Samuel Prescott war ein durchschnittlich attraktiver Mann, der einen Teil seines Lebens als tapferer Soldat verbracht hatte. Den Beruf hing er an den Nagel, als er eines Morgens die lebensentscheidende Nachricht von einem Unbekannten erhielt. Ohne zu zögern, nahm er den nächsten Flug in die USA zurück und stellte sich dem, was ihn schon seine ganzen 26 Jahre im Ungewissen gelassen hatte.
Er wusste, dass es eine lange Reise werden würde und, dass es keine Garantie gab die ihm versprach, dass er sie finden würde. Seinen ersten Hinweis hatte er aus New York erhalten. Noch wusste er nicht wer ihn geschrieben hatte und wie er überhaupt auf ihn gekommen war, doch die Aussage, dass sie wüsste wo sich die Gesuchten aufhielten, war Grund genug, um gleich am nächsten Tag nach New York zu fahren. Genau um 10 Uhr kam er in den engen Straßen an und machte sich auf die Suche. Je näher er der Adresse des Absenders kam, desto ärmer und verfallener wurde die Gegend. Seine Hoffnung, sie heute noch finden zu können, sank mit jedem Schritt, trotzdem drehte er nicht um. Schließlich kam er in eine Seitengasse und stand vor der 17. Hausnummer.
Seufzend trat er vor die schäbige Tür des eingefallenen Hauses und betrachtete es mutlos. Hier schien niemand mehr wohnen zu können. Wahrscheinlich war dieser Brief nur ein Streich von Freunden gewesen, die wussten wie sehr er sie finden wollte. Vielleicht war seine Adresse auch nur ein Fehler gewesen. All seine Hoffnungen waren umsonst gewesen, seine Bemühungen nach New York zu kommen, den Beruf an den Nagel gehangen zu haben und das Mädchen, das ihn hätte glücklich machen können, ohne Erklärungen zurückgelassen zu haben. Zurück könnte er nicht, nicht zu ihr, nicht zur Navy und nicht zu seinem alten Leben. Womit sollte er jetzt nur anfangen? Sollte er sich einen Job in seiner Heimatstadt Chicago suchen? Oder umziehen? Nach New York? Vielleicht würde er den Absender ja doch eines Tages über den Weg laufen.
Seine Überlegungen wurden immer verrückter, während er sich von der Tür entfernte, ohne sie je berührt zu haben.
Gedankenversunken zuckte er zusammen, als die morsche Tür aufgeschlagen wurde und zwei Männer aus dem Türrahmen stolperten. Beide hatten sie etwa die gleiche Größe. Der Blonde mit den blauen Augen hatte den schlanken Mann, mit dunklen Haar und Dreitagebart in den Schwitzkasten genommen und brüllte ihm Worte zu, die für Samuel keinen Sinn ergeben wollten. Obwohl der Blonde deutlich älter sein musste, als der andere Typ mit seiner Halbglatze, hatte er ihn mit einer Leichtigkeit unter Kontrolle und machte den Anschein, als wolle er ihn nicht mehr loslassen. Samuel wusste nicht so recht was er tun sollte. Sollte er helfen oder verschwinden? Er wollte helfen und man könnte meinen mit seinen 1.92 Metern wäre es für ihn ein Kinderspiel gewesen, doch Kämpfe waren einfach nicht sein Ding. Er löste Konflikte lieber mit Worten, als mit Fäusten und Gewalt, auch wenn er bei der Navy gewesen war. Eigentlich hatte er den Brief nur als Ausrede genommen, um von dort endlich wegkommen zu können. Er selbst hatte sich nie getraut einfach zu gehen und so war dieser, nun doch enttäuschende Brief, für ihn wie gelegen gekommen. Leise entfernte sich Samuel immer mehr von den streitenden Männern und hätte wohl auch fein aus dieser Sache rauskommen können, wenn er nicht so ungeschickt über eine Mülltonne gestolpert wäre.
Ohrenbetäubender Lärm schallte durch die enge Gasse und ließ die beiden Männer ihren Kampf unterbrechen. Mit großen Augen starrten sie sich einen Moment lang in die Augen, ehe der Dunkelhaarige, mit einem Halstuch über Mund und Nase, die Gelegenheit nutzte und sich aus der Gewalt des anderen Mannes befreite. Ehe der Ältere verstehen konnte was gerade passiert war, hatte der Dunkelhaarige längst die Flucht ergriffen und war hinter der nächsten Ecke verschwunden.
„So ein Mist! Was fällt dir ein?“, brüllte der zurückgelassene Mann und warf Samuel einen verärgerten Blick zu.
