Es war so warm, dass nur die Fliegen wirklich auflebten. Merin sah in den Gesichtern von Pferdeknechten und Pferden die gleiche, träge Müdigkeit. Der einzige Unterschied zwischen beiden bestand darin, dass die einen arbeiten mussten, während die anderen nichts weiter taten, als sich von Merin begutachten zu lassen.
Mit eiligen Schritten der allgemeinen Schläfrigkeit trotzend ging er durch die gepflasterten Straßen zwischen den unzähligen Ställen. In das Schnauben, Wiehern und die gebrüllten Befehle mischte sich nun noch das Knallen seiner Stiefel auf den Kopfsteinen. Merin hielt sich aufrecht, den Kopf stolz erhoben, denn immerhin war er im Namen des Königs hier.
Seine saubere Kleidung und sein selbstbewusster Gang riefen bald einen verkaufstüchtigen Pferdebesitzer auf den Plan: Ein kräftiger Mann, ohne dick zu sein, nur noch vereinzeltes, graues Haar über den Ohren, der sich mit einem karierten Tuch den Schweiß vom Gesicht tupfte und danach trotzdem nicht präsentabel aussah. Sein Gesicht war gerötet, Schweiß rann von den Schläfen und seine Augen mit den dicken Tränensäcken blickten zu unterwürfig.
„Ah!“, sagte er und lehnte sich förmlich nach hinten, um einen Blick auf den hochgewachsenen Merin zu werfen.
„Oh! Ah!“, wiederholte er, als er das Gesicht erkannte. „Lord Merin! Eine Ehre, eine wahre Ehre! Piernan mein Name. Was führt euch her, mein Herr?“
Merin entzog seine Hand dem Mann, der sie kräftig schütteln wollte. Nicht, dass der Besitzer ihn angewidert hätte, die Geste tat es. Unwohl rückte er den Kragen zurecht.
„Ich komme im Auftrag Seiner Majestät“, sprach er steif, wie er es jahrelang gelernt hatte. „Ich suche ein Ross für den königlichen Stall!“
„So! Soso“, sagte Piernan. Er nickte wissend. „Da seid Ihr hier richtig – der größte Stall von Niemhain! Wir haben alles! Mustangs, Ponys, die stärksten Kaltblüter in ganz Telion –“
„Ich kann dem König wohl kaum ein Pony bringen!“, unterbrach Merin den Redefluss. „Er will ein Pferd, ein Vollblut. So weiß wie Schnee muss es sein!“
Der Waldläufer sah sofort, wie die Züge des Mannes ein wenig entgleisten.
„Folgt mir“, meinte Piernan plötzlich wortkarg. Merin folgte ihm durch die Straßen, deren Ränder mit orangen Blumen gesäumt waren. Jeder Stadtteil Telions hatte seine eigenen Farben. In Niemhain waren es die orangen Feuertulpen, im Königsdorf würden es bald Orchideen sein. Noch war Telion im Aufbau, eine Stadt, die erst wachsen musste.
„Hier. Hier sind die Ställe für Vollblüter“, sagte Piernan mit einer blassen Gesichtsfarbe.
Merin blickte kritisch in den Stall. Es war ein höheres Gebäude als die restlichen Ställe und roch weniger nach Stroh und Mist. Nicht, weil es hier sauberer gewesen wären.
„Zwei?“, ächzte er. „Ihr habt nur zwei Pferde?“
„Nur zwei Vollblüter, ja“, Piernan drehte sein Schweißtuch in den Händen. Eine schwierige Züchtung, Mylord …“
„Ich weiß“, knurrte Merin und ging durch die langgestreckte Stallgasse, denn die beiden Rosse standen in den hintersten Boxen. Das eine war ein Fuchs mit einer sanften Blesse auf der Stirn, der Merin schnaubend musterte. Der schwarz-weiß gefleckte Hengst auf der anderen Seite grub mit dem Huf an der Tür zu der kleinen Weide, die an den Stall gehörte, und ignorierte die Besucher völlig.
Beide Tiere gefielen Merin schon allein vom Temperament nicht. Der Gescheckte war zu stoisch, der Fuchs zu nervös. Trotzdem trat er pflichtschuldigst an die Gitter heran und versuchte, eines der Tiere zu streicheln. Der Fuchs wich zurück, aber rot war auch keine Farbe, die König Chirogan gefallen würde. Vielleicht würde das schwarzweiße Tier gehen, doch der Hengst ignorierte Merins Hand.
