Als er in der Mittagspause endlich draußen eine ruhige Ecke fand, holte er rasch sein Smartphone aus der Tasche seines Hemdes und wählte Phil’s Nummer. Er konnte es kaum erwarten seine Stimme zu hören. Das letzte Gespräch war mehrere Stunden her und es fühlte sich an, als wären es Wochen gewesen. Hibbelig lauschte er dem Tuten. Noch immer spürte er das Kribbeln der Aufregung, wenn er ihn anrief. Genau wie am Anfang ihrer Beziehung. Was sonst sollte es sein, außer Liebe? Er grinste dümmlich vor sich hin und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seiner Hüfte. Heb schon ab. Dachte er. Heb schon ab.
„Hey, Hasenmann“, wurde er von Phils sanfter Stimme begrüßt.
Endlich. Hasenmann war der Spitzname den nur Phil für ihn benutzte. Er gab ihm ihn, weil er bei Gesprächen schnell von einem Thema zum anderen wechselte. Phil war es passend erschienen ihn so zu nennen. Außerdem war ihm Hase zu gewöhnlich gewesen.
„Hallo, mein Süßer! Na, guten Vormittag gehabt?“, erkundigte sich Jörn, während er sich auf eine nahestehende Bank setzte.
„Ja, eigentlich schon, nur...“
„Nur was?“
Jörn kniff die Augen zusammen.
„Na ja“, druckste sein Liebster rum. „Wir haben doch einen neuen Kollegen. Ich hab dir von ihm erzählt.“
Jörn versuchte sich zu erinnern. Neuer Kollege? Ach ja. Der neue Kollege! Phil teilte sich mit einer weiteren Kanzlei die Büroräume und ab und an halfen sich die Kanzleien sogar aus. Die andere Kanzlei hatte vor kurzem einen ziemlich gut trainierten jungen Mann angestellt. Phil hatte erzählt, wie der Neue sich allen vorgestellt hatte. Er gab scheinbar ziemlich viel auf sich und sein Aussehen, denn er hatte sich, mit vor Stolz geschwellter Brust jedem einzelnen Kollegen vorgestellt. Ganz besonders den Frauen. Spinner.
„Klar“, meinte Jörn nur. „Der eingebildete Schnösel.“
Er hörte Phil am anderen Ende der Leitung laut seufzen.
„Heute hat er sich auch mir vorgestellt.“
„Und?“
Warum rückte Phil nicht mit der Sprache raus? Langsam wurde Jörn unruhig. Was hatte der neue Kollege angestellt?
„Na ja...“
„Nun sag schon. Du kannst es mir erzählen.“
Jörn hörte, wie sein Liebster tief durchatmete.
„Ich hab nichts gemacht! Ich schwör es dir! Es ging von ihm aus!“
Der Chirurg wurde ungeduldig. Was war vorgefallen? Nicht das erste Mal wünschte er sich, sein Smartphone würde als Schnellreisepunkt fungieren, so wie in Videospielen. Ein Kopfdruck, zack, an einem anderen Ort. In diesem Falle bei seinem Freund, damit er mit der Hand sein Kinn anheben und ihm tief in die Augen sehen konnte.
Da dies aber unmöglich war, fragte er mit ruhiger Stimme: „Was hat er gemacht?“
Nach einem erneuten tiefen Durchatmen räusperte sich Phil kurz.
„Erst wirkte er höflich und distanziert und genau deshalb hab ich ihn auf einen Kaffee in der Mittagspause eingeladen. Weil er so nett wirkte und ich dachte, es könnte mir von Nutzen sein, mich gut mit ihm zu stellen.“
Phil machte eine bedächtige Pause.
„Nun sag schon, Liebling.“
„Okay. Nun, beim Kaffeetrinken war er dann irgendwie anders als vorher im Büro. Halt lockerer und offener und beinahe flirty. So mit auffällig unauffälligen Berührungen und so.“
Jörn ahnte worauf das hinauslief. Doch er wollte dem jungen Anwalt die Möglichkeit geben es ihm selbst zu erzählen. Auch, wenn es ihm gerade zunehmend schwerer fiel ruhig zu bleiben. Allein die Vorstellung davon, wie sich ein fremder Mann geschickt unauffällig an seinen Lebenspartner ranmachte, machte ihn schier wahnsinnig. Vor allem, weil er nicht einfach in die Kanzlei fahren und dem Typen die Fresse polieren konnte. Nicht, dass er das wirklich getan hätte, dafür war er viel zu harmoniebedürftig und immer darauf aus, Gewalt aus dem Weg zu gehen. Trotzdem wollte er genau das für einen kurzen Moment tun. Doch es ging nicht. Er musste hier sitzen und tatenlos mit anhören, was geschehen war. Unruhig stand er auf und ging ein paar Schritte. Phil erzählte weiter.