„Ich ähm, wollte sie nicht...“, stotterte er erschrocken und richtete sich schnell wieder auf, um im Notfall fliehen zu können. Höflich wie er nun mal war, stellte er die Mülltonne wieder an ihren ursprünglichen Platz und schaute dann seinem Gegenüber schüchtern entgegen.
„Das ist mal wieder typisch, die Jugend von heute, muss sich überall einmischen und herumschnüffeln.“
„Aber ich bin 26 Jahre alt“, entgegnete Samuel vorsichtig, der immer noch versuchte seine Unsicherheit gegenüber dem Fremden verstecken zu können.
„Das ist mir doch egal, Anstand hast du trotzdem nicht! Du hättest den Dieb aufhalten müssen!“
„Den Dieb?“
„Ja den Dieb, was denkst du denn? Warum sonst hätte ich ihn in den Schwitzkasten nehmen sollen?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue und lief die Treppen runter, um sich Samuel von Nahem ansehen zu können. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Mann eine lange Narbe von der linken Augenbraue bis zur Stirn hatte. Samuels Blicke fielen auf die großen, kraftvollen und rauen Hände des Mannes und verstärkten sein mulmiges Gefühl. Ob er öfter in Kämpfe geriet?
„Was hat er denn gestohlen?“, fragte Samuel.
„Dieser Bengel stiehlt mir fast jede Woche etwas. Vor zwei Wochen waren es meine neuen, teuren Schuhe, vor einer Woche der Laptop und gestern der teure Schmuck meiner Frau.“
„Und was hat er Ihnen heute gestohlen?“
„Nichts, ich habe ihm nur in seiner heruntergekommenen Hütte aufgelauert, um ihm endlich zu verstehen zu geben, dass er so etwas mit mir nicht zu machen hat. Und ausgerechnet so ein Nichtsnutz, wie du, musste mir einen Strich durch die Rechnung machen!“
„Ich wusste nicht...“, fing Samuel an, doch wurde schon im nächsten Moment wieder durch den Mann unterbrochen:
„Dieser Typ hält sich für einen Abklatsch von Robin Hood. Stiehlt die Sachen von den Reichen und gibt sie den Amen. Ein Witz, wenn man mich fragt. Der Typ trägt immer zwei verschiedene Schuhe, als hätte er nicht mal das Geld sich passende Schuhe leisten zu können und einen bescheuerten Namen hat er auch noch. Ich meine wer nennt sein Kind heutzutage noch Azoth?...“ Samuel versank schnell in seinen eigenen Gedanken, als der Mann in langweiliges Reden verfiel und stellte sich vor, wie schön es wohl sein musste, den Armen helfen zu können. Samuel wusste, dass er dem Helfer-Syndrom schnell verfiel und wahrscheinlich hätte er schon längst das Gleiche gemacht, wie dieser Azoth, wäre er nur nicht so schüchtern und feige gewesen.
„...aber davon mal ganz abgesehen. Wie bist du überhaupt hier gelandet?“ Samuel schluckte. Er hatte nicht damit gerechnet dem Fremden seine Anwesenheit noch erklären zu müssen. Vielleicht sollte er einfach gehen? Der Fremde wohnte nicht einmal hier, also könnte er ihm mit Sicherheit nicht weiterhelfen. Andererseits wäre es wohl unhöflich auf diese Frage nicht antworten zu wollen.
„Ich hatte einen Brief von dieser Adresse erhalten und wollte mit dem Absender sprechen, aber ich denke nicht, dass er mir bei meiner Suche weiterhelfen kann.“
„So, so nach wem genau suchst du denn? Azoth und ich waren früher mal gut befreundet, vielleicht kann ich dir weiterhelfen.“
„Ich... ähm, ich suche eigentlich nach meinen Eltern. Bisher habe ich nur diesen Ansatzpunkt.“
„Wie heißen sie?“
„Das ist ja das Problem, ich habe keine Ahnung. In diesem Brief stand nur, dass der Absender wüsste, wo sie sich aufhalten“, erklärte Samuel unsicher.
„Wie ist dein Name?“
„Samuel Prescott.“
„Der Name kommt mir bekannt vor. Wenn ich mich recht erinnere, dann hatte seine Schwester Kontakt zu einer Amanda und einem Marcus Prescott. Sind das deine Adoptiveltern?“
„Ja“, hauchte Samuel erschrocken und riss verwundert die Augen auf. Nie hatten seine Eltern etwas davon erzählt, dass sie Bekannte in New York hatten. Selbst dann nicht, als er ihnen davon erzählt hatte, spontan nach New York zu gehen. Alles was sie gesagt hatten war, dass er verrückt sei, so wie immer.
