Nürnberg, 09.04.1808
Die Sonne stand bereits hoch, als Faust seine Augen öffnete. Empfangen wurde er von der kalten Steindecke seines Zimmers, die Tag für Tag genau gleich grau über ihm hing. Er setzte sich auf und blickte in den Raum. Seine Wohnung war eher karg eingerichtet, es gab nur sein Bett, Bücherregale an den Wänden und seinen Schreibtisch in der Mitte des Zimmers. Eine Küche hatte er keine. Wozu auch? Mit dem Kochen hatte er sich nie befasst. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, was nach langen Nächten normal war, dann ging er zur Tür. Auf dem Weg sah sich Faust noch einmal das Deckblatt von Wagners Arbeit an. Er schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg. Auf den Straßen Nürnbergs fand er nichts, das ihn weiter interessierte. Häuser, teils modern, teils aus früheren Jahrhunderten, säumten die Straßen. Ein Haus reihte sich an das Nächste, alle hatten die gleichen, roten Dächer. Ebenso die Menschen, die ihm die Stadt zeigte. Mann, Frau, Junge, Mädchen, Greis oder Kind. Sie waren ebenso gleich wie die Stadt selbst. Sie sahen vielleicht verschieden aus, aber im Fluss der Bewegung, im Kollektiv, waren sie wie Ameisen.
„Guten Tag, der Herr“, grüßte ihn ein Mann, der an einem Stand Zeitungen verkaufte.
Skeptisch trat er näher.
„Neuigkeiten?“, fragte Faust, ohne den Mann anzusehen. Er fixierte das Titelblatt, das ihm nicht sonderlich viel Auskunft gab.
„Ostpreußen und der Rheinbund verhandeln, der Franzmann will den Reußen treffen.“
„Ja, eine Reihe neuer Gesetze wurde auch...“, setzte der Verkäufer an.
„Verstehe“, unterbrach der Doktor ihn und ging weiter.
Er machte keinen besonderen Hehl aus der Tatsache, dass er die Politik für lächerlich hielt und sie auch vor anderen gern eine Farce nannte. Er verstand auch nicht, dass andere Menschen sich so sehr über den Rheinbund und die Napoleon-Herrschaft aufregten. Welche Rolle spielte es denn, ob der Tyrann, der regiert, Deutsch, Französisch oder Dänisch sprach? Nach einigen Minuten des Gehens, in denen er über die Sinnlosigkeit so vieler Dinge nachdachte, blickte er auf. Vor ihm erhoben sich die beiden Türme der Kirche St. Lorenz in den Himmel, die Kirchenglocken läuteten sieben Male.
„Diese Pfaffen haben keine Ahnung, verstehen nicht, wollen es auch nicht, aber geben vor, den wahren Weg zu kennen. Lächerlich!“, murmelte er, während er den Blick über den Vorplatz schweifen ließ. Menschen sammelten sich zum Gebet oder auch einfach nur für das Gespräch. Als er sich weiter umschaute, merkte er, dass man von St. Lorenz aus sogar die Spitze der Nürnberger Burg sehen konnte.
„Aber die dort oben sind nicht besser...“, sagte er, nun etwas lauter, und stapfte davon.
Als er die Tür öffnete, wurde er von einer Vielzahl verschiedener Gerüche empfangen. Die meisten, da war er sich sicher, mochte er nicht. Er konnte den ganzen Ort nicht leiden. Voll von betrunkenen Ignoranten, die nur die körperliche Befriedigung kennen und erstreben. Es war ihm so zuwider, hier zu sein, doch er konnte sich nicht die Blöße geben, nicht zu kommen. Es war bald Semesterende und die Studenten, viele davon seine Schüler, mussten diese Gelegenheit nutzen, sich diesen ´Genüssen´ hinzugeben.
„Herr Professor ist hier!“, schrie einer in der Menge. Einige andere grölten laut.
Der Doktor wendete sich ab und ging auf die Theke zu. Er schaute noch einmal hinter sich zu den jungen Männern, machte einen abfälligen Kommentar und wandte sich an den Kneipenwirt.
„Bert“
„Heinrich, mein Freund! Du hier? Wie komme ich zu der Ehre?“, fragte dieser.
„Warum fragst du nicht die da?“, antwortete er und deutete über seine Schulter. Er seufzte.
„Heinrich, was bedrückt dich?“
„Es ist nicht, dass es mich bedrückt, Bert, aber ich habe mich sattgesehen an Ignoranten wie dir, mir, denen da, den Pfaffen, dem Adel und all den Blendern und Quacksalbern, die denken, sie wüssten etwas. Aber sie wissen nichts!“
Der Wirt war kurz still, dann begann er erneut: „Heinrich, vielleicht bist du der größte Ignorant von uns allen. Vielleicht geht es gar nicht darum, alles zu begreifen. Vielleicht ist es nicht jedermanns Ziel, ein Gott zu werden.“.
„Ich will ja gar kein Gott werden, aber...“, warf er ein.
„Vielleicht sollte man das Leben mit dem füllen, was einem Freude bereitet. Sei es Ansehen, Geld, sei es Wissen oder ganz einfach die Feier! Schau mich an, Heinrich. Wann hattest du das letzte Mal wirklich Freude? Vor einer Woche? Einem Monat? Jahren? Wenn ich dich ansehe, schaue ich in das Gesicht eines Menschen, der so zerfressen ist von einem Drang, dass er den Blick auf das Wesentliche verliert. Deine Freunde, Faust! Deine Arbeit! Wagner!“
Er wusste nicht, wie er hätte antworten sollen. Bert hatte Recht, und das wusste er auch. Aber Bert hatte auch Unrecht. Ein Mensch des Lebens und der Genüsse kann wohl nicht verstehen, was in seinem Kopf vor sich geht.