kopfe steigen. Gut, dass du ihm klare Grenzen zeigst."
Dazu sagte Alexandra lieber nichts. Sie verstand durchaus, was andere Frauen in ihm sahen, nur dass das für sie einfach nicht in Frage kam. Sie war zu professionell, und vor allem kannte sie sich gut genug, um zu wissen, dass sie bei einem Mann wie Stefan Gefahr lief, sich nach dem ersten Mal Sex doch zu verlieben. Davon hätte keiner was.
„Also, was willst du nun tun?", lenkte sie das Gespräch zurück auf das ursprüngliche Thema.
Unbeholfen kratzte Matthias sich am Hinterkopf: „So richtig weiß ich das auch noch nicht. Aber ich werde auf jeden Fall erstmal nicht mehr von anderen Frauen erzählen."
Lachend unterbrach Alex ihn: „Du könntest auch versuchen, keine anderen Frauen zu haben, was meinst du?"
Finster starrte er sie an: „Haha, danke für den Tipp. Jetzt stellst du mich auch noch so hin, als könnte ich meine Finger nicht vom weiblichen Geschlecht lassen."
„Ach, ich zieh dich doch nur auf", wiegelte sie gutmütig ab.
Murrend nickte er, dann fügte er an: „Vielleicht kann ich sie mal einladen, nur sie?"
Wieder musste Alexandra lachen. So erfahren Matthias offensichtlich darin war, Frauen für eine Nacht aufzugabeln, so unsicher war er doch, wenn es um mehr ging. So, wie er redete, konnte man meinen, er wäre eher fünfzehn und nicht dreißig. Doch sie verkniff sich einen Kommentar dazu und nickte stattdessen bestätigend: „Klar, warum nicht? Das Café hier würde sich doch gut eignen."
„Oh ja", Matthias bekam leuchtende Augen: „Sie liebt Tee! Dass ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin!"
„Na dann, du weißt, was du zu tun hast. Und du darfst mich hier nicht mehr mit hinnehmen, ehe du nicht sie eingeladen hast, klar?"
„Ja, Frau Lehrerin!"