„Lasst den Sieg … beginnen!“, rief der Zwergenkönig und breitete die Arme aus.
Erwartungsvolle Stille legte sich über den Platz, kalt und schwer wie ein Leichentuch. In der Stille hörte Artreis den Kies hinter sich knirschen, als Barka vortrat.
„Lass sie gehen!“, sagte Artreis ruhig und sah Barka an. „Bitte, lass Menakurr und Aleé gehen. Sie trifft keine Schuld!“
Barka schnaubte. „Träum weiter, Mensch! Du hast sie zum Verrat überzeugt und sie haben deinen Krieg für dich geführt. Jetzt ist es zu spät, um sich anders zu entscheiden.“
„Bitte“, sagte Artreis mit Nachdruck.
„Nein.“ Barkas Stimme machte deutlich, dass er nicht umzustimmen war.
Der Leibwächter des Königs stellte sich hinter Aleé und packte sie an den kurzen Haaren. Grausam riss er ihr den Kopf in den Nacken, in seiner freien Hand blitzte eine Klinge auf.
„Nein!“, brüllte Menakurr und wollte aufspringen. „Aleé!“
Jeweils zwei Wächter traten von hinten an sie heran und drückten sie auf den Boden. Zwei schwere Hände landeten auf Menakurrs Schultern und hielten den Zwerg in der knienden Position vor dem schwarzen Rahmen.
Auch Artreis wurde festgehalten, doch er leistete keinen Widerstand. Mit ausdruckslosem Gesicht sah er zu, wie Barka die Klinge über Aleés Hals zog und der dünne rote Strich darauf weiter aufklaffte. Menakurr tobte und schrie. Seine Wachen hatten Mühe, ihn unter Kontrolle zu halten. Barka stieß Aleé nach vorne und ihr Blut spritzte auf den Obsidianrahmen.
„Aleé!“, heulte Menakurr. Sie blickte ihn an, presste die Hände auf den Hals. Zwischen ihren Fingern sprudelte das Blut hervor.
Barka trat hinter Menakurr, packte die rotblonden Haare, hob das rote Messer und schnitt wieder. Menakurrs Schreien erstickte in einem röchelnden Gurgeln, auch er fiel nach vorne.
Artreis schloss die Augen.
Er hörte das Gluckern, mit dem das Blut auf den Rahmen lief. Er hörte den Kies unter Barkas Schritten knirschen.
Die Ereignisse der letzten Wochen liefen vor ihm Revue ab. Das Geschenk von Mesnai und die Reiterprüfung, die Flucht mit Staubwind und jene kostbaren, glücklichen Tage, da er gemeinsam mit Aleé und Menakurr bei der Ostmine gewesen war, Dreifad gespielt und sich amüsiert hatte – die schönste Zeit seines Lebens. Er bereute nichts. Nicht die Flucht als Ellynoi, nicht die Torheit, zurückzukehren und Menakurr aus einer vermeintlichen Gefahr retten zu wollen. Er bereute nur, dass seine Freunde mit ihm sterben mussten. Wenigstens Staubwind war frei und Artreis klammerte sich an das Wissen, dass das Pony überleben würde.
Eine Hand packte seine Haare, zerrte ihm den Kopf grob nach hinten. Artreis öffnete die Augen und über die Köpfe der Menge hinweg sah er dem König der Zwerge direkt in die Augen.
Er spürte einen kurzen, ziehenden Schmerz, die Haare in seinem Nacken stellten sich auf. Dann lief ihm warmes Blut über den Hals. Barka stieß ihn nach vorne, Artreis' Gesicht traf auf den Rahmen.
„Das Feuer!“, rief jemand. „Los, bringt den Feuerstein!“
Artreis blinzelte. Er konnte nicht sprechen und warme Mattheit überkam seine Glieder. Er sah, wie Barka sich neben ihn kniete und mit einem Stahlstück auf einen Feuerstein hieb. Funken flogen. Trafen auf den blutbesudelten Stein.
Ein kollektives, ekstatisches „Ja!“ erfasste die Menge, brandete rauschend über Artreis hinweg. Flammen schlugen in die Höhe, erst purpurn, dann plötzlich in einem schmutzigen blaugrün. Das Feuer explodierte förmlich neben Artreis' Kopf, verschlang ihn innerhalb von Sekunden.
Doch es verbrannte ihn nicht. Es war kühl und seidig auf seiner Haut. Artreis blinzelte träge in das Licht und spürte, wie er plötzlich nach vorne kippte. Für einen Moment sah er das Universum: Eine von blauen Nebeln gesprenkelte Schwärze, in der unzählige, Tausende, Milliarden von Sternen funkelten. Er fiel, schwebte, träumte.
Es war, als würde Etwas ihm sagen, dass er keine Angst zu haben brauche.
Dann schlug er gegen Widerstand, und der Widerstand war kalt und schwer, hart und gleichzeitig nachgiebig. Es umschloss Artreis, verschluckte ihn. Zog ihn in die Tiefe. Salz brannte in seinen Augen und in der Wunde an seinem Hals. Er wurde umher geschleudert, konnte nicht atmen, geschweige denn schreien. Wasser geriet in seinen Mund, eisig kalt und schwarz und salzig.
Er riss die brennenden Augen auf und sah zwei Schatten über sich, die mit ihm in die Tiefe sanken, einer kalten, erbarmungslosen Schwärze entgegen.
Und doch sollte er nicht sterben.
Es war kein Wunder, das ihm an jenem Tag das Leben rettete, sondern eine Kette unwahrscheinlicher, unvorhersehbarer Zufälle. Zuerst einmal funktionierte das Portal, mit dem Blut dreier Unschuldiger getränkt, und öffnete sich in eine fremde Welt.
Zum anderen zitterte Barkas Hand, als er die drei Schnitte setzte. Artreis' Flehen und die Erinnerung an Menakurrs Freundschaft hatten ihn nicht zum Verrat an seinem König bewegen können. Doch sie hielten ihn zurück.
Mitleid mit der schönen, mutigen Aleé, die alte Freundschaft für Menakurr und schließlich Achtung vor dem stoischen, selbstlosen Artreis ließen Barkas Herz erzittern. Er schnitt nicht entschlossen, nicht tief.
Und während Artreis, Menakurr und Aleé im fremden Meer einem kalten Tod entgegensanken, da wurden sie gewittert. Denn dieses Meer war nicht verlassen und ihr Blut kitzelte empfindliche Raubtiernasen.
Doch auch die Schnauzen von freundlicheren Wesen.
Die Delfine von Soregrat merkten, dass draußen, am Horizont, Lebewesen in tödlicher Gefahr waren. So brachen sie auf, sprangen über die Wellen, schossen durch die See, um zu Hilfe zu eilen.
Würden sie schneller sein als die Haie? Ein wahrlich unwahrscheinlicher, unvorhersehbarer Zufall wäre es.