„Dein bester Freund ist verschwunden, wie kannst du da essen?“, verlangte Hermine von Ron zu wissen. Sie konnte nicht fassen, dass er seelenruhig das Festessen in sich hinein schaufelte, während von Harry weiter jede Spur fehlte. Sie hätte wissen müssen, dass etwas nicht richtig war, als er bei der Ankunft in Hogsmeade immer noch nicht wieder aufgetaucht war. Wo hatte er sich mit dem Unsichtbarkeitsmantel hinschleichen wollen? Hatte die verspätete Ankunft von Draco Malfoy etwas damit zu tun?
„Er ist schon wieder voller Blut“, hörte sie da Ginny sagen, die Harry endlich am anderen Ende der Großen Halle erblickt hatte: „Warum ist er immer voller Blut?“
Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte Hermine am liebsten gelacht. Die Frage war tatsächlich berechtigt: Wie schaffte Harry es nur, sich ständig in solche Schwierigkeit zu bringen? Doch sie kam nicht dazu, ihn genauer zu fragen, was geschehen war, denn in diesem Moment erhob sich Dumbledore, um seine alljährliche Rede zu halten. Hermine war nicht überrascht, dass er sehr ausführlich über Voldemort und die schrecklichen Folgen, die es haben würde, wenn man seinen Verlockungen folgte, sprach, doch als er schließlich zur Seite trat, um die neuen Lehrer für dieses Schuljahr vorzustellen, stockte ihr der Atem.
„Snape ist jetzt Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste?“, brach es überrascht aus ihr heraus: „Harry, ich dachte, du hast gesagt, dass Dumbledore Professor Slughorn für die Stelle rekrutiert hat. Wieso unterrichtet der jetzt Zaubertränke?“
„Ich weiß auch nicht“, murmelte Harry, der weniger überrascht und viel mehr wütend dreinschaute: „Ich habe es einfach angenommen, weil ich mir nichts anderes vorstellen konnte. Wie kann Dumbledore nur so blind sein? Snape hat doch schon seit Jahren darauf spekuliert! Er liebt die dunklen Künste!“
„Er ist immer noch Professor hier, Harry“, ermahnte Hermine ihn streng: „Und Dumbledore vertraut ihm, also solltest du das auch tun.“
Ehe sie weiter sprechen konnte, beendete Dumbledore das Abendessen und Hermine erinnerte sich an ihre Pflicht als Vertrauensschülerin. Rasch eilte sie zu dem Ausgang, um die kleine Schar Erstklässler um sich zu sammeln, damit sie ihnen den Weg hoch zu den Schlafgemächern zeigen konnte.
***
„Also ist jawohl offensichtlich, dass Malfoy ein Todesser ist! Er hat diesen Sommer das Dunkle Mal erhalten!“
Leise, aber energisch hatte Harry auf dem Weg zum Frühstück am nächsten Morgen Hermine das erzählt, was er am Abend bereits zu Ron gesagt hatte: Dass er Draco Malfoy im Zug belauscht hatte und mitbekommen hatte, wie dieser damit geprahlt hatte, einen Auftrag von Voldemort erhalten zu haben.
„Aber er wollte doch offensichtlich nur vor Parkinson angeben, meinst du nicht?“, warf Ron ein. Hermine zögerte. Nach allem, was Lucius Malfoy über seinen Sohn gesagt hatte, war der sehr versessen darauf, Voldemort zu beweisen, dass er zu mehr taugte als sein Vater.
„Nun ja“, sagte sie unsicher, „ich weiß nicht … es würde Malfoy ähnlich sehen, sich wichtiger zu machen, als er eigentlich ist … Aber so was zu behaupten ist schon eine dicke Lüge.“
„Genau!“, stimmte Harry ihr zu, doch sie kamen nicht dazu, ihr Gespräch zu vertiefen, da inzwischen zu viele andere Schüler um sie herum in die Große Halle strömten. Nachdenklich folgte Hermine ihren beiden besten Freunden. Sie fragte sich, ob sie von Malfoy erfahren konnte, ob sein Sohn etwas plante, doch sie bezweifelte, dass er ihr solche Einblicke gewähren würde.
Während Professor McGonagall die UTZ-Stundenpläne mit den übrigen Schülern besprach, hatte Hermine zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Hogwarts am gestrigen Tag Zeit, über ihre neue Situation nachzudenken. Zum ersten Mal gab es nun etwas außerhalb der Schule, was tatsächlich ihre Aufmerksamkeit verlangte. Gewiss, letztes Jahr hatten sie bereits gewusst, dass Voldemort zurückgekehrt war, doch die Bedrohung war wesentlich weniger offensichtlich gewesen. Jetzt, wo niemand seine Existenz mehr leugnen konnte, hatte auch er keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Über kurz oder lang würde es zu einem Krieg zwischen seinen Anhängern und allen, die auf Dumbledores Seite standen, kommen.
