Die dichten Wälder der Düsterlande wichen an manchen Stellen für die für Ackerbau und Viehzucht vorgesehenen Flächen, welche von den oberen Bewohnern des Landes bestellt wurden. Sie standen in einem engen Vertragsbündnis mit den Dunkelelfen, die, wie die Skalaner, ihre Städte unterirdisch anlegten, doch trugen die Düsterlande nicht ohne Grund ihren Namen. Der Himmel war hier von dichten Wolken verhangen, die es möglich machten, auch an der Oberfläche kleinere Städte zu bauen. In einer dieser war Gwindor aufgewachsen. Er sah mit gemischten Gefühlen dem Moment entgegen, da sich die Stadttore für die beiden Reiter öffnen würden.
Die Luft war erfüllt von den Geräuschen des Waldes und dessen Geruch. Ab und an war ein Schatten zu bemerken, der seinen Weg durch das Dickicht nahm. Es waren die Rekruten der Armee, die hier im Meer aus Bäumen ausgebildet wurden. Abgeschottet von der Zivilisation und auf sich allein gestellt, sollten sie abgehärtet werden, dazu verdammt zu jagen oder zu stehlen, wenn der Hunger sie heimsuchte und in die Verzweiflung trieb. Nicht jeder überstand die Jahre, die diese Ausbildung dauerte, unbeschadet. Manche starben durch Hunger oder wilde Tiere, andere verloren den Verstand. Gwindor dachte mit einem Schauern daran zurück, als es seine Zeit war, Tag und Nacht in den Wäldern zu verharren. Ihre einzige Aufgabe war es dabei, verdächtige Reisende zu eliminieren und sich täglich mit den Waffen zu üben, bis man sie beherrschte. Erst, wenn dieses Training vorüber war, wurde man in den eigentlichen Dienst beordert.
Yalhans gelbe Augen folgten einem der huschenden Schatten. Man konnte nicht sagen, ob es die Jüngeren waren oder fertig ausgebildete Spione, die ihnen nun folgten, um von ihrer Ankunft zu berichten. Beide waren ihm gleichermaßen unheimlich. In Skala kannte man eine derartige Aussetzung an die Gnade der Natur nicht. Dort hielt man das Blut für zu kostbar, als dass man es für solche Zwecke vergeuden sollte. Man hatte andere Methoden entwickelt, die Schwächeren zu brechen, um sie bis zum bedingungslosen Gehorsam zu formen. Die anderen wurden auf ihre Stärke hin ausgebildet und die, die sich überhaupt nicht für den Dienst an der Waffe eigneten, schickte man zu den Priestern und Gelehrten. Diese entschieden dann darüber, ob man für etwas taugte oder ob man zu den Bauern geschickt werden würde.
Allein in der Art der Ausbildung unterschieden sich die Schwesterländer seit langer Zeit. Die Einwohner der Düsterlande hielten die Skalaner für zu verweichlicht, während die Skalaner ihrerseits die Düsterländer als zu verschwenderisch ansah. Um jeden Preis wollten beide das Blut reinhalten und die Stärke ihres Volkes sichern. Mischehen waren nicht gestattet und jedes Halbblut war nicht viel mehr wert als ein Mensch und ein Mensch war vielleicht ein halbwegs brauchbarer Sklave, wenn er körperlich in der richtigen Verfassung war.
„Wir sind da“, Gwindor zügelte sein Pferd vor den hohen Toren der Stadt. Drohend wachten Statuen mit grimmigen Gesichtern zu beiden Seiten über das Tor, dessen Holz so schwarz gestrichen war, wie der Stein der Häuser. Tenlisan war eine Stadt, die zum Teil an der Oberfläche lag. Es war vor allem jedoch ein Weg hinab in die Tiefe, in der die eigentliche Stadt lag. Der Baustil im oberen Teil wirkte gedrungen. Die Häuser waren niedrig und breit. Gwindor sprang vom Pferd ab und händigte es einem jungen Dunkelelfen aus, der ihnen das Tor geöffnet hatte.
„Eure Ankunft wurde bereits verkündet“, schnarrte die Stimme des Jungen und er fasste auch die Zügel von Yalhans Pferd, als dieser seine Sachen an sich raffte, „Die Hohepriesterin wartet sehnsüchtig in ihrem Turm.“
Yalhan musterte den Jungen flüchtig. Ihm fehlte ein Auge und Narben zierten die eine Gesichtshälfte. Auch vom spitzen Ohr fehlte ihm ein Teil. Seine Kleidung war dunkel und zerschlissen. Ein beißender Geruch ging von ihm aus. Es war wohl einer derer, die ihre Zeit in der Wildnis nicht allzu gut überstanden hatten und war nun mehr als halbwegs brauchbarer Handlanger eingeteilt.