Seufzend trat er zurück. „Ich muss nachdenken. Seid Ihr so freundlich und führt mich durch die anderen Ställe?“
Merin wollte das restliche Angebot betrachten, bevor er sich entschied. Piernan übernahm buckelnd die Führung. Er glaubte wohl, sich Chirogans Missfallen zuzuziehen, und Merin sah es nicht als seine Pflicht, den Mann darüber aufzuklären, dass der König sich zwar ein Pferd wünschte, aber keineswegs deshalb zum Tyrannen werden würde.
Piernan erzählte viel über die Ställe und nach welchem Prinzip die Pferde darin untergebracht wurden, doch Merin hörte kaum zu. Eine große Koppel abseits der Ställe weckte zum ersten Mal sein Interesse. Auf der weiten Fläche standen lediglich drei Pferde.
„Was ist mit diesen?“
„Oh. Oh das, das sind die Irish-Moon!“, stotterte Piernan. „Nicht zu verkaufen, unter keinen Umständen, nicht an eine so wichtige Person wie den König!“
„Schon gut!“, sagte Merin und hob die Hand er trat an den Zaun, der ungewöhnlich hoch war. Zwei Mannslängen noch an der niedrigsten Stelle.
„Ich habe nur niemals Irish-Moon gesehen“, entschuldigte er sich bei dem Verkäufer. Piernan nickte.
„Wunderbare Tiere. Aber so stolz.“
„Und niemals gezähmt“, fügte Merin hinzu. „Wie habt ihr diese eingefangen?“
„Viel Glück“, meinte Piernan und schien nicht gewillt, mehr zu erzählen. Merin vermutete eine grausame Geschichte. Irish-Moon waren rachsüchtig und unberechenbar. Die drei Tiere standen auf der anderen Seite der Koppel, pechschwarz das eine, feuerrot das nächste und der dritte hellbraun mit weißen Flecken wie Schnee auf einem niedrigen Berg. Sie hatten die Köpfe gehoben und starrten herüber, eindeutig intelligent. Merin trat bald zurück.
Die Führung ging auch am Zuchtplatz vorbei. Dort sah Merin ein einzelnes Pferd auf einer winzigen Koppel. Er lenkte seine Schritte dorthin und Piernan folgte.
Es war ein junger Hengst, das erkannte Merin schon aus der Entfernung. Ein hellbraunes Pferd mit einer langen Blesse auf der Stirn und weißen Fesseln. Das Tier richtete neugierig die Ohren auf und kam näher getrottet. Es hatte einen leichten Gang und seine dunklen Augen funkelten.
„Wem gehört er?“, fragte Merin, der keine Namensplakette und kein Brandzeichen erkannte, nur den Ring um den Vorderhuf, der anzeigte, dass das Tier ausgebildet war.
„Eine Zucht, die nicht zufriedenstellend war“, erklärte Piernan. „Der Besitzer, ein reicher Graf, hat ihn aufgegeben. Er versuchte, Rennpferde mit Mustangs zu kreuzen.“
Merin streckte die Hand aus und der junge Hengst knabberte an seinen Fingern. Unwillkürlich musste der Botschafter lächeln. „Er ist ein Mustang?“
„Wohl zu sehr Mustang, um sich als Rennpferd einsetzen zu lassen.“ Piernan nickte. „Wollt Ihr ihn?“
„Ja“, sagte Merin, ohne nachzudenken. Vom ersten Blick an hatte er gewusst, dass das kleine Pferd ihm gehören musste. Sogar den Namen kannte er schon: Wildfang. Denn dem jungen Tier lag die Wildheit im Blut. Ein Tier, das furchtlos auf die Gefahr zustürmen würde, solange es nur seinem Reiter vertraute. Merin rühmte sich selten seiner Fähigkeiten, doch er erkannte den Charakter eines Pferdes auf den ersten Blick. Und Wildfang war das perfekte Tier für ihn, das schnelle, mutige Pferd eines Kundschafters und Boten. Eines Waldläufers.
„Ihr könnt ihn umsonst haben. Er ist nichts wert und ich werde von den Mannen des Königs nichts verlangen.“
Der katzbuckelnde Piernan holte Merin zurück in die Realität. Was kaufte er sich hier ein Pferd, solange er noch kein Reittier für Chirogan hatte? Sollte er mit dem Kundschafter-Mustang zurückkehren? Praktisch mit leeren Händen?