Nicht lange unterhielt er sich noch mit dem Fremden, der wie er herausfand Helge Nansen hieß und machte sich schon bald auf den Weg nach Los Angeles. Dort wohnte angeblich die Schwester des Robin Hoods. Alison Prior. Bei dem Nachnamen klingelte es bei ihm, doch noch konnte er diesem Nachnamen nicht zuordnen.
Die Nacht verbrachte Samuel in einem abgewrackten Hotel und zog erst am nächsten Tag weiter, um Alison zu besuchen. Er kannte nur ihren Vornamen und eine fragwürdige Adresse. Den Abend hatte er damit verbracht, alles über den Ort herauszufinden, in dem Alison leben sollte. Es war eine reiche Gegend und er zweifelte daran, dass es dort wirklich eine Alison Prior geben sollte. Trotzdem machte er sich gleich in der Frühe auf den Weg zu ihr. Seine Nervosität stieg mit jedem Schritt, den er machte. Dieses Mal müsste er wohl wirklich klingeln und sich erklären, ohne das jemand danach fragen würde.
Es waren nur 15 Minuten vom Hotel zu ihrem Haus. Schneller als ihm lieb war, verging die Zeit und er stand schließlich vor dem großen, modernen Haus. Der Rasen war akkurat geschnitten, die Fenster blitzblank geputzt und die weiße Fassade noch so neu, als hätte es niemand gewagt, ihr auch nur zu nahe zu kommen. Zögernd fiel Samuels Blick auf einen roten Mercedes, der ihn ungewöhnlicher Weise bekannt vorkam. Welcher Wagen könnte ihm ausgerechnet in Los Angeles bekannt vorkommen? Wenn er doch hier niemanden zu kennen schien? Vorerst wollte er sich nicht länger den Kopf darüber zerbrechen und klingelte an der Tür, ehe er den Mut verlieren und umdrehen würde.
Es dauerte eine Weile und Samuel war kurz davor gewesen das Haus der Priors zu verlassen, als er das Knacken des Schlosses hörte und die Tür sich leise öffnete. Verwundert blickte eine schwarze Frau um die Ecke und musterte ihn.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie verschlafen und zog die Seiten ihres Mantels dichter an sicher heran.
„Ich habe wohl eine merkwürdige Frage, aber sagen ihnen die Namen Amanda und Marcus Prescott etwas?“ Die müden Augen der jungen Frau wurden von Sekunde zu Sekunde größer. Langsam nickte sie und warf Samuel einen fragenden Blick zu. Der jedoch war längst bei ihrem Anblick in eigenen Welten versunken und starrte sie unangenehm lange an, ohne sich zu regen. Ihre blauen Augen strahlten etwas von Wärme und Gutherzigkeit aus, nur der sandgelbe Fleck in ihrem linken Auge schien diese Güte nehmen zu wollen. Sie hatte kurze, dunkle, lockig Haare und einen natürlichen, freundlichen Gesichtsausdruck. Auf ihrer rechten Schulter saß eine eigenartige Echse, die die gleiche sandgelbe Farbe hatte, wie der Fleck in ihrem Auge.
Um ihr Unbehagen zum Ausdruck bringen zu können, das komplett Samuels Starren geschuldet war, griff sie nach ihrer Echsenkette, die einem roten Robin umschlungen hatte und spielte an ihr herum. Dann räusperte sie sich. Endlich kam Samuel wieder zu Sinnen und hörte auf sie anzustarren. Röte stieg in sein Gesicht und ließ ihn unsicher werden.
„Sie sind meine Adoptiveltern und mir wurde gesagt, dass Sie guten Kontakt zu ihnen hatten. Stimmt das?“
„Ja ähm…das ist richtig, aber warum bist du dann hier?“, fragte sie immer noch unwissend und merkte dabei nicht, wie sie ihn plötzlich zu duzen anfing.
„Ich hatte gehofft Sie wüssten vielleicht etwas über meine leiblichen Eltern?“
„Ein wenig vielleicht, willst du reinkommen?“ Nickend nahm Samuel das Angebot an und folgte Alison ins Wohnzimmer, wo sie sich auf eine große Couch setzten. Alison fing an Samuel einige Dinge über seine Eltern zu erzählen, die jedoch nur teils seinen Erwartungen entsprachen. Gespannt hörte er ihr zu, trotzdem wichen seine Gedanken ab und zu von ihr ab, als er versuchte sich daran zu erinnern, wo er das Auto schon ein mal gesehen haben musste.