„Gut“, Gwindor fuhr sich nachdenklich durch die Haare, bevor er Yalhan winkte, ihm zu folgen. Er führte ihn durch die Gassen, die durch die enge Bauweise, schmal waren. Kaum ein Lebewesen zeigte sich hier, nur vereinzelt hörte man durch die Fenster ein schmerzerfülltes Stöhnen. „Hier leben vor allem die Arbeiter fürs Feld: Die Sklaven“, bemerkte Gwindor knapp.
Zielstrebig steuerte er einen großen Bau an, der Yalhan an einen kleineren Palast erinnerte mit seinen hohen Fenstern, in die bunte Scheiben eingelassen waren und den spitzen kleinen Türmen, die mehr der Zier als einem richtigen Zweck dienten.
Die große Tür wurde von zwei Wachen geöffnet und sie betraten eine leere Halle. Man sah es Gwindor an, dass er diesen Weg bereits öfter zurückgelegt hatte. Er beachtete die halbverhangenen Gemälde an den Wänden nicht, die allein durch das fahle Licht, das durch die Fenster fiel, beschienen wurden. Auch der aus Obsidian gehauene Thron, der am anderen Ende des Raumes stand, interessierte ihn wenig. Längst hatte dieser Ort seinen ursprünglichen Sinn verloren. Als er ein Kind war, war hier noch alles voller Leben, doch es zog sie immer weiter in die Tiefe, aus der sie kamen und in der sie lebten. Irgendwann gab eine Familie nach der anderen ihren Sitz in der oberen Stadt auf und man nutzte die Häuser, um die Gefangenen und Sklaven einzupferchen.
Neben dem Thron befand sich eine schmale Tür, die er öffnete und von da an, ging es bergab. Eine schwebende Konstruktion, angetrieben durch Wasser oder Muskelkraft, je nach dem, was gerade verfügbar war, brachte die eiserne Plattform durch Seile und Winden hinab in die Tiefe, wo sich ihnen das Herzstück der Stadt offenbarte. Tenlisan wirkte filigran und doch wie eine mit scharfen Dornen besetzte Rose. Zwischen den hohen Häusern spannten sich Bögen und Brücken. Kein Haus war niedriger als drei Stockwerke hoch, so dass sie mehr Türmen glichen. In der Mitte ragte der Höchste von ihnen hervor, dessen Spitze von einem roten Licht erhellt wurde. Betrat man die Stadt, fiel auf, dass es keine großen offenen Plätze gab. Sie war verwinkelt angelegt und wer sich nicht auskannte, landete bald in einer Sackgasse. Treppen führten nach oben und unten und selbst Yalhan, der solche Städte zur Genüge kannte, hätte Tage gebraucht, seinen Weg zu finden, wäre Gwindor nicht vorausgegangen. Ein kühles Licht lag über der ganzen Stadt, deren Fenster aus violettem, blauem und dunkelgrünem Glase bestanden.
„Die Hohepriesterin wird sich noch gedulden müssen“, erklärte dieser unvermittelt. Er warf einen Blick über die Schulter, um sich zu versichern, dass Yalhan ihm noch auf den Fersen war, „Ich möchte zuerst bei einem Gefangenen vorbeischauen, der für uns von Nutzen sein wird.“
„Ein Gefangener?“, Yalhan konnte seinen Ohren kaum Glauben schenken. Weshalb sollte ein Gefangener ihnen von Nutzen sein? Derartiges Pack sollte man hängen oder bis zum Tode foltern, wenn sie nicht ausgelöst wurden. So zumindest verfuhren die Skalaner mit ihren.
„Ja. Ein ganz besonderer Gefangener. Eigentlich eine sie. Sie ist perfekt ausgebildet und sie wurde nur deshalb nicht der Göttin geopfert, da sie ein nützliches Werkzeug ist. Ich werde die Hohepriesterin bitten, sie mir zu leihen für unseren nächsten Auftrag“, er verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Es war sicher auch eine nette Abwechslung, eine Frau mit auf die Reise zu nehmen.
Hart klopfte er mit der Faust gegen eine eisenbeschlagene Tür, die wenig später geöffnet wurde. Ein Dunkelelf mit halblangem Haar und stechend roten Augen empfing sie. „Gwindor“, kam es knapp, „Lang ist es her!“ Sein Gewand offenbarte ihn als Schattenjäger und er führte zwei Kurzschwerter mit sich, die am Rücken befestigt waren. Abschätzig nickte er Yalhan zu, ehe er beide hereinließ.
