Barfuß rannte Lilianna durch den nächsten Nebelschleier. Ihr Atem ging schnell. Als wolle der sie umgebende Dunst ihn verschlingen mischten sich die stets erneut aufsteigenden Kältewolken in das endlos weiße Meer. Schmerz brannte auf ihrer zerschundenen Haut, als sie durch ein weiteres Dornengestrüpp eilte. Das Licht des vollen Mondes ließ den sie umgebenden Wald frostig aufschimmern. Die kahlen Bäume wirkten hinter dem Vorhang des Nebels wie Sterbende eines Schattentheaters, die knöchernen Hände gleich Verzweifelnder gen eines leeren Himmels gestreckt. Sie hatte die Orientierung verloren. Schwer atmend blieb sie stehen und lauschte in die Leere. Da war es wieder. Erneut stieg Panik in ihr auf. Mit Tränen in den Augen stürzte sie sich durch das nächste Geäst, ignorierend, dass das einstmals weiße Nachtgewand nunmehr von Dreck und Blut beschmutzt nur noch in Fetzen an ihr hing. Dann plötzlich brach das Schwarz des Waldes auf und sie taumelte auf eine weiße Ebene. Erst im Fallen begriff sie, dass es die verschneite Eisdecke eines Weihers sein musste, dann traf sie die Kälte wie ein Schlag, als der Schnee mit einem Krachen aufbarst und das Wasser sie umfing. Ihr Schrei ging in einem Gurgeln unter. Gleich tausend Nadeln drang der Winter in sie. Lilianna wollte wild um sich schlagen, doch es war, als wäre mit der Wärme auch alle Kraft aus ihr gewichen. Ein heftiges Zittern schüttelte sie. Ihr erstickter Schrei hatte sie alle Luft gekostet. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie auf den dumpf durch das Wasser schimmernden Mond. Ein einziger lichter Fleck in der endlosen Schwärze der Schneedecke. Sie wollte nicht in die Dunkelheit eingehen! All ihren Willen zusammennehmend tat sie einen Schwimmzug. Ihre Hand umschloss das dünne Eis der Einbruchstelle. Während die Leere in 4 ihrer Lunge sich gleich einem Feuer in ihr ausbreitete, schien es die Kälte lange genug zu bannen, dass sie sich mit einem weiteren Zug nach oben befördern konnte. Es kam ihr schier endlos vor, bis Lilianna endlich die Wasseroberfläche durchstieß. Hustend nach Luft schnappend versuchte sie, sich aus dem eisigen Griff des Sees zu befreien. Sie rutsche ab. Erneut griffen ihre Hände vergeblich in die Schneefläche, nur um zu spüren, wie die Taubheit tiefer in ihre Beine kroch. Hektisch stießen ihre Arme vor, Lilianna schrie vor Wut und Angst auf. Sie wollte nicht zurück in die Dunkelheit sinken! Dann hatte die Kälte sie gänzlich eingenommen. Bei vollem Bewusstsein nahm sie wahr, wie ihre Beine ihr den Dienst verwehrten. Wie ihre Arme unter dem Frost erschlafften und sie langsam zurück in die Tiefe des Weihers glitt. Kreischend versuchte sie, erneut Leben in ihre Glieder zu bringen. Vergebens. Das Wasser umfing sie, während sie seine Kälte kaum mehr spürte und ihr Blickfeld zusehends verschwamm. Dunkelheit legte sich über das letzte Licht des Mondes. Vielleicht sollte sie sie willkommen heißen. War sie das Leben nicht leid? Die Schwärze legte sich tröstend über eine Welt, deren Anblick nur Grauen bedeutete. Lilianna schloss die Augen. Da drang wie von fern plötzlich eine Berührung durch die Taubheit ihres Körpers. Wasser brach und glitt ihren Leib hinab. Sie lag im Schnee. War das eine Hand an ihrem Kopf? Als ihre Sicht aufklärte, blickte sie auf eine dunkle Gestalt, die sie behutsam aus dem Wasser hob. Wellengleich tanzte ein schwarzer Mantel im Wind, während sich Schneeflocken fast behutsam zur funkelnden Zier niederbettend auf die weiße Spitze eines Hemdes legten. Im Mondlicht wirkte das von sich gleich Wasserfällen hinabstürzendem blonden Haar gerahmte Gesicht bleich wie Marmor. Allein die Lippen des Mannes kündeten in ihrer Farbe von der Wärme des Lebens selbst. Lilianna atmete schwach auf und bereute sogleich, 5 ihren Blick durch den weißen Dunst ihres Odems getrübt zu haben. Vorsichtig hielten die Arme des Unbekannten sie. Er lächelte und spitz glänzten seine Zähne im Schein der Winterlandschaft auf. Von irgendwo stieg eine dumpfe Angst in Lilianna auf. Der Drang, erneut zu fliehen überkam sie. Doch das eisige Blau seiner Augen schien die letzte Wärme aus ihr zu bannen und so sehr sie es auch versuchte, erreichte ihr Wille ihre Glieder nicht mehr. Sie wollte sich an den weichen Brokatstoff seiner Weste schmiegen gehalten wie ein übermüdetes Kind, dass man zu Bette trug, und auf immer dem Kampf des Lebens entschlafen, geborgen in den Armen dieser Person. Stattdessen konnte sie nur weiter auf diese Zähne starren, die sich in einem Lächeln, dass die Wärme von tausend Sonnen trug, immer tiefer zu ihr hinabbeugten. Sie spürte einen sanften Kuss an ihrem Hals, während sich sein Haar schleiergleich um sie legte und liebkosend über ihre Haut floss. Dann waren seine Lippen über den ihren und das Leben schien aus ihnen zu leuchten, während die Welt um sie in seinen Augen verschwand.