Als wir am nächsten Morgen mit der Beseitigung des Chaos in Kais Haus fertig waren, machte mich auf den Weg nach Hause. Ich erwartete eigentlich nicht, meine Mutter dort anzutreffen, doch als ich unser Haus betrat, stand dort nicht nur sie, sondern auch mein Großvater, der mich anstrahlte.
Meine Mutter erklärte mir eher beiläufig, während sie gestresst mit einer Reisetasche durch den Flur lief, dass er einige Tage bleiben würde, weil sie auf eine Tagung müsse. Offenbar machte es für sie tatsächlich einen Unterschied, dass sie deswegen auch über Nacht weg war. Für mich spielte es eigentlich keine Rolle, denn nachts fiel mir ihre permanente Abwesenheit beinahe gar nicht auf. In den letzten Tagen hatte ich sie kaum zu Gesicht bekommen und verbrachte deshalb ohnehin einen Großteil meiner Zeit bei Kai und Ray.
Dass nun aber mein Großvater da war, freute mich. Kaum war meine Mutter gestresst aus dem Haus gestürmt, machten auch wir uns auf den Weg in Luks Café und es war reiner Zufall, dass wir dort auf die Jungs trafen, noch bevor ich die Gelegenheit hatte, sie anzurufen.
Ray lächelte direkt freundlich, als wir uns zu ihnen stellten. „Hallo Mr. …“
„George.“ Opa klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. „Hi, Ray. Hallo, Kai.“
Kai reagierte nicht. Er saß, scheinbar in Gedanken verloren, vor seinem Kaffee und Ray musste ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt verpassen, damit er endlich aufschreckte.
„Oh“, stieß er aus. „Mr. Klieve.“
„Wir waren doch von Anfang an beim Du, oder nicht?“ Mein Großvater setzte sich neben ihn an den Tisch und grinste. „Zu gute Manieren.“
Ich ließ mich ebenfalls an den Tisch sinken und warf Ray einen schmunzelnden Blick zu. Kai und gute Manieren? Naja, wenn man mal genau darüber nachdachte, mochte das vielleicht sogar stimmen.
Er war ruhig und verschlossen, auch oft ruppig, aber insgesamt schien er tatsächlich zu wissen, in welchen Situationen er sich wie verhalten musste. Also eher berechnende gute Manieren? Ja, das passte schon eher.
Kaum nahmen wir am Tisch Platz, erschien ein strahlender Lukasz neben uns. „Kaffee?“
Ich nickte beinahe nebenher, wollte aber in erster Linie die Gelegenheit nutzen, ihn mit meinem Großvater bekanntzumachen.
„Opa“, sprach ich ihn also an. „Das ist Lukasz Evan-Jones.“
Die beiden warfen sich ein diskretes Lächeln zu und verfielen in einen Smalltalk, in dem Luk auch binnen kürzester Zeit das Du angeboten wurde. Das wunderte mich nicht, denn Luk trat wie immer sehr sympathisch auf.
„Lukasz, du bist also auch ein Freund meiner Enkelin?“
Dieser stutzte kaum merklich und warf mir einen verunsicherten Blick zu. Wir dachten offenbar dasselbe. Waren wir Freunde? Nun ja, ich verbrachte mit Kai und Ray den Großteil meiner freien Zeit in seinem Café. Auch war er auf Kais Geburtstagsfeier eingeladen gewesen und mit Van verband ihn auf jeden Fall eine tiefe Freundschaft, weshalb es also durchaus naheliegend war. Aber waren wir wirklich schon an dem Punkt, uns Freunde zu nennen?
„Ja, ist er.“
Überrascht über diese Antwort, sahen wir beinahe alle zu dem, der sie gegeben hatte.
Opa wirkte ganz besonders verwundert, als Kai ihn selbstsicher ansah, wandte dann aber den Blick wieder von ihm ab und Luk erneut zu. „Darf ich fragen, wie alt du bist?“
Auch Luk riss sich von Kai los und lächelte. „Sechsundzwanzig.“
Mein Großvater nickte monoton und grinste dann zu mir herüber. „Mir scheint, dass deine Freunde immer älter werden. Van ist doch ungefähr im gleichen Alter, nicht wahr?“
Spielte das wirklich eine Rolle? Van und Luk wirkten zwar allgemein etwas älter und reifer, aber im Umgang schadete es uns nicht.
„Luk ist doch noch jung, wenn man bedenkt, dass er dieses Café leitet“, bemerkte ich also, um auf das Positive hinzudeuten.
„Ich habe es geerbt“, fügte Luk selbstsicher hinzu. „Es war eine Herausforderung, aber es klappt gut.“
Mein Großvater nickte ihm anerkennend zu. „Schön, dass du das geschafft hast.“
Es war leicht, ihn von etwas Gutem zu überzeugen, wenn er anfing, etwas Schlechtes zu sehen. Wobei ich es überhaupt nicht schlimm fand, dass Luk etwas älter war.
