…I’ve got two faces
Blurry’s the one I’m not
I need your help to take him out…
[Twenty One Pilots- Goner]
https://www.youtube.com/watch?v=ZUNvD1JAHYY&list=LLL-1FIhAEAYXGIywjPXxaVA&index=4
Dad hat mir einmal gesagt, dass, egal was passiert, am Ende alles gut wird. Er ist noch am selben Abend ausgezogen. Zu seiner neuen Freundin. Das war der Tag an dem ich begriffen habe, dass nicht immer alles gut wird. Und vielleicht liegt darin die Tragik des Lebens verborgen. Dass man eines Tages aufhören wird die Welt durch die Augen eines Kindes zu betrachten und man auf einmal begreift, dass einen die Anderen immer noch sehen können, wenn man sich die Hände vor die Augen hält. Und vielleicht…vielleicht ist es diese Erkenntnis, die die Menschen zu dem Schluss kommen lässt, dass, auch wenn nicht alles gut wird und du frühzeitig sterben musst, es keine Rolle spielt, wie lange du gelebt hast, sondern wie intensiv.
„Mum, bitte.“, sage ich leise. Sie sieht mich von der Seite an. Über ihre Stirn zieht sich eine steile Sorgenfalte. „Sieh mich nicht so an.“, sage ich. Sie wendet den Blick ab und sieht nach draußen auf die Straße. Die Ampel schaltet von Orange auf Grün. Die Autoschlange vor uns gerät in Bewegung. Mum beschleunigt, blinkt und biegt nach rechts ab. Sie klammert sich so krampfhaft an das Lenkrad, dass die weißen Fingerknöchel zum Vorschein kommen. Die Stille zwischen uns wirkt beklemmend. Ich beuge mich nach vorne und schalte das Radio an. „Lass das, Will!“, zischt sie. Ihre Stimme zittert dabei ein kleines Bisschen. Ihre zierliche Hand schnellt nach vorne, um das Radio abzustellen. „Was soll ich lassen?“, frage ich und klinge dabei schnippischer als beabsichtigt. Ich höre, wie Mum geräuschvoll einatmet. Sie anzusehen traue ich mich nicht. Weil ich ganz genau weiß, worauf sie anspielt. „Wieso redest du nicht mehr mit mir?“, fragt sie. Ich lache trocken auf. „Ich rede doch mit dir.“, sage ich. „Nein, das tust du nicht.“ Ich sehe aus dem Fenster. Graue Häuserfronten ziehen vorbei. „Natürlich tue ich das.“, sage ich. Ich registriere aus den Augenwinkeln wie Mum ungläubig den Kopf schüttelt. „Du glaubst doch nicht, dass ich dir das abkaufe!“, sagt sie aufgebracht. Nein, das glaube ich nicht. „Warum will uns Dr. Brown heute persönlich sprechen, Will?“, höre ich Mum fragen. In mir zieht sich etwas zusammen und ein Teil von mir glaubt die Antwort zu kennen, die ich Mum liefern könnte, um sie zu beruhigen. „Ich habe in letzter Zeit wieder öfter Kopfschmerzen.“, sage ich. Ich höre Mum unterdrückt aufstöhnen. „Und am Freitag, als ich von der MRT nach Hause gefahren bin…“, ich breche mitten im Satz ab... „Was war am Freitag nach der MRT?“, hakt sie nach und ihre Stimme bekommt dabei diesen leicht hysterischen Unterton. Ich zögere. „Was war am Freitag, Will?!“ Ich schüttle leicht den Kopf, bevor ich zu einer Antwort ansetze. „Da ging’s mir nicht so gut. Mir war ein bisschen übel.“ Mehr muss sie nicht wissen. Sie wird es ohnehin erfahren, wenn sich meine Vorahnung bestätigt.
Sie biegt in eine kaum befahrene Seitenstraße ein und steigt so abrupt auf die Bremse, dass der Sicherheitsgurt schmerzhaft in die Haut an meinem Hals einschneidet. „Scheiße!“, brüllt sie. „Scheiße, verdammte!“ Sie fährt sich mit den Händen ins Haar. Die dunklen Strähnen bilden einen krassen Kontrast zu ihrer winterlich blassen Haut. Ich schließe die Augen und lehne meine Stirn gegen das kühle Fensterglas. Schneeregen trommelt einen Rhythmus auf dem Autodach wie tausende Finger. Das Herz in meiner Brust schlägt stark und gleichmäßig, als wolle es sagen: Du hast noch Zeit, Will. Du hast Zeit.
