Als Jarle die Augen erneut öffnete wusste er sofort wieder wo er sich befand. Im Schlaf hatte er sich zum Glück nicht bewegt und war nicht auf seine zahlreichen Verletzungen gefallen, die noch schlimmer schmerzten als zuvor. Selbst das Atmen tat weh.
Wieder schloss er die Augen und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren, doch es stand nicht viel zur Auswahl. Wenn er sich nicht auf seine Schulter konzentrierte spürte er den nagenden Hunger, seinen trockenen Hals, aber wenn er versuchte den Durst auszublenden spürte er nur noch den brennenden Schmerz seiner Schulter und die juckenden Schnittwunden. Es war ein Teufelskreis.
Jarle war immer stolz darauf gewesen hart im nehmen zu sein. Er hatte verkraftete, dass seine Mutter gestorben war, dass er seine Schwester verloren hatte, dass er von allen verraten wurde die er gekannt hatte und dass er gezwungen war im Tunnelsystem als Dieb zu leben. Selbst den Verrat durch Linch war nur noch nebensächlich für ihn, hatte er doch nichts anderes von ihm erwartet.
Doch hier in dieser Zelle begann er zu verzweifeln. Lias Tod, die Ausweglosigkeit seiner Situation, die Aussicht seine Schwester nie wieder zu sehen. Im Vergleich dazu waren die Schmerzen nichts mehr. Tränen rannen über seine Wangen und die grauen Steinwände verschwammen vor seinen Augen.
Seine Hand bewegte sich in Richtung Tablett. Er wollte nichts mehr von dem ganzen fühlen. Die Bewusstlosigkeit schien ein willkommener Ausweg.
Mit zitternden Händen ergriff er die Schale und hielt sie an seine Lippen.
Zögerte.
Dachte nach.
Trank sie in einem Zug leer.
Es tat gut zu trinken, auch wenn das Wasser abgestanden schmeckte und seine Kehle immer noch brannte. Er leckte die letzten Tropfen von seinen Lippen und griff auch nach dem Brot, er tat es ohne nachzudenken.
Danach starrte Jarle auf das leere Tablett. Die Tränen waren auf seinen Wangen getrocknet und er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.
Er war schwach geworden und hatte sich denen gebeugt. Doch fast genauso schlimm war, dass er noch immer unsäglichen Hunger und Durst verspürte. Er griff wieder nach der Schüssel und versuchte aus ihr die letzten Tropfen zu trinken, doch die Wenigen liefen nur an seinem Kinn hinunter. Verzweifelt sah Jarle auf die leere Schüssel, den leeren Teller und die geschlossenen Tür.
Von einer plötzlichen Wut gepackt schleuderte er die Schüssel dagegen, vor der sie scheppernd liegen blieb.
Wimmern sank er in sich zusammen und umklammerte wieder seinen linken Arm. Warum?? Warum?? Wieder liefen ihm Tränen über die Wangen. Er wollte aufstehen, er wollte schreien, er wollte so lange gegen die Tür hämmern, bis seine Knöchel blutig waren und der fremde Mann kam. Er wollte zurück nach Thoke. Zurück in die Tunnel, wollte sich mit Inji in den Rosenbüschen verstecken und Lia umarmen.
Wieder wurden seine Lider schwer und der stechende Schmerz in seiner Schulter wich einem dumpfen Pochen. Fast hätte Jarle aufgelacht.
Ich wusste es.
Der Schlaf übermannte Jarle, als das geschmacklose Gift im Wasser seine volle Wirkung entfaltete.
Schon seit langem lag Jarle auf dem Rücken und starrte die Decke an, genoss die Abwesenheit von Schmerzen. Sein Verstand war wieder vernebelt. Auch das genoss er. Irgendetwas in seinem Unterbewusstsein sagte ihm zwar, dass er aufstehen musste und irgendetwas unternehmen musste, doch er ignorierte diese nervende kleine Stimme.
Als er aufgewacht war wollte er noch versuchen den Nebel der seinen Geist umgab zu vertreiben, aber wozu? So wie es jetzt war konnte es bleiben. Er spürte keine Schmerzen und dank einer junger Frau die einige Male bei ihm war und frisches Wasser und Nahrung brachte hatte er auch weder Hunger oder Durst. Sie würde bald wieder kommen, sie musste kommen. Die letzte Schale Wasser hatte er im Schlaf umgestoßen.