„Was verschafft mir die Ehre Euch in diesem Kerker begrüßen zu dürfen? Wollt Ihr hier ein Nickerchen machen?“, er lachte rau auf und lehnte sich lässig gegen die Wand.
„Ich dachte nicht, dass ausgerechnet du heute hier Wachdienst leistest“, Gwindor sah sich im Raum um. Es war ein kleiner Raum, unterteilt in zwei Teile. Im vorderen Teil standen nur ein Stuhl und ein Tisch, auf dem eine Kerze brannte. Der hintere Bereich war durch ein starkes Eisengitter abgetrennt und man konnte in der Dunkelheit eine Kline ausmachen und Stroh, das am Boden lag.
„War nicht meine Idee. Ich werde bald vom alten Thyram abgelöst. Er ist eigentlich ihre Wache, aber er wollte sich was zum Essen holen und hat mich praktisch vor der Tür geschnappt“, erklärte der Elf mit gelangweiltem Unterton, „Aber es ist mal nett, zu sehen, wies ihr geht.“
„Du warst derjenige, der sie herbrachte?“, Gwindor trat an die Gitterstäbe heran. Er vernahm das zustimmende Nicken des anderen Dunkelelfen aus den Augenwinkeln. Ein paar wütender Augen funkelte ihn aus dem Schatten heraus an. Es hatte etwas Ungebrochenes an sich. Eine tiefe Entschlossenheit lag in ihnen, der ihr die Kraft gab, weiterzumachen. „Ich würde nur zu gerne, ihre Vorzüge zu meinem Nutzen einsetzen. Ich habe viel von ihr gehört“, seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt, „Furias, ich hätte nicht gedacht, dass dir etwas an ihr liegen würde?“
„Tut es auch nicht“, Furias trat nun selbst an die Gitterstäbe heran, „Sie ist nur ein wertloser Bastard. Selbst als Opfer an die Gottheit taugt sie nichts. Zu gering ist ihr Blut und zu verschmutzt.“
„Warum lasst Ihr sie dann am Leben?“, ergriff Yalhan das Wort. Auch er betrachtete die Frau, die im Schatten saß. Ihre Finger hatten sich in den dunklen Stoff ihres Gewandes gekrallt. Das weiße Haar fiel strähnig in ihr Gesicht, dessen Miene so verbittert war. Ihm fiel sofort auf, dass ihre Haut nur halb so dunkel, wie seine eigene war. Ein Außenstehender hätte sie nicht als das erkannt was sie war, doch jeder Angehörige seines Volkes wusste, dass sie ein Bastard war. Ein Mischling. Die Farbe ihrer Augen faszinierte ihn jedoch unweigerlich. Sie waren in ein tiefes Violett getaucht. Ein Ton, der in Skala nur bei den ältesten und reinblütigsten Familien auftrat.
Gwindor riss sich von ihrem Anblick los und wandte sich Yalhan zu: „Sie war das Mündel des Puppenspielers. Aufgrund ihrer Fähigkeiten kann sie uns deshalb von Nutzen sein.“
„Dieser Abschaum“, Furias spuckte auf den Boden vor den Stäben, „Er hat uns genug Ärger gemacht mit seinen verfluchten Marionetten. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich, sie wäre auch nur so eine wandelnde Leiche. Eine wahrhafte Puppe des Nekromanten. Stattdessen ist sie eine Schande für ihre Art. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass die Kleine ihre Freiheit haben wollte? Nur durch meine Gnade blieb sie noch am Leben.“
„Lügner!“, die Elfe hatte ihre Stimme erhoben. Leise zwar, doch in ihrer Stimme lag ein tiefgehender Hass. „Ihr habt gar nichts getan als den Befehlen zu gehorchen, die Ihr erhalten hattet. Wie fühlt es sich an, mh? Wie ist es zu wissen, dass eine Blutschande wie ich noch immer lebt?“, ihre Worte waren mit Bedacht gewählt und sie schenkte ihm ein höhnisches Lächeln, das keiner der drei ihr zugetraut hätte. Der Stolz, den die Dunkelelfen empfanden, schien auch in diesem Bastard Wurzeln geschlagen zu haben.
Furias packte wütend die Gitterstäbe und funkelte sie aus Zorn sprühenden Augen an: „Bete, dass diese Gitter nicht geöffnet werden, so lange ich hier bin! Ich bin frei und du bist bloß eine Gefangene, um die sich niemand scheren wird, wenn sie sich dereinst eine Wunde zuzieht. Denk an meine Worte: Wenn du jemals dem Tode nah bist, wird dich niemand retten!“
Ein leises Lachen erklang von ihr und sie erhob sich, um näher an die Gitter zu treten. Yalhan konnte sehen, dass ihre Unterlippe geschwollen war. Eine Blutblase saß darauf und verheilte.
