Amber sah sich aufmerksam um. Das goldene Königreich - welches sich mitten in den Wolken befand- trug nicht umsonst seinen Namen.
Die Säulen, die Rahmen der Portraits, selbst die Böden waren aus purem Gold gemacht.
Ein seltsames Tröten ertönte.
Es stammte von einem kleinen grünen Wesen mit spitzem Gesicht.
Ein Wichtel!
Die Kreatur lächelte sie freundlich an und klemmte die kleine Trompete unter den Arm: "Willkommen im goldenen Königreich. Wenn Sie mir nun bitte folgen würden..."
Es folgte eine Führung durch eine Art Museum der Magie.
Vitrinen mit den ersten Zaubersprüchen und -Bannen, die je gesprochen wurden, über Portraits der ersten Feen und Hexen, bis hin zum Staub der ersten Sternschnuppe.
Amber erspähte etwas weiter hinten ein Porträt, das halb verdeckt war. Eine blasse Gestalt konnte man nur teilweise erkennen.
Neugierig wollte Amber näher treten, doch ihr kleiner Führer stellte sich ihr in den Weg: "Verzeihung, aber der hohe Rat wartet bereits."
"Entschuldigung..."
Sofort stakste der kleine grüne Mann weiter.
Irgendwann hielten die vor einem Brunnen. Ein goldenes Gebilde ragte daraus hervor und eine Meerjungfrau mit grünen Haaren tauchte auf und musterte die Winx: "Willkommen zurück, Winx."
Plötzlich flog etwas über ihre Köpfe hinweg - etwas, das Amber im ersten Moment für ein altes, zerrissenes Bettlaken hielt. Allerdings hatte das Bettlaken ein Gesicht und schien ebenfalls zum Ältestenrat zu gehören.
Nun erschien noch jemand - eine Fee, deren Körper vollständig aus blau pulsierende, arkaner Energie zu bestehen schien.
Ihre goldenen Augen musterten Bloom und Amber.
"Ich bin Arcadia, die Fee des goldenen Königreichs. Ich bin erfreut euch wieder zu sehen und eure Freunde kennenzulernen, Winx."
Bloom trat vor und verneigte sich respektvoll vor Arcadia.
Dann richtete sie sich auf und sprach: "Euer Majestät... Wir sind hier, weil wir eure Hilfe brauchen. Unsere Freundinnen wurden von einer Kreatur angegriffen, die... versucht hat, ihnen die Seelen zu rauben."
Eine Sorgenfalte erschien im Gesicht der Ältestenfee. "...und ihr glaubt, dass es sich bei eurer Angreiferin um eine Todesfee handeln könnte. Ja, das hat mir eure Direktorin bereits mitgeteilt..."
Es wurde still im Saal.
Arcadia atmete tief durch: "Ich habe die Todesfeen einst von dieser Welt verbannt. Sie sollten keinesfalls in der Lage sein, zurückzukehren... Wenn doch, dann muss in den anderen Universen etwas schwerwiegendes vorgefallen sein."
"Moment... Ich komm da nicht so ganz mit... Was meint ihr mit den anderen Universen?", fragte Tecna.
"Zeitlinien - außerhalb der uns bekannten. Paralleluniversen. Multiversen.", sagte das seltsame fliegende Bettlaken mit der Stimme eines gebrechlichen alten Mannes.
"Ihr müsst wissen, dass die Todesfeen der Urgöttin des Todes dienen.", bemerkte die Meerjungfrauenälteste.
"Der Tod ist allgegenwärtig in jedem Universum. Doch seine Anhänger sind zu mächtig und zu grausam, um hier zu existieren. Sie störten das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod. Darum bat ich einst die Göttin des Lebens, mir zur Seite zu stehen und so konnte ich sie zumindest aus dieser Welt verbannen. Wenn ihr wirklich eine Todesfee gesehen habt, müssen die Todesfeen in einem anderen Universum an Macht gelangt sein. Macht genug, um meine Schutzbarriere zu durchbrechen.", erklärte Arcadia ruhig.
"Und was ist dann mit den anderen Universen? Was wenn sie unter den Todesfeen leiden?", fragte Flora.
Arcadia dachte nach.
"... Ist es euer Wunsch, den Paralleluniversen zu helfen?"
"Nun...", begann Flora.
"Natürlich!", sagte Bloom entschlossen. Ihre Gedanken kreisten um Domino. Ihre einst zerstörte Heimat. Wenn es in diesen Paralleluniversen genauso aussah...!
"Bloom, du weißt nicht wie es in einem Paralleluniversum läuft. Meinen Daten zufolge kann dort so ziemlich alles auf uns lauern. Wir könnten sogar auf Doppelgänger von uns selbst treffen, oder...", begann Tecna.
Arcadia Schritt nun ein: "Wenn das euer Wunsch ist, werde ich die Vorkehrungen dafür treffen. Aber ihr seid auch aus einem anderen Grund hier, nicht wahr, Winx?"
Die Realität holte die Feen wieder ein.
"Euer Majestät... Unsere Freundinnen... sie...", sagte Bloom, doch ihr versagte die Stimme beim Gedanken an Stella, Musa und Layla.