Wie betäubt nahm er das Halfter entgegen und schlang es um Wildfangs Hals. Er sprang ohne Sattel auf den Rücken und ritt ein Stück. Wildfang lief ein wenig unregelmäßig, ungeduldig. Er sehnte sich sichtlich nach einem Galopp. Doch das konnte Merin sich nicht erlauben. „Kann ich ihn eine Weile hier stehen lassen?“, bat er Piernan.
„Dort oben ist die Koppel für verkaufte Tiere.“ Piernan deutete auf einen kleinen Hügel direkt hinter der hölzernen Statue des Niem. Der Hügel lag mitten in Niemhain und war von allen Ställen aus zu sehen. „Führt ihn dort hin und auf dem Weg zeige ich Euch die Reitponys.“
Als Wildfang auf die neue Koppel trabte, begann es zu regnen. Der halbe Mustang störte sich wenig daran, doch Merin dachte sorgenvoll daran, dass er noch bis zum Schloss würde reiten und dann noch den Weg über die Brücke finden müsste, die sich gerade erst im Aufbau befand. Mit neuem Zeitdruck folgte er Piernan zu den vorletzten Ställen, wo die Warmblüter standen.
Hier war sie. Merin strauchelte im Eingang, denn sie reckte den schlanken Hals bereits über das Gatter ihres Stalles und sah ihm erwartungsvoll entgegen. Eine Stute, weiß wie Schnee, mit dem schlanken Körperbau eines Vollblutes, wenn auch deutlich kleiner. Ihre Augen waren sanft und bedächtig, ein Pferd, das seinen Reiter vor jeder Gefahr retten würde, ihn nie ein Risiko eingehen lassen würde – das perfekte Pferd für einen Draufgänger wie Chirogan!
Merin trat an das Gatter und las den Namen. Tiptoe. Nein, kein Name für ein Königsross. Er streichelte ihren weichen Nüstern, prüfte ihre Zähne. Fast zu gut, um wahr zu sein. Wäre sie kein Warmblut, dann hätte man das Pferd sicher schon zu Chirogan gebracht. Er nahm ihr Halfter und holte sie aus dem Stall.
„Ich will sie rennen sehen“, verkündete er Piernan, der ihn fragend ansah. Er fühlte sich wie im Traum. Dieses Pferd, dieses und kein anderes! Er war sich ebenso sicher wie zuvor mit Wildfang.
„Ihr wollt ein Warmblut für den König?!“
Merin nickte.
Piernan führte die Stute nach draußen und ließ sie auf einem freien Platz im Kreis laufen. Schritt, Trab, Galopp – das Tier bewegte sich fließend und bedächtig. Sie war aufmerksam und klug. Als in einer Entfernung ein Knall ertönte – vielleicht ein unruhiges Tier, das gegen Holz getreten hatte – blieb sie stehen, lauschte und witterte, ruhig, aber angespannt.
„Ich nehme sie“, sagte Merin. Piernan folgte ihm zu der Koppel, auf der schon Wildfang stand und am Holz nagte.
„Und einen Esel“, fiel es Merin ein. „Ich werde auch einen Esel nehmen. Gebt mir ein ruhiges Tier, das keine Probleme macht. Es muss nicht stark oder schnell sein.“
Piernan nickte, wenig später wechselte Gold den Besitzer. Merin erstand auch zwei Namensplaketten, um Wildfang zu benennen und Tiptoe einen neuen Namen zu geben.
„Sturmtänzerin“, murmelte er. Ein langer Name, aber der Klang gefiel ihm. Chirogan und Sturmtänzerin, das ließ sich bei einem Turnier gut rufen. Er ging zum Schmied, ließ die Plaketten beschriften und befestigte sie dann eigenhändig in der Mähne der Rosse. Wildfang versuchte, das Band zu lösen, Sturmtänzerin warf nur den Kopf hoch. Merin lächelte.
Piernan kam an, diesmal führte er einen Esel an einem Strick hinter sich her. Das graue Tier wirkte entgegen der verbreiteten Ansicht über seine Art nicht störrisch.
„Das ist Capricorn. Mein ganzer Stolz.“
Merin nahm ihn entgegen. Mit drei Pferden auf der Koppel wurde es langsam eng.
„Ich nehme Wildfang direkt mit“, entschied er. „Für Sturmtänzerin möchte ich Zaumzeug und die ganze Ausstattung, die beste Qualität, die Ihr habt.“
„Selbstverständlich ohne Aufpreis.“ Piernan nickte.