„Ihr seid frei? Ihr seid ein Gefangener, Furias. Gefangen in Euren Regeln und Diensten. Ihr wisst nichts von der Freiheit da draußen. Kämpft Tag für Tag für die Befehlshaber und was bringt es Euch? Mein Meister hat einen Eurer Freunde auf dem Gewissen. Hat ihn vor Euren Augen vernichtet und Ihr konntet bloß zu sehen. Ich hingegen habe die Freiheit und das Leben jeden Moment kosten dürfen, da der Meister keinen Auftrag für mich hatte. Ich weiß, warum ich gekämpft habe und ich weiß, wofür es sich gelohnt hat! Wisst Ihr das überhaupt? Ihr seid allein. Seid es immer gewesen und werdet es immer sein“, zischte sie, da sie ihr Gesicht dem seinen so nah gebracht hatte, wie es die Ketten, die sie an Armen und Beinen hielten, erlaubten.
Ihre Worte trafen ihn tief, auch wenn er dies niemals gegenüber seinem einstigen Befehlshaber und dessen Begleiter zugeben würde. So packte er die Gitter noch fester und entgegnete mit eisigem Tonfall: „Warte nur ab, bis du hier rauskommst. Ich will nur zu gern meine Klinge von deinem Blut kosten lassen, damit sie sich daran erinnert, wie man richtig mit Abschaum wie dir verfährt!“
„Furias!“, ohne dass er es bemerkt hatte, war Thyram in den Raum getreten. Eine hässliche Narbe verlief über die eine Seite seines vom Alter gezeichneten Gesichtes und weitere zierten seine bloßen Arme. „Ich bat dich nur ein Auge auf sie zu haben, nicht ihr mit dem Tod zu drohen. Du weißt besser als jeder andere, wer sie gelehrt hat und weshalb die Hohepriesterin sie lebend wünscht. Mach, dass du wegkommst, bevor ich dein Verhalten melden muss!“, mit diesen Worten scheuchte Thyram den sich sträubenden Dunkelelfen hinaus. Nachdem er die Tür hinter ihm geschlossen hatte, grüßte er die beiden verbliebenen mit einem Nicken und musterte Gwindors Züge, „Das letzte Mal trugst du dein Haar schwarz. Was ist passiert? Sind dir die Aufgaben als Söldner ausgegangen, Gwindor?“
Der Angesprochene vermied es, Thyram direkt in die Augen zu sehen. So wie Furias ihm unterstellt war, stand er einst selbst in Thyrams Diensten als Soldat, bevor er auf den Vermummten traf und sich daraufhin für ein Leben als Söldner entschied. Es war keine leichte Entscheidung gewesen. Er hätte eine ruhmreiche Karriere vor sich haben können und sich zu den obersten Befehlshabern vorarbeiten können. Sein Umschwung hatte viele erstaunt.
„Schwarz fällt nicht so sehr auf unter den Menschen“, gab er knapp zur Antwort.
Thyram nickte abschätzig und ließ sich schwerfällig auf dem Stuhl nieder. Er war alt geworden. Seine besten Jahre längst vorbei und nun nur mehr der Wärter für die wichtigeren Gefangenen. Früher hatte er Gwindor als fähigen Nachfolger angesehen. „Den Weg zur Hohepriesterin könnt ihr euch sparen. Sie hat keine Zeit euch zu empfangen, aber ich soll ausrichten, dass ihr die Gefangene mitnehmen könnt. Sie hat alles mit deinem Lehnsherrn ausgehandelt“, er sprach langsam, das Kinn auf zwei Finger gestützt, „Ihr könnt sie morgen abholen.“
„Gut“, Gwindor öffnete die Tür und trat beiseite, damit Yalhan vor ihm hinausgehen konnte, ehe er selbst folgen wollte.
„Eins noch, Gwindor. Du warst immer ein guter Soldat, nun ein Söldner, aber du hast deine Ziele noch nie mit solcher Ernsthaftigkeit verfolgt, obwohl es nicht den Anschein hat, als würden sie dich allzu sehr berühren. Was ist mit dir geschehen?“, Thyram lehnte sich, während er sprach, zurück und sah ihn fragend an.
Gwindors Augen verengten sich leicht: „Die Zeit verändert viele Dinge, Thyram.“ Dann schloss er die Tür hinter sich.