Arcadia legte eine Hand auf Blooms Schulter. Nun konnte sie sehen, was Bloom gesehen hatte.
"Ich verstehe. Keine Angst... Die Seelen eurer Freundinnen sind nicht gestohlen worden. Sie sind lediglich durch den Angriff zersplittert."
"Zersplittert?", fragte Flora entsetzt.
"Keine Sorge. Ihr müsst lediglich ihre Seelenfragmente richtig zusammensetzen, um sie wiederherzustellen."
Arcadia ließ nun tausende Kristalle im Raum erscheinen. Tecna sah sie sich näher an und erkannte in der glitzernden Oberfläche eine Projektion - eine Erinnerung, wie sie sich mit Stella über ihr Outfit am Strand stritt.
"Sind das...?"
"Erinnerungen eurer Freundinnen. Wenn ihr es schafft, sie richtig zuzuordnen, sollten eure Freundinnen aufwachen.", sagte Arcadia.
Es tauchten drei Spiegel auf, jeweils einer mit dem Bildnis von Musa, Layla und Stella.
Die anderen Winx warfen einander einen Blick zu.
"Na dann... An die Arbeit!", sagte Bloom und steuerte auf Stellas Spiegel zu, die Erinnerung von ihrem ersten Treffen in der Hand. Der Kristall fügte sich nahtlos in das Bildnis ein, welches nun umso heller erstrahlte.
Bloom lächelte.
"Amber, ich glaube du kannst...", begann sie, doch die junge Fee war verschwunden, "...Hey, wo ist sie hin?"
Ein wissendes Lächeln kräuselte Arcadias schmale Lippen.
-
Der Raum war gigantisch und Amber könnte nicht einmal die Decke sehen. Es war, als würde die kristallene Halle in den Wolken enden.
Sie wusste weder wie sie in diesen Raum gekommen war, noch wo sich die Winx befanden.
Unbehagen machte sich in ihr breit.
"Du bist die Fee der Wahrheit, stimmt's?", fragte jemand.
Amber drehte sich um und sah eine wunderschöne Frau.
Sie war eine Enchantix-Fee!
Ihr weißgoldenes Haar war zu zwei lockigen Zöpfen gebunden, die bis zum Boden reichten und in einem sanften Blauton endeten. Eine einzelne lockige Haarsträhne fiel über ihr sonnengebräuntes Gesicht.
Ihre großen amethystfarbenen Augen waren von einem hellblauen Lidschatten bedeckt und bedachten sie mit einem strengen Blick. Sie trug ein langes glitzerndes Gewand in Dunkelblau und Hellorange, das Amber ein wenig an den Sonnenuntergang erinnerte und ihre großen Flügel wirkten wie zwei ineinander gefangene Blütenblätter. Sie waren zweifarbig, einer war Dunkelblau, der andere Hellorange.
"Ich... -J-ja!", stammelte Amber. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: "..
Ich heiße Amber.'
Die fremde Fee sah sie abschätzig an: "Ich bin Portia. Die Wächterin der Dimensionsportale."
Portia drehte sich um und schrieb mit ihrem Feenstaub etwas in die Luft.
Vor ihr öffnete sich ein Portal in einen anderen Raum.
"Lady Arcadia hat mich beauftragt, dich zu prüfen. Geh hindurch.", sagte sie kühl.
Amber tat wie geheißen.
Ihr Kopf war noch wie im Nebel.
Erst als sie allein in dem leeren Raum stand, zwang sie sich, die wunderschöne Wächterin wieder aus ihren Gedanken zu vertreiben.
Sie sah sich um. Offenbar war sie in einem Wald gelandet, nur dass dieser Wald vollständig aus Kristallen bestand. Dutzende Juwelen formten Blätter, Blüten und Äste und links davon, über dem Boden, erstreckte sich ein glasklarer See.
Ein Spiegel erschien neben ihr. Sie blickte hinein und sah ihr eigenes, ängstliches Gesicht.
Dann sprach eine Stimme aus dem Spiegel: "Finde die Schattenrose. Nur dann findest du den Ausgang."
"Ehm... Okay...?!", sagte Amber, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass der Spiegel sie nicht hören konnte.
Warum wollte Arcadias sie prüfen? ... Amber seufzte. Wahrscheinlich wollte sie sicher gehen, dass sie den Winx kein Klotz am Bein war.
"...wo fange ich am besten an?...", dachte sie, als der Spiegel sich erneut zu Wort meldete. Er sprach nun mit der herrischen Stimme ihrer Mutter: "Hast du in Kräuterkunde denn nicht aufgepasst?! Aus dir wird nie etwas werden!"
Amber schrak zusammen und Tränen stiegen ihr in die Augen.
Nicht wegen dem Spiegel. Sondern weil sie das, was der Spiegel gesagt hatte, schon so oft gehört hatte.
Amber war ihrer Mutter nie genug gewesen. Egal wie gut sie in etwas war - nie bekam sie Lob oder Anerkennung dafür. Aber wenn sie etwas nicht konnte, wurde sie immer beschimpft.