„Schließlich wurde sein Flirten offensiver und ich konnte es nicht mehr ignorieren. Aber du weißt ja, wie ich bin. Immer nett, freundlich, hilfsbereit. Jemanden vor den Kopf stoßen, das kommt für mich nicht infrage und ich muss ja immerhin mit ihm zusammenarbeiten. Zumindest in gewisser Weise.“
„Wie hast du reagiert?“, fragte Jörn, noch immer mit äußerster Ruhe in der Stimme, obwohl ihm längst das Blut in den Kopf geschossen war. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Ich hab gar nicht reagiert. Ich könnte mich ja selbst dafür ohrfeigen, das kannst du dir sicherlich denken. Aber ich hab ihn machen lassen. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen, ohne ihn wütend zu machen. Und dann kam er mir immer näher. Hat sogar seine Hand auf meinen Oberschenkel gelegt. Und ehe ich reagieren konnte und das wollte ich wirklich, da...“
Phil brach ab. Jörn konnte fast durchs Telefon die Anspannung des anderen Spüren. Sehen, dass er sich auf die Unterlippe biss. Er ließ ihm Zeit den Satz selbst zu beendet, obwohl er doch schon viel zu genau wusste, wie er enden würde. In Jörns Innerem raste die Eifersucht, war nicht mehr zurückzudrängen, doch er riss sich am Riemen. Es würde ja eh nichts bringen jetzt auszuflippen. Zudem es sich nicht mehr ändern ließ. Was geschehen war, war geschehen. Da konnte er nichts machen.
„Er hat mich geküsst, Jörn“, sagte Phil schließlich.
Seinen Vornamen nutzte Phil eigentlich nur, wenn er sich wegen etwas schuldig fühlte oder wenn er wütend auf den Anderen war. Jetzt war es wohl die Schuld, die ihn plagte.
Jörn atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen.
„Okay“, sagte er. „Und du hast?“
„Den Kuss nicht erwidert! Was denkst du denn von mir! Ich hab ihn weggedrückt, mich entschuldigt und gesagt, dass ich in einer Beziehung bin.“
Jörn atmete erleichtert aus. Eigentlich war ihm klar gewesen, dass sein Süßer ihn nicht betrügen würde, doch manchmal kam eben doch die Eifersucht auf und der Gedanke, dass er eben auf echte körperliche Nähe nicht verzichten konnte und sich daher einen Anderen suchte. Gefühle hin oder her. Doch das war offensichtlich nicht der Fall. Wie hatte er auch nur eine Minute zweifeln können?
„Dann ist doch alles gut“, sagte Jörn also. „Nichts passiert. Mach dir keine Gedanken.“
„Das tue ich aber. Hätte ich ihm gesagt, er solle aufhören zu flirten, als er begonnen hatte, hätte es nie soweit kommen können. Die Fronten wären gleich von Anfang an geklärt gewesen. Aber das hab ich nicht. Weil ich ein absoluter Gutmensch bin und keinen Ärger will. Weil ich harmoniebedürftig bin wie kein anderer. Und weil man es mir eben nicht ansehen kann, dass ich vergeben bin.“
Die Unzufriedenheit war Phil anzuhören.
„Hey, jetzt mal halblang. Ja, du hättest ihm von Anfang an klarmachen können was Sache ist. Aber wäre es sicher gewesen, dass er aufgehört hätte? Vielleicht wäre er dann sogar noch direkter geworden. Du kennst doch die Typen, die sowas nicht abschreckt, sondern eher anzieht. Und das du so ein Gutmensch bist, finde ich grundsätzlich nicht negativ. Im Gegenteil! Ich liebe genau das an dir. Du siehst in jedem Menschen zuerst das Gute. Genau das macht dich doch aus. In genau diesen Gutmenschen habe ich mich vor gut einem Jahr hemmungslos verliebt und daran hat sich bis heute nichts geändert. Also ändere dich bloß nicht!“
Er lächelte. Ja, er liebte diesen Mann genau so, wie er war. Nichts an ihm wollte er ändern. Und gerade dieser Vorfall hatte ihm das noch einmal deutlich gemacht. Er war die Liebe seines Lebens. Sein Herz hatte das schon lange gewusst. Sein Kopf wusste es erst jetzt.
„Ich will dich sehen! Noch heute!“, sagte Jörn zu seinem Liebsten. „Ich komme nach Feierabend direkt zu dir!“
„Und was ist mit deiner Arbeit?“
„Mir fällt schon was ein“, meinte der Arzt freudig erregt.
Ihn würde nichts mehr davon abhalten bei seinem Schatz zu sein. Kein Job, kein Chef, keine Freunde, keine Wohnungsangelegenheit. Scheiß doch auf alles! Dachte er sich. Scheiß auf dieses Leben! Ich will nur bei ihm sein. Koste es, was es wolle.
„Holst du mich vom Büro ab?“, fragte Phil aufgeregt. „Ich mach erst um 19 Uhr Feierabend. Es ist so viel los. Viel mehr als sonst. Außerdem muss ich dich unbedingt meinen Kollegen vorführen!“
Jörn lachte.
„Das könntest du doch auch morgen früh, wenn ich dich zur Arbeit fahre.“
„Das auch. Aber ich will diesen dreisten Typen doch so schnell wie möglich zeigen, dass ich definitiv nicht mehr zu haben bin. Nie wieder! Damit das vom Tisch ist.“
Jörns Herz machte einen Sprung. Nie wieder? Bedeutete das, das was er dachte? Wollte Phil ihn wirklich nie wieder gehen lassen? So viel Glück hatte er doch gar nicht verdient.
„Okay. Dann bis nachher!“, sagte er und die beiden verabschiedeten sich.
Aufgeregt machte sich Jörn auf den Weg zurück ins Krankenhausgebäude. Er konnte seinen Feierabend kaum erwarten.
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