„Für den Esel ein paar Taschen und ein Halfter, das sollte genügen.“
„Wann kommt Ihr wieder?“
„Morgen“, sagte Merin. „Vielleicht auch nicht alleine.“
Denn die Sonne stand schon tief am Horizont und noch waren lange nicht alle Straßen beleuchtet. Der Weg zum Schloss war voller trügerischer Fallen: Die Kluft, die unbefestigten Wege, die unfertige Brücke. Ein Weg, den Sturmtänzerin nicht im Dunkeln gehen würde. Merin streichelte Wildfang und schwang sich auf den Rücken des hellbraunen Halbmustangs.
„Morgen wird alles bereit sein“, versprach Piernan und öffnete das Gatter, damit Merin hinausreiten konnte.
Der Ritt auf Wildfang war keine Überraschung. Merin hatte gewusst, dass es herrlich werden würde. Der junge Hengst griff weit mit den Hufen aus, flog dahin ohne Furcht vor der Dunkelheit und ihren Schlaglöchern. Das Halbblut war schnell und trug seinen Reiter über das hügelige Land, von den Ställen hin zu den Festungen der Monsterjäger, wo sich endlich auch das Schloss auf einem bewaldeten Berg erhob.
Merin lachte in den Nachtwind hinein. Wildfang fürchtete sich nicht davor, zu stolpern. Ein mutiges, ein rücksichtsloses Pferd, ganz so, wie Merin es nicht mehr war. Er klammerte sich an die braune Mähne und schwankte zwischen Freude und Sorge – denn wenn Wildfang stolperte, konnte er sich alles brechen. Sie könnten in der Finsternis auch verpassen, der Kluft auszuweichen, und dann würden Ross und Reiter in die Schlucht fallen und sterben.
Aber Merins Orientierungssinn ließ ihn nicht im Stich und sie ritten um die Schlucht herum, dann ging es einige Hügel hinauf zur Festung der Krone, die nur aus einem groben Fundament bestand. Über eine Brücke ohne Geländer ging es zur nächsten Feste, der noch das Dach fehlte. Durch den Berg gehauen führte eine breite Straße nach oben, dann ein Stück an der Seite des Berges hinauf zu der Baustelle, die der Palast des Königs werden sollte.
Merin trieb Wildfang auch die letzte Treppe hinauf, dann durch die Gänge des Unteren Palastes, wo immerhin schon ein Dach stand. Die Treppen in dem Gebäude fehlten noch, der Thronsaal und viele Gemächer waren noch lange nicht fertig. Doch der Stall stand, ein kleines Gebäude an dem Rundgang des Unteren Palastes. Merin brachte Wildfang in den ersten Stall und suchte dann Chirogan.
Der Untere Palast wand sich ringförmig um den Berg. Auf dem Berg selbst wurde am Thronsaal gearbeitet, dem Herzstück des Oberen Palastes, in dessen höchstem Zimmer Chirogan wohnen würde. Der Untere Palast bot nur Platz für den Stall, sowie ein paar ruhige Zimmer mit einem wunderbaren Blick auf das Land, das sich vor ihnen erstreckte, dem Wald im Osten und den wachsenden Festungen im Westen.
Chirogan saß an der Nordseite des Palastes und sah in die Richtung, in der das große Meer lag. Er sah auf, als Merin eintrat.
Der fröhliche Mann mit den hellbraunen Locken grinste breit und sprang auf. „Merin! Du warst so lange fort! Hast du ein Pferd gefunden?“
Über Merins blasses, von dunklen Haaren eingerahmte Gesicht huschte ein Lächeln. Er ergriff in vertrauter Geste die Hände seines Königs. „Chiro, ihr werdet es mir nicht glauben. Ein Warmblut habe ich gefunden, aber sie ist perfekt! Ihr werdet sie lieben, mein König. Sturmtänzerin habe ich sie genannt. Sie ist weiß wie frisch gefallener Schnee, ganz wie Ihr verlangt habt. Und ihr Gang erst!“
Chirogan lachte und schlug Merin auf den Rücken: „Ist sie hier? Hast du sie mitgebracht?“
Merin schüttelte den Kopf. „Nur mein eigenes Tier, Wildfang. Ich dachte mir, Ihr wollt morgen gerne einen Proberitt machen.“
Chirogans Augen leuchteten auf. „Oh ja, gerne! Ich werde hier drinnen noch wahnsinnig!“
Merin nickte wissend. „Morgen holen wir Eure Sturmtänzerin.“
„Aber zuerst musst du mir Wildfang vorstellen!“, verlangte Chirogan. Merin musste breiter grinsen. All die Jahre, und Chirogan war durch irgendeinen Zauber genau der Gleiche geblieben!