"Du bist eine Schande für die Familie!", rief der Spiegel weiter, "Eine Enchantix wie sie? Du schaffst nicht einmal dein Charmix! Nutzloses Ding!"
Amber hielt sich nun die Ohren zu. Es tat weh. So unglaublich weh...
"HÄTTE ICH DICH DOCH NIE GEBOREN!", schrie der Spiegel sie an.
"SEI STILL!", schrie Amber zurück.
Der Spiegel blieb schlagartig ruhig.
Doch als sie sich in Bewegung setzen wollte, flüsterte er ihr zu: " Du wirst nie genug sein."
Amber fiel auf die Knie. Ihr ganzes Leben zog vor ihren Augen vorbei. Ihre stolze Mutter, die sich über sie echauffierte, ihre Schwester, die immer alles schaffte, ihr Vater, der sie seit sie fünf war, nicht mehr besucht hat...
"Gib nicht auf."
Amber sah auf. Diese sanfte Stimme schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Doch da war niemand.
Amber zwang sich aufzustehen. Die Stimme hatte Recht. Wenn sie sich weiter fertig machen ließ, kam sie nicht weiter.
"Du wirst es nie zu etwas bringen.", spöttelte der Spiegel neben ihr.
Amber atmete tief durch: "Mag sein, dass ich Fehler gemacht habe. Ich werde wohl immer wieder Fehler machen. Aber ich bin mehr, als meine Fehler."
"Du?", kicherte der Spiegel. Auf seiner Oberfläche sah sie Visionen aus ihrer Schulzeit. Ihre Mitschüler, die die mobbten und sich über sie lustig machten.
"Ich hab wichtigeres zu tun.", sagte Amber und setzte ihre Suche fort.
Der Spiegel schwebte ihr hinterher.
Gerade als sie eine Stelle mit glitzerndem Moos begutachtete, sprach der Spiegel erneut: "Du jämmerlicher Wicht wirst niemals stark genug sein."
Nun stand Amber auf und wandte sich dem Spiegel zu, der immer noch jede Kleinigkeit ihres Lebens abspielte - der Tag, an dem sie elf Jahre alt war und ein Referat vor der ganzen Schule halten musste und sich vor Nervosität eingenässt hatte - der Tag, an dem sie im Sommercamp sich in die Brennesseln gesetzt hatte - Ihre Mutter, die sie immer wieder kritisierte - ihre Schwester mit ihrem perfekten Freund und dem perfekten Leben - jede einzelne Prüfung die sie verpatzt hatte - ihre ungeschickten Versuche, Freunde zu gewinnen - bis hin zu einer Vision von Portia, die über ihren Versuch sich mit ihr anzufreunden die Nase rümpfte -
"ES REICHT!", schrie Amber den Spiegel an, welcher einen Sprung bekam.
"Es mag sein, dass ich nicht perfekt bin! Verdammt, niemand ist perfekt! Nicht einmal meine Schwester! Ja, ich habe Ängste und ich mache verdammt viele Fehler! Aber meine Ängste und Fehler definieren mich nicht! Ich bin wertvoll! Ich bin stärker als du denkst und ich werde verdammt nochmal eine Enchantix-Fee!"
Bei jedem Wort hatte der Spiegel mehr Risse bekommen und nun zersprang er in tausend Teile.
Amber atmete erleichtert aus. Sie hatte es geschafft! Und irgendwie fühlte sie sich nun wahnsinnig erleichtert. Sie hatte sich selbst akzeptiert.
Ein helles, warmes Licht umfing sie plötzlich, ein Licht, das aus ihrem Inneren erschien...
Ihr Charmix hatte die Form einer Waagschale. Gleichgewicht. Ja, das passte zu ihr.
Nun öffnete sich ein erneutes Portal vor ihr und eine lächelnde Portia trat heraus und umarmte sie: "Du hast es tatsächlich geschafft! Gut gemacht."
"Aber - ich hab die Blume doch gar nicht gefunden!", stammelte Amber überrascht.
Portia lächelte und sah dabei in Ambers Augen noch viel schöner aus. Sie deutete auf den Spiegel: "Sieh mal, dort."
Aus den Bruchstücken wand sich eine einzelne dunkle Rose hervor.
Amber sah überrascht aus.
War das Ziel dieser Prüfung ihr Charmix gewesen?
Portia schien ihre Gedanken lesen zu können.
"Wir wollten deinen Charakter und deine Willensstärke prüfen.", erklärte sie, "Die Todesfeen sind mehr als ernst zu nehmende Gegner. Sie sind Meister der Folter und Manipulation. Du hast gerade eine winzige Probe davon abbekommen."
"Das hätte ich nicht geschafft, wenn ich nicht diese Stimme gehört hätte...", gab Amber zu. Dass diese Stimme genau wie die von Portia geklungen hatte, verschwieg sie jedoch lieber.
Portia legte ihr eine Hand auf die Schulter: "Dann erinnere dich bitte immer an das, was meine Stimme dir gesagt hat."
Amber wurde knallrot, doch Portia tat so, als wäre nichts gewesen.
"Jetzt komm. Die anderen warten schon."