Erst als die Uhr neun schlug, ereilte ihn ein Geistesblitz und die Nervosität von vorhin kehrte zurück. Es musste das Auto von Helge Nansen gewesen sein. Genau dieses Auto, gleiches Kennzeichen, gleiche Farbe hatte vor dem Haus in New York gestanden. Samuel zweifelte daran, dass das ein Zufall sein sollte. Doch noch bevor er seine Gedankengänge richtig verstehen konnte, wurde die Fensterscheibe eingeschlagen und kurz darauf die Eingangstür aufgetreten. Zusammen mit einem Unbekannten, stürmte Helge ins Haus. Ohne zu zögern lief er auf Samuel zu, griff ihn an und stieß ihn zu Boden.
„War das mit der Scheibe wirklich nötig gewesen?“, fragte Alison genervt, als wäre sie mit ganzen Szenario vertraut.
„Ich musste meinem Auftritt Ausdruck verleihen. Außerdem ist es endlich soweit Rache nehmen zu können“, lachte Helge schadenfroh und stellte seinen Fuß auf Samuel, damit dieser nicht entkommen würde.
„Rache? Aber ich habe doch gar...gar nichts getan“, stammelte Samuel aufgebracht und versuchte den verwirrenden Puzzleteilen einen Sinn zu geben.
„Erinnerst du dich an Lucas Prior? Der Mann dessen Leben du genommen hast?“, fragte Helge wütend und verstärkte den Druck auf Samuels Rücken.
„Ja ich erinnere mich, aber ich habe doch nichts mit seinem Tod zu tun, es war Selbstmord! Das stand sogar in den Nachrichten“, keuchte Samuel Luft schnappend und hoffte seine Angreifer würden ihm glauben. Er erinnerte sich gut an Lucas Prior, mit dem er einige Jahre bei der Navy verbracht hatte. Sein Tod hatte viele Leute an Bord erschüttert, da gerade er derjenige gewesen war, der die ganze Truppe zum Lachen gebracht hatte, doch Samuel war von diesem Vorfall besonders tief getroffen gewesen. An Bord war er so was wie sein bester Kumpel gewesen. Nie wird er vergessen, wie er eines Tages nichts ahnend ins Badezimmer geschlendert war und Lucas mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden hatte. Natürlich hatte es wie der perfekte Selbstmord ausgesehen, doch auch Samuel hatte der Gedanke von Mord nie losgelassen. Lucas war einfach nicht der Typ Mensch gewesen, der sich umgebracht hätte. Eher jeder andere, aber nicht Lucas.
„Er war ein fröhlicher Mensch, nie hätte er sich selbst so etwas angetan. Nicht sich selbst, nicht mir, seinem besten Freund und erst recht nicht seiner geliebten Schwester Alison.“ Kaum hatte Helge seine Worte ausgesprochen, ergaben die Puzzleteile in Samuels Kopf endlich Sinn. Daher war ihm der Name Prior so bekannt vorgekommen, Alison war die Schwester von Lucas gewesen.
Für Helge und Alison war der Fall klar. Durch Zufall war Helge überhaupt auf Samuel gestoßen. Wäre er nur einen Tag später zu Azoth gefahren, um nach seinen Eltern zu suchen, hätte er sie vielleicht eines Tages gefunden. Stattdessen hatte Helge die Gelegenheit genutzt, Samuel zu Alison geschickt, um ihn dort vorbereitet umbringen zu können. Alison hatte den gleichen Hass auf Samuel, wie Helge und so war sie mehr als einverstanden damit gewesen, sich endlich rächen zu können.
So sehr Samuel auch um Gnade winselte, versuchte sich zu erklären oder vehement abstritt etwas mit dem Tod von Lucas zu tun zu haben, beide hatten sie keine Gnade. Lange konnte sich Helge die angsterfüllten Worte von Samuel nicht mehr anhören, zückte also schnell seine Waffe und erschoss den unschuldigen Jungen.
Zusammen verscharrten sie die Leiche, entfernten das Blut aus dem Haus und schworen nie wieder über diesen Tag zu sprechen, nie wieder darüber nachdenken zu wollen. Schnell verloren Helge und Alison den Kontakt, doch das war nicht weiter tragisch für ihr weiteres Leben. Obwohl sie nie dahinter kamen, wie Lucas wirklich gestorben war und obwohl sie fest davon überzeugt gewesen waren, Rache genommen zu haben, wurde ihr Leben von dort an nicht besser. Stattdessen wurden sie wütend und fingen an Hass für alles und jeden zu entwickeln. Sie brachen zu vielen ihrer Freunde Kontakt ab und fraßen den Hass in sich hinein. Und jedem sollte wohl klar sein, dass komplette Isolation die schlimmsten Psychopathen hervorbrachte.