Und dann war da noch Lucius Malfoy. Er hatte sich an ihren Befehl gehalten, nicht erneut im Tropfenden Kessel aufzutauchen, doch sie hatte sich bisher nicht wie versprochen bei ihm gemeldet. Sie hatte nicht gewusst, was sie ihm sagen sollte. Die beiden Nächte mit ihm kamen ihr rückblickend wie ein Traum vor, wobei sie sich nicht sicher war, ob es ein guter oder schlechter Traum gewesen war. Sie wusste nur, dass sie ihn definitiv wiedersehen wollte. Nur nicht jetzt sofort. Sie brauchte stets einige Tage, um sich wieder in Hogwarts einzugewöhnen und ihren üblichen Rhythmus wiederzufinden. Außerdem hatte sie vor, sich in den nächsten Tagen einen Plan darüber zu erstellen, wie sie das erhöhte Lernpensum in diesem Schuljahr mit ihren Vertrauensschülerpflichten unter eine Decke bekommen sollte.
„Miss Granger“, wurde sie da von der Seite von Professor McGonagall angesprochen. Überrascht drehte sie sich zu ihrer Lieblingslehrerin um – ihr Stundenplan stand bereits fest und alles war leicht zu klären gewesen, was also konnte sie von ihr wollen: „Ja, Professor?“
„Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass Sie in zwei Wochen Geburtstag haben“, sagte McGonagall: „Sie sind damit Ihren Jahrgangskameraden um einiges voraus, deswegen spreche ich es Ihnen gegenüber direkt an. Mit siebzehn Jahren erreichen Sie die Volljährigkeit und damit verlieren einige der üblichen Schulregeln ihre Gültigkeit für Sie.“
Hermine legte den Kopf schräg – davon hatte sie bisher nichts gehört, obwohl sie sich sicher war, alle Bücher über Hogwarts und seine Regeln zu kennen: „Welche Regeln?“
„Die festgelegten Hogsmeade-Wochenenden gelten nicht für Sie. Wir trauen erwachsenen Menschen zu, dass sie selbst entscheiden können, wann sie ins Dorf gehen. Sie haben also die Erlaubnis, jederzeit, auch unter der Woche, hinunter zu gehen.“
„Und ich dachte, das sei eine Regel für Siebtklässler!“, murmelte Hermine.
„Nun, normalerweise wird es erst im siebten Schuljahr relevant, doch da Ihr Geburtstag Mitte September liegt, sind Sie deutlich älter, als die meisten anderen und erreichen Ihren siebzehnten Geburtstag früher“, betonte McGonagall: „Darüber hinaus gelten für Sie auch keine Ausgangsfristen mehr. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass regelmäßiger Schlaf sehr wichtig für Ihre Gesundheit und Ihre Aufnahmefähigkeit sind, entsprechend rate ich Ihnen, auch diese Regel nicht auszunutzen, doch es steht Ihnen frei, auch nach zehn Uhr noch außerhalb ihres Gemeinschaftsraumes zu sein.“
„Auch außerhalb des Schlosses?“
Nun war es an McGonagall, überrascht zu schauen: „Nun, ja, sicherlich. Wir haben rund um die Uhr Wachen am Haupteingangstor, die Sie jederzeit wieder ins Schloss lassen können. Aber Sie wollen doch nicht andeuten, dass Sie ausgerechnet jetzt … unter diesen gefährlichen Umständen nachts auf dem Gelände herumstreunen wollen?“
„Nein, Professor“, wehrte Hermine schnell ab: „Ich wollte lediglich den genauen Inhalt der Regeln kennen.“
Mit einem skeptischen Blick nickte Professor McGonagall ihr noch einmal zu und widmete sich dann Neville, dessen schlechte Noten in Verwandlung es ihm trotz seines Wunsches unmöglich machen würden, die UTZ-Kurse zu belegen. Hermine wiederum fasste sich grübelnd in ihr Haar. Die Tatsache, dass sie jederzeit, auch nachts, das Schloss verlassen konnte, um nach Hogsmeade zu gehen, war im Anbetracht ihrer Affäre mit Lucius Malfoy sehr willkommen.