„Hallo zusammen.“
Dass ich nicht zusammenzuckte, war auch alles, als ich Jess‘ Stimme vernahm. Ich sah zu ihm auf und er lächelte freundlich in die Runde. Was zum Geier wollte er? Er hielt eine Tasse in der Hand. Offenbar saß er schon die ganze Zeit über an der Theke, doch ich hatte ihn nicht bemerkt.
Einen kurzen Moment erwiderte niemand etwas. Kai und Ray schienen nicht zu verstehen, was er an unserem Tisch wollte. Opa und Luk lächelten bloß freundlich, aber distanziert.
Weil er mit Schweigen gestraft wurde, beschloss Jess, die Stille zu durchbrechen. Er streckte die Hand höflich in Opas Richtung und setzte sein charismatisches Lächeln auf. „Mein Name ist Jess McKeown. Ich bin ein Freund von Douphne.“
Verflucht. Konnte er nicht einfach den Mund halten? Wie sollte ich das bitte den Jungs erklären?
„Du bist was?“ Kai starrte ihn ungläubig an. Es platzte aus ihm heraus und klang äußerst abfällig.
Ich saß nun deutlich in der Zwickmühle. Abstreiten konnte ich es nicht, obwohl es natürlich der Wahrheit entsprochen hätte. Aber würde er dann auch weiterhin Rays Geheimnis bewahren? Ich konnte mir dessen einfach nicht sicher sein, also blieb mir wohl nicht wirklich eine Alternative.
„Ja, Jess ist ein Freund von mir“, log ich.
Dass ich mich dabei schlecht fühlte, muss ich wohl kaum erwähnen. Mir gefiel es nicht, meine Freunde anzulügen, aber Rays Geheimnis zu wahren, war mir wichtiger.
„Wann ist das denn passiert?“ Kai starrte mich kühl an und völliges Unverständnis lag in seinem Blick. „Er ist doch erst seit ein paar Tagen in der Stadt.“
Ich wusste, dass er es nicht verstand. Er sah es nicht ein, hatte ein Problem damit und ich konnte diese Reaktion wirklich nur zu gut verstehen. Trotzdem musste ich ihm standhalten und eine Sache verteidigen, die mir selbst zuwider war.
„Einige Menschen schließen halt schneller Freundschaft, als du“, murmelte ich knapp und zwang mich, Jess nett anzusehen.
Ich musste es irgendwie glaubhaft erscheinen lassen.
Mein Großvater schüttelte schließlich seine Hand, obwohl ich ihm die Verwunderung über die plötzliche Anspannung in der Luft deutlich anmerken konnte. „George Klieve.“
„Es freut mich sehr, George.“
Zu gerne hätte ich Jess abgewiesen, ihn davongejagt. Er schlich sich mit dieser aufdringlich freundlichen Art in mein Leben und eigentlich schien ihn jeder zu durchschauen. Aber es war nun an mir, ihn künftig zu verteidigen.
Eine Weile später schlenderten wir alle gemeinsam durch den Park, weil Opa eine Überraschung angekündigt hatte. Naja, fast alle. Luk, der Glückliche, konnte im Café bleiben und musste sich das schleimige Verhalten von Jess nicht länger mitansehen. Meinen Großvater schien das nicht zu stören. Er schien es nicht so zu empfinden und verstand sich deshalb außerordentlich gut mit ihm. Ray schloss sich ihnen an und beobachtete kritisch Jess‘ Verhalten. Auch er konnte sich aus seiner Anwesenheit keinen Reim machen, schien es aber wesentlich gelassener aufzunehmen, als Kai.
Sie bemerkten durch ihr Gespräch nicht, dass Kai mich mit Nachdruck ausbremste, um etwas zurückzufallen. Er zögerte nicht lange, um mich anzusprechen.
„Jess ist also innerhalb der letzten sechs Tage ein Freund von dir geworden.“ Er lief langsam neben mir und vergrub die Hände in den Hosentaschen.
Noch immer war er angespannt und ich wusste nicht, wie ich das beheben sollte.
„Bitte nicht jetzt, Kai“, bat ich ihn nur und seufzte.
„Wie du möchtest.“ Er klang nicht wütend, eher neugierig, aber auch bestimmt. „Dann erklärst du es mir ein anderes Mal.“
Das hatte ich befürchtet und mir graute davor, ihm tatsächlich zu gestehen, dass Jess aufgrund meiner Dummheit nun von Rays Geheimnis wusste.
„Oder gar nicht?“ Ich hoffte, ihn umstimmen zu können, doch ich kannte die Antwort bereits.
„Oh doch.“ Er warf mir einen verheißenden Blick zu. „Das wirst du mir erklären müssen.“
Ich seufzte erneut, als mein Großvater plötzlich stehenblieb und sich zu uns umdrehte. „Da ist meine Überraschung.“
Er strahlte und deutete mit einem Nicken auf eine Person, die einige Meter entfernt von uns stand. Sie lehnte locker an dem Baum, mit den Händen in den Hosentaschen und gesenktem Blick. Obwohl mich Opas Strahlen hätte mitreißen müssen, empfand ich keine Freude, als ich Alex erkannte. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals beim Anblick von jemandem so emotionslos gewesen zu sein.