„Es wird alles gut.“, höre ich Mums leise Stimme. „Egal was passiert, Will, es wird am Ende immer alles gut.“, sagt sie. „Wie im Märchen.“ Ich lächle. Und es ist ein ehrliches Lächeln. Und auch wenn ich weiß, dass es im echten Leben nicht immer so läuft, klingt die Illusion des Happy Ends wunderschön. „Bestimmt.“, sage ich. Als ich die Augen öffne, lächelt mich Mum an. „Bereit für ein Bisschen Normalität?“, fragt sie und ich muss unwillkürlich auflachen. „Allerdings.“, sage ich. Das ist sie, unsere Normalität. Die Krankenhausbesuche sind Teil meines Lebens geworden. Ich empfinde sie schon lange nicht mehr als unangenehm. Mit der Zeit lernt man das Personal kennen und diese Bekanntschaften gleichen beinahe Freundschaften und jeder weitere Klinikbesuch einer Verabredung. Es klingt verrückt, sich einzugestehen, dass einen das Krankenhauspersonal an der Kinder- und Jugendkrebsstation, ebenso gut kennt, wie die eigene Mutter.
Der angenehm helle Raum, in dem uns Dr. Brown empfängt, strahlt eine gewisse Behaglichkeit aus. Ich registriere, dass Mum neben mir unruhig mit den Fingern einen schnellen Rhythmus auf ihren Oberschenkeln klopft. „Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll…“ Dr. Brown blättert in seiner Mappe, bevor er eine Seite aufschlägt und das in einer Klarsichtfolie befindliche Blatt Papier herauslöst um es mit penibler Sorgfalt vor sich auf die dunkle Tischplatte zu legen und mit akribischer Genauigkeit zurechtzurücken, sodass jeder Millimeter des Zettels an dem dafür vorgesehenen Platz zu liegen scheint. Er streicht mit der Hand das Blatt Papier glatt und räuspert sich. Mum greift nach meiner Hand.
Als er schließlich den Kopf hebt, sieht er mich direkt an. „Ich will nicht lange drum herum reden.“, sagt er mit seiner angenehm ruhigen Bassstimme. „Die Befunde haben sich, seit der letzten MRT, wider Erwarten drastisch verschlechtert.“ Mums Hand in meiner fühlt sich angenehm beruhigend an. „Und was heißt das jetzt genau?“ Ich sehe, dass sich Mums Mund bewegt, aber ihre Worte kommen nicht bei mir an. „Er ist wieder da.“, sage ich leise. „Der Krebs ist wieder da, oder?“ Dr. Brown verzieht das ernste Gesicht zu einem schmalen Lächeln. „So leid es mir tut, Will, ich befürchte, ich muss deine Frage mit ja beantworten.“ Plötzlich beginnt mein Herz zu rasen. Ich atme tief durch. „Oh…okay…was machen wir jetzt?“, frage ich. Ich bin erstaunt, wie ruhig meine Stimme bleibt. Meine Handflächen werden feucht. Ich denke an Tyler.
Dr. Brown senkt den Blick auf die Befunde und nimmt seine Brille ab. Er fährt sich mit der Hand über das Gesicht und massiert mit Daumen und Zeigefinger seine Schläfen, bevor er mich ansieht und leicht den Kopf schüttelt. „Natürlich wäre eine vollständige Entfernung des Tumors durch die Schädeldecke mittels einer Kraniotomie wünschenswert. Dabei wird ein kleines Stück des Schädelknochens entfernt. So wie bei deiner ersten Operation.“ Dr. Browns Blick wechselt von mir zu Mum. „Allerdings dürften sich hierbei diesmal einige Probleme einstellen, denn der jetzige Tumor liegt deutlich tiefer unter der Schädeldecke, was eine vollständige Entfernung verkompliziert und größere Risiken birgt. Das heißt, wir werden es erst mal mit einer Strahlentherapie probieren, um das Tumorwachstum zu stoppen. Dann kann man sich noch überlegen, ob eine Chemotherapie zusätzlich sinnvoll wäre.“ In meinem Kopf drehen sich die Gedanken um sich selbst. Das ist ein Déjà-vu. Ein einziges Déjà-vu. „Ich will euch nichts vorenthalten und keine falschen Hoffnungen machen. Nach dem jetzigen Befund ist eine Heilung nicht ausgeschlossen…“ „Und was heißt das?“, höre ich Mum fragen. „Die Heilungschancen bei dieser tiefer sitzenden Art des Hirntumors liegt bei unter vierzig Prozent.“ Manchmal wünsche ich mir gar nichts zu fühlen. Ich sehne mich nach Tyler.