Voll Bedauern hatte er beim Aufwachen auf die Pfütze geschaut.
Den alten Mann hatte er auch aus seinen Gedanken verbannt. Er lag einfach nur da, starrte an die Decke und döste vor sich hin.
Er konnte sich bis auf seine Schulter problemlos bewegen. Irgendwann war jemand hereingekommen und hatte ihm einen Verband um den Oberkörper gebunden und seinen verletzten Arm mit einer Schlinge an seinen Körper fixiert. War es die junge Frau gewesen? Er wusste es nicht mehr, aber es war nicht von Bedeutung.
Ein Lächeln entwich ihm als er an seine Verzweiflung zurückdachte. War das gestern gewesen? Vorgestern? Vor einer Woche? Auch diese Frage verbannte er. Sie war nicht mehr wichtig für ihn. Wie hatte er nur so aufregen können?
Die Tür schwang quietschend auf. Sofort setzte er sich auf und blickte zu ihr hinüber. Doch gegen seine Erwartung trat nicht die Frau mit einem Tablett und einem freundlichen Lächeln hindurch.
Der dürre, alte Mann trat in die Zelle und beobachte den Jungen mit schräg gelegtem Kopf. Jarle imitierte die Bewegung und beobachte den Mann ebenfalls.
Der Alte ging in eine Ecke der Zelle und zog den Stuhl näher zu Jarle, bis er direkt vor ihm stand und ließ sich mit einer fließenden Bewegung auf ihm nieder.
Jarle setzte sich unwillkürlich aufrechter hin und schwieg den Mann abwartend an. Auch der Alte schwieg und blickte in seine Augen.
Es verging einige Zeit, doch es schien nicht so, als ob er etwas sagen wolle. Jarle räusperte sich und suchte nach einer Art das Gespräch zu beginnen, doch sein vernebelter Verstand wollte keinen zustande bringen.
Zögernd räusperte er sich erneut und wiederholte stattdessen die Worte, die die Stimme in seinem Hinterkopf ihm zuflüsterte.
„Wer sind Sie?“
Der Alte antwortete mit Schweigen. Jarle fragte sich ob er etwas falsches gesagt hatte. Hatte er den Mann verärgert?
„Wer bist du?“ antwortete dieser jedoch mit einer Gegenfrage.
Jarle schaute den Fremden verwirrt an. Ihm fiel es schwer den Sinn in dieser Frage zu verstehen. Noch immer sprach sein Unterbewusstsein eindringlich auf ihn ein, doch er ignorierte es wieder. Stattdessen erwiderte er: „Jarle.“
„Weißt du warum du hier bist Jarle?“ Die Stimme des Mannes klang rau und tief.
Wieder musste Jarle angestrengt nachdenken. Sein Unterbewusstsein schrie ihm zu er solle das Tablett nehmen und es dem Alten ins Gesicht schleudern, aufstehen und wegrennen so schnell er konnte. Ärgerlich versuchte Jarle diese lästige Stimme auszuschließen. Der Alte sah ihn noch immer an und Jarle zuckte nur mit der gesunden Schulter.
„Du bist hier, weil du hier hin gehörst.“
Jarle nickte zustimmend. Natürlich. Er gehörte hier her. Warum war ihm diese Antwort nicht eingefallen?
Der Mann sprach weiter und Jarle saugte jedes seiner Wörter auf und verinnerlichte sie.
„Du bist in Mioku, auch Klammfall genannt.“ Der Mann machte eine kurze Pause, wartete bis Jarle seine Worte verstanden hatte. „Ich bin Meister Behlia. Du gehörst hier her. Spürst du die Verbindung?“
Jarle nickte wieder, er glaubte Behlia jedes Wort, doch eine Frage ließ ihm keine Ruhe.
„Weshalb?“
Meister Behlia sah ihn wieder schräg an.