Vielleicht hing es damit zusammen, dass das Gefühl der Enttäuschung langsam aber sich in mir aufflackerte. Nach Matts Übergriff auf mich, rief ich Alex noch in derselben Nacht an. Er wimmelte mich jedoch ab, weil es ihn störte, dass er durch meinen Anruf geweckt wurde. Dieser Augenblick, dieses Gefühl … Ich konnte es einfach nicht vergessen. Der Schmerz und die Enttäuschung, die ich gefühlt hatte. Die Einsamkeit. Diese unglaubliche Verletzlichkeit.
Alex hob den Kopf, als Opa ihm enthusiastisch zurief. Er kam geradeswegs auf mich zu und strahlte mich an, als wäre niemals etwas vorgefallen. Als wäre nie auch nur ein böses Wort zwischen uns gefallen. Als würde es keine Rolle spielen, dass er mich im Stich gelassen hatte.
Noch bevor er mich allerdings in die Arme schloss, blieb er vor mir stehen und sein Blick fiel auf die Jungs. Skeptisch und eine Spur verstimmt.
„Ihr seid also Freunde geworden?“ Er nickte Ray knapp zu, warf Kai einen nichtssagenden Blick zu und beäugte dann Jess besonders misstrauisch. „Und du bist?“
Ich fand meine Sprache in diesem Moment wieder und versuchte zu vermeiden, dass Jess noch mehr Unruhe stiftete, indem er die Sache besonders aufbauschen würde. „Ein Freund.“
Alex wirkte überrascht. Egal, wie es zwischen uns gerade stand, er kannte mich gut. Er wusste, dass Jess, schon alleine wegen seines eher arroganten Auftretens, nicht unbedingt zu den Leuten gehörte, mit denen ich mich früher angefreundet hätte. Allerdings wurden nun auch Kai und ich Freunde und das hatte Alex bestimmt auch nicht kommen sehen. Genau diese Tatsache stellte ich schmunzelnd und selbstzufrieden fest, als gäbe es nichts Wichtigeres, als dass Alex im Unrecht war.
„Ja, das verdauen wir auch noch“, bemerkte Ray, der Alex´ misstrauischen Blick bemerkte.
Ich gab mir Mühe, meine guten Manieren nicht zu verlieren. „Jess, das ist Alexander Matthews.“
„Ihr bester Freund“, fügte der aufdringlich hinzu, als müsste dieser Fakt auf jeden Fall klargestellt werden.
Nun, musste er nicht. Wirklich nicht. Vor allem nicht vor Jess.
Ich senkte den Blick und hoffte, dass niemand meine fehlende Freude über Alex‘ Besuch bemerken würde. Noch nie war ich so froh darüber, dass man meine Gedanken nicht lesen konnte. „Wo ist Gary?“
Es war eher ein Akt der Höflichkeit, nach ihm zu fragen. Es interessierte mich nicht wirklich, aber ich wollte dringend vermeiden, dass ein peinliches Schweigen entstand.
„Bei seiner Freundin.“
Das war’s? Die ganze Antwort? Mehr hatte er nicht dazu zu sagen?
„Ich wusste nicht, dass er eine hat“, setzte ich deshalb hinzu, obwohl auch diese Tatsache mich nicht kümmerte.
„Woher auch?“
Und da war es. Dieser Unterton, der mir trotz meiner eigenen, kühlen Art einen Stich versetzte. Es klang eindeutig schroff und nichts anderes. Als würde Alex nicht darüber reden wollen. Als würde es mich nichts angehen. Er fühlte sich von meinen Fragen offenbar gestört und ganz plötzlich störte seine bloße Anwesenheit mich dadurch nun noch wesentlich mehr.
Tief im Inneren kam mir ein Gedanke. Ich hätte nie gewagt, ihn laut auszusprechen, aber er war da und ließ mich nicht mehr los. Alex Matthews war seit Kindertagen mein bester Freund. Nun wollte ich nur noch, dass er endlich verschwand.
Mir war also egal, warum Alex sich in diesem Augenblick so verhielt. Ob er es wegen Kais Anwesenheit tat? Wollte er sich vor ihm aufspielen? Den Kühlen mimen? Es spielte keine Rolle.
„Ja, woher auch …“, murmelte ich nur leise und wandte mich ab.
Jess‘ Blick streifte mich kurz, doch auch ihn ignorierte ich nun. Meine kleinen, langsamen, aber betonten Schritte führten mich geradewegs zu Ray. Bei dem hakte ich mich ein und zog ihn mit mir, noch bevor dieser Fragen stellen konnte.
Alex meldete sich so gut wie nie. Plötzlich tauchte er auf und schien zu erwarten, dass alles beim Alten sein würde. Das war es nicht. Schon lange nicht mehr. Vor allem nicht mehr, seitdem ich zwangsläufig hatte lernen müssen, ohne ihn zurechtzukommen.
Ich hatte mich verändert. Er ebenfalls. Die Situation, die Umstände. Einfach alles hatte sich geändert.