Alna beugte sich hinab, um etwas aufzulesen. Es war ein grünlich schimmernder Stein, welcher Kayden gehörte. Ihr Jüngster spielte immer wieder mit diesem und weiteren. Ziel dieses Spieles war es, mit diesen Grünen so nah als möglich an einen roten zu gelangen. Sie wurden geworfen, gekollert oder geschnippt, niemals aber geschoben.
Sie hielt das Kleinod in der Hand und presste sich dieses dorthin, wo ihr Herz vor Kummer schwer pochte. Sie schluckte und ein Jauchzen entglitt sich ihrem Halse.
Jemand legte ihr tröstend den Arm um den Hals, drehte sie herum und drückte sie an sich. »Ach Alna, meine liebste Alna.«
»Ich will sie zurück«, wehklagte sie. Tränen rannen ihr ungehemmt die Wangen herab.
Anstatt zu antworten, schloss er die Lider und nickte stattdessen. Sein Kinn Erbebte und er kniff die Augen fest zusammen.
Ein forderndes Krächzen ließ Alna aufhorchen und sie versuchte ihre Tränen hinfort zublinzeln. Wie durch einen Schleier sehend schienen sich ihre Augen der Erkenntnis zu lichten.
»Da ist wieder dieser Vogel«, flüsterte sie und drehte ihren Mann auffordernd zur Seite. Ihm stand der Mund offen, als er diesen erblickte.
»Ob das derselbe ist?«
»Ich würde diesen silbrig weißen Falken mit seiner Zeichnung unter Hunderten erkennen.« Klarich nickte. »Ja, er ist es.«
Abermals krächzte das Tier, hob den linken Flügel und zupfte eine seiner Federn heraus. Mit dieser im Schnabel hüpfte er ihnen entgegen und legte diese behutsam, beinahe andächtig nieder. Er neigte unterwürfig den Kopf und ging wie beiläufig mit gespreizten Flügeln rückwärts auf Abstand.
Aus seinem Halse entwich der bereits vernommene Ruf seiner Art, als er sich kraftvoll in die Lüfte erhob und in Richtung des Waldes davonflog.
Alna verzog den Mund und hob wie zuvor den Stein, nun auch die Feder auf.
»Es geht ihnen gut«, stellte sie nüchtern und bestimmend fest. Klarich schenkte ihr einen Blick, den nur ein liebender Vater wie Ehemann zustande bringen vermochte.
»Auch wenn Bestlin das alles hier wieder aufbauen lässt ... dass er uns unsere Jungen genommen hat, wird er bluten.«
Alna sah etwas in den Zügen ihres Geliebten, was sie nur schwer deuten konnte. Es war etwas, was weder mit Furcht noch mit blankem Hass zu vergleichen war.
***
Dumpfe Schläge erschollen und anstrengend schnaufende Laute drangen durch das Tor des Zwingers. An diesem Vormittag durfte sich Rondal von den Fertigkeiten der Neuankömmlinge überzeugen. Obwohl die beiden zuvor stets mit dünnen Stecken fochten, bestand er auf hölzerne Schwerter.
Diese deutlich schwereren Gegenstände und die Gewöhnung an metallene Waffen, mit denen man einem das Leben nehmen konnte, versprachen eine entsprechend kürzere Zeit.
Er verschwieg ihnen, dass in den Übungswaffen dünne Eisenstäbe eingelassen waren, um das ansonsten leichte Holz zu erschweren.
Die Zwei waren erstaunlich gut vorbereitet, obwohl Veyed aufgrund seines kräftigen Wuchses scheinbar im Vorteil schien. Hingegen wusste Kayden seine fehlende Kraft mit Geschick und Ausdauer vortrefflich auszunutzen. Wo sein Bruder ihn mit schweren Schlägen bedrängte, ließ er die meisten derer leichtfertig an seiner Waffe abgleiten und nahm ihnen so die Wucht. Dennoch, seinen zittrigen Armen war anzusehen, dass jeder Treffer schmerzte.
Der Kampf schien beendet, als dem Jüngsten nur noch drei Schritte zum Wall und ebenso viele zur Bemauerung des Weges, hinauf zum Burghof blieben.
Was Rondal nun zu sehen bekam, verschlug ihm die Sprache. Mit offenstehendem Mund beobachtete er die kämpfenden.
Kayden sah über die Schulter hinweg und wählte den Aufbau zum Weg. Er nahm Anlauf, belastete sein Schwungbein und sprang ab. Ehe sich Ron und Veyed versahen, stand der Knabe leichtfüßig auf der Mauer und griente. Er streckte seinem Bruder die Zunge heraus und tat, was sein Bruder unter vorbehalt äußerster Anstrengungen nicht zu vollbringen vermochte. Er vollführte einen Salto über dessen Kopf hinweg und landete hinter ihm in Hocke. Flink erhob er sich und tippte ihm seinem hölzernen Schwert auf dessen Schulter. »Verloren.«
Alle drei sahen hinüber zum Tor, als sie den lautstarken Beifall vernahmen und Kylion erkannten, der breit lächelte. »Mein lieber Ron, nun ist es an dir fortzuführen, was Alric begann.«
Angesprochener verzog die Lippen. »Da wird es nicht viel fortzuführen geben. Eines Tages darf sich Glücklichschätzen, wer ihren Klingen Heil entkommt.«
Kayden wollte wie üblich mit seinem Bruder abklatschen, doch dieser schien anderes im Sinn. Sein Blickfeld war aufgrund seines Standpunktes eingeschränkt, doch der Ausdruck in Veyeds Gesicht ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. So hat er seinen großen Bruder noch nie erlebt. Dessen Hand umfasste den Schaft seiner Waffe fester, die Muskeln seines Oberarmes traten hart hervor, so als wolle der den Griff mit bloßer Kraftanstrengung zerbrechen. Sein Blick verfinsterte sich und sein Kinn begann drohend zu vibrieren. Seine Stimme glich mahlenden Gesteins.
»Mörder. Du mieser Bastard.«
Er änderte seine Haltung und hastete ohne Vorwarnung voran. Die nächsten Worte schrie er ungehalten und hob seine falsche Klinge. »Krepiere!«
Kylion wurde unliebsam zur Seite geschubst und röchelte erschrocken. Er stieß hart an die Toreinfassung und fasste sich an eine schmerzende Rippe. »Nicht!«, rief er mit vorausgestreckter linker Hand. Sein Begleiter zog im rechten Moment blank, kniete auf ein Bein nieder und wehrte so die mit voller Kraft geführte Waffe ab. Rondal sprang hinzu und hielt dem ungestümen Jungen die Arme auf dem Rücken umklammert. Er behielt ihn in festem Griff, sodass jegliche Bemühungen sich zu befreien erfolglos blieben.
»Nein Veyed, nein. Beruhige dich. Serfem gehört zu uns und bringt Kunde von euren Eltern.«