Jarle versuchte erneut seine Gedanken in Worte zu fassen. Dieses mal mir mehr Erfolg. „Ich glaube euch, ich gehöre hier her. Ich fühle mich als würde ich euch schon mein Leben lang kennen, doch ich verstehe nicht weshalb?“
Der Blick mit dem der Meister ihn betrachtete verunsicherte ihn und er wollte sich schon für die taktlose Frage entschuldigen als Behlia antwortete: „Ich weiß wer du bist Jarle. Ich weiß alles über dein Leben, von deiner Mutter, deinem Vater, deiner Schwester … Ich weiß es, weil du schon seit deiner Geburt hier her gehörst und nun endlich nach Hause gekommen bist. Du bist nicht wie die tausenden Menschen in Kronland, die morgens aufstehen, ihre Arbeit verrichten und blind für das sind, was um sie geschieht. Du bist anders, so wie jeder hier in Klammfall. Wir sind deine Familie.“
Jarle sah ihn verständnislos an. Er glaubte Behlia ohne Vorbehalte, doch konnte es dennoch nicht glauben. Er sollte anders sein? Ausgerechnet er, ein Waisenjunge aus Thoke? Behlia sah den verwirrten Ausdruck in Jarles Gesicht.
„Du fragst dich weshalb? Es ist deine Herkunft, dein Vater um genau zu sein. Auch er gehörte hierher und wurde hier ausgebildet.“
Jarle war nun noch verwirrter? Sein Vater? Er wusste von ihm nur, dass er kurz nach seiner Geburt gestorben war, und, dass er laut den Gerüchten ein Verrückter war, der einen Packt mit den dunklen Mächten geschlossen hatte. Und zu was wurde er ausgebildet, und was verband sie beide? Was genau machte ihn so besonders? Jarles Verstand war von all den Fragen überfordert, er schaffte es nicht mehr sie nur mit einem Schulterzucken zu ignorieren.
Er versuchte seine Bedenken in Worte zu fassen, doch noch immer gehorchte sein Verstand ihm nicht. Was vorher wohltuend und entspannend war, stand ihm nun im Weg. Unter Mühen fragte er stockend:
„Ich verstehe nicht. Zu was? Weshalb?“
Meister Behlia nickte bedächtig und erwiderte wohlüberlegt: „Dein Vater ist nicht von Bedeutung. Die Taten deiner Vorfahren sind nicht von Bedeutung, nur deine eigenen zählen. Das was du durch deine Talente erreichen wirst.“ Auf den fragenden Blick von Jarle sprach Behlia weiter, „Deine Talente? Du hast die selben wie jeder aus unserer Familie, wie jeder Makeii, nur in verschiedener Ausprägung. Schnelligkeit, Kraft, bessere Reflexe und Sinne, um nur ein paar zu nennen. Du wirst das gesamte Ausmaß deiner Begabung hier ergründen und eines Tages wenn du soweit bist in den Dienst Kronlands treten, um es zu beschützen, Leben zu retten und das Gleichgewicht zu erhalten.“
Jarle sah den Meister mit großen Augen an.
Beliah stand auf und hielt ihm die Hand hin. Jarle ergriff sie und wurde auf die Beine gezogen. Fast gaben sie unter ihm nach, nur wackelig konnte er dem alten Mann, der sich bewegte als wäre in der Blüte seiner Jahre, aus der Zelle folgen.
Sie liefen durch einen schmalen Gang, vorbei an mehreren Türen, sie stiegen eine ebenso schmale Treppe hinauf und das Licht am Ende des Stufen blendete ihn. Er musste seine Augen für einige Sekunden schließen.
Als er sie wieder öffnete konnte er sein Staunen nicht verbergen. Vor ihm öffnete sich eine gewaltige Säulenhalle. Jede Säule war einzeln aus dem roten Stein gehauen und mit filigranen Mustern verziert. Der Boden spiegelte das Licht welches durch ein großes Fenster neben ihm fiel. Tief beeindruckt ging er ein paar Schritte in den Raum. Behlia blieb hinter ihm stehen, gab ihm Zeit sich umzuschauen.
Jarle trat an das Fenster und blickte hinaus. Unter ihm erstreckte sich eine weite Ebene. Die Luft schien unter der brennenden Sonne zu glühen, und flimmerte tief unter ihm über dem weißen Sand, der sich in alle Richtungen erstreckte. In der Bergkette, die diese weiße Wüste durchschnitt waren zahlreiche Öffnungen zu entdecken. Fenster, wie Jarle verstand, Fenster wie jenes aus dem er hinausschaute.
Tief beeindruckt ließ er die Aussicht auf sich wirken. Noch vor einiger Zeit war er ein Waisenjunge aus Thoke gewesen, ohne Zukunft oder Besitz. Nun war er Teil von etwas Größerem. Ein Makeii, wie Meister Behlia sich selbst bezeichnet hatte. Nun war er bei seiner Familie.