„Na, Granger, schöne Ferien gehabt?“, ertönte da hinter ihr die herablassende Stimme von Draco Malfoy. Gegen ihren Willen musste Hermine grinsen: „Oh, durchaus. Ich frage dich lieber nicht nach deinen, denn wir wissen ja alle, wie glücklich du die letzten Wochen gewesen sein musst.“
Malfoys Blick verfinsterte sich, während Hermine mit erhobenem Kinn und immer noch grinsend zu ihm aufblickte. Er war tatsächlich zur Abwechslung alleine unterwegs, was ihm eine Demütigung vor seinen Freunden ersparte, ihn aber nicht weniger selbstsicher werden ließ: „Hüte deine Zunge!“, zischte er sie an: „Du weißt gar nichts über mich. Und ich kann dir versichern, du musst dir keine Sorgen um mein Wohlbefinden machen.“
„Sicher?“, schoss Hermine übermütig zurück: „Vermisst du es nicht, am Rockzipfel deiner Mutter hängen zu können?“
„Ah, ich sehe, wo deine Verwirrung herkommt“, erwiderte Malfoy, nun eher erheitert als wütend: „Du hast die Gerüchte gehört, meine Mutter hätte die Familie verlassen. Das ist nicht ganz korrekt. Sie hat meinen Vater verlassen, was ihr gewiss keiner verübeln kann, aber zu mir hat sie den Kontakt nicht abgebrochen.“
Das war eine interessante Information, wie Hermine befand, insbesondere da sie sich zu fragen begann, ob Lucius Malfoy bewusst war, dass sein Sohn und seine Frau noch immer eine enge Beziehung hatten. Mit vor der Brust verschränkten Armen fragte Hermine: „Und das erzählst du mir warum?“
„Ich will dich warnen, Granger“, sagte er so leise, dass nur sie es noch hören konnte, während er sich gleichzeitig zu ihr runter beugte, „warnen vor der falschen Annahme, dass das Versagen des einen Malfoys bedeutet, dass alle versagen. Das ist definitiv nicht der Fall. Wenn die Zeit kommt und ihr Schlammblüter vor dem Dunklen Lord im Staub kriecht, erinnere dich an meine Worte.“
Ein kalter Schauer rann Hermine den Rücken hinunter: „Warnen? Für mich klingt das eher wie eine Drohung.“
„Da zeigt sich wieder, warum unsere liebste Besserwisserin so viel Lob von den Lehrern erhält“, kam es schneidend von Malfoy: „So klug, unfassbar, wie du das herausgefunden hast. Also“, sagte er lauter, während er sich zum Gehen umdrehte, „sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Zitternd vor Wut starrte Hermine dem jüngeren Malfoy nach. Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, dass Voldemort tatsächlich einen Auftrag an Draco gegeben hatte, doch sein Verhalten sprach Bände. Und wenn Harry tatsächlich richtig interpretiert hatte, was er im Zugabteil belauscht hatte, dann war mit Draco dieses Jahr wirklich etwas im Argen.
***
Nachdenklich saß Hermine auf ihrem Bett und starrte auf das leere Blatt Pergament. Sie wollte einen Brief an Lucius Malfoy schreiben, doch sie scheiterte bereits an den ersten Worten - wie sollte sie ihn anreden? Alle üblichen Floskeln waren einfach jenseits des Möglichen. Mit einem Seufzen beschloss sie schließlich, dass sie sich von so einer Kleinigkeit nicht aufhalten lassen wollte und wählte den schlichtesten Weg:
Lucius!
Ich hatte heute eine interessante Unterhaltung mit deinem Sohn.
Wieder stockte Hermine. Sie wollte ihm unbedingt erzählen, was Draco zu ihr gesagt hatte, doch gleichzeitig musste sie sicher gehen, dass sie ihre Identität nicht verraten würde. Ob Draco wohl mit seinem Vater überhaupt noch redete? Wie viel wusste Lucius Malfoy über das Treiben seines eigenen Sohns?
Er war so freundlich, mich darüber zu informieren, dass er sehr wohl noch guten Kontakt zu seiner Mutter hat. Eine Neuigkeit für dich, nicht wahr?
Erneut unterbrach sie sich. Sollte sie Lucius gegenüber erwähnen, dass Draco zumindest vorgab, einen Auftrag von Voldemort angenommen zu haben? Oder sollte sie lieber zuschauen, wie die Familie Malfoy sich stetig weiter ins Verderben stürzte?
Mir scheint auch, dass er dein Versagen wieder gut machen will. Er prahlt damit, einen Auftrag für den Dunklen Lord auszuführen. Gerüchten zufolge hat er im Sommer auch das Dunkle Mal angenommen - wie kommt es, dass du so wenig über deinen eigenen Sohn weißt?
Nachdenklich biss sich Hermine auf ihrer Unterlippe herum. Sie erinnerte sich daran, wie Lucius erwähnt hatte, dass er befürchtet, dass Voldemort seinen Sohn nutzen könnte, um sich für sein Versagen zu rächen. Steckte das eventuell hinter dem Auftrag? Hatte Draco etwa eine Aufgabe erhalten, die unmöglich zu schaffen war, damit er ebenfalls scheiterte und ebenfalls bestraft werden konnte? Warum sonst sollte Voldemort sich überhaupt mit einem jungen Kerl wie Draco abgeben?
Bist du dir sicher, dass dein Sohn nicht doch ausgenutzt wird? Wenn Draco mein Sohn wäre, würde ich mir Sorgen machen.
Machte sie sich Sorgen um Draco? Kritisch zog Hermine ihre Augenbrauen zusammen. Nein, eigentlich nicht, immerhin hatte er ihr nie Grund gegeben, mit ihm zu sympathisieren. Andererseits hatte er bisher nie etwas wirklich Unverzeihliches getan und niemand hatte es verdient, von Voldemort bestraft zu werden, insbesondere, wenn der Grund für die Strafe schlicht darin lag, der Sohn eines Mannes zu sein, der eine Aufgabe nicht erfüllen konnte.
Dank einer mir bisher unbekannten Schulregel darf ich übrigens unabhängig der offiziellen Wochenenden nach Hogsmeade.
Kurz überlegte sie, noch einen kleinen Satz in die Richtung, dass sie sich bezüglich eines genauen Termins noch einmal melden würde, anzuschließen, doch sie entschied sich dagegen. Ein offenes Ende war für diesen Brief definitiv besser. Zumal sie ja immer noch nicht wusste, ob sie eigentlich wirklich wollte. Hier, zurück in Hogwarts, war ihr kleines Abenteuer mit Lucius Malfoy so weit weg, so unwirklich, dass es ihr beinahe unwahr erschien.
"Hermine, bist du da drin?", erklang es da von dem Gang vor ihrem Zimmer,
Erschrocken fuhr Hermine herum: "Ja, Ginny, warte bitte einen Moment, ich schreibe schnell den Brief zu Ende."
"Na klar. Wollen wir gemeinsam zur Eulerei gehen, dann kann ich meinen Brief an Mama auch direkt losschicken."
Rasch setzte Hermine noch Jean unter den kurzen Text, dann faltete sie den Brief zusammen und versiegelte ihn mit einem Zauber. Außer dem Empfänger würde niemand diesen Brief öffnen können, ohne Gewalt anzuwenden.
"Was gibt's?", erkundigte sie sich sofort, nachdem sie zu Ginny in den Gang getreten war. Gemeinsam schlenderten sie zum Ausgang des Schlosses und hoch zur Eulerei.
"Ich habe nochmal über Harry nachgedacht", fing Ginny langsam an: "Ich finde seine Fixierung auf Malfoy nicht gut."
Hermine nickte: "Ich bin da total auf deiner Seite. Ich meine, selbst wenn er jetzt das Dunkle Mal hat, was will Harry denn tun? Erwartet er von Dumbledore, dass er Malfoy aus der Schule wirft, nur weil er jetzt ein Todesser ist?"
"Er wirkt einfach so blind, wenn es um Malfoy geht", sagte Ginny besorgt: "Blind vor Hass."
"Wobei man ihm das schwerlich verübeln kann", warf Hermine ein: "Malfoy hat sich viel Mühe gegeben die letzten Jahre, Harrys Hass auf sich zu ziehen."
In der Eulerei angekommen, suchte Hermine sich eine Eule aus, die sie schon früher gerne für ihre Briefe genutzt hat. Während Ginny mit ihrer eigenen Posteule beschäftigt war, flüsterte Hermine ihrer zu: "Bring den Brief, den Malfoy dir gibt, direkt zu mir zurück, okay? Wundere dich nicht über den Namen, der Brief ist für mich bestimmt."
Die Eule legte den Kopf schräg und klackerte mit dem Schnabel, als wolle sie Hermine sagen, dass sie ihr nicht zu erzählen hat, wie ihre Arbeit zu machen sein, doch nachdem Hermine ein paar Knabbereien für die Eule hervorgezaubert hatte, flötete sie vergnügt und machte sich zufrieden auf den Weg.
"Fragst du dich nicht auch manchmal, wie die Eulen immer so genau wissen, wo sie hin müssen?", fragte Hermine Ginny, nachdem sie sich am Ausgang wieder getroffen hatten. Ginny jedoch schüttelte nur den Kopf: "Sind halt magische Wesen. Die können das einfach."
"Für jemanden, der mit diesen Tieren aufgewachsen ist, ist das vermutlich wirklich weniger spannend als für jemanden wie mich."
"Zurück zu Harry ... meinst du, wir sollten ihm widersprechen, wenn er das nächste Mal über Malfoy spricht?"
"Ich weiß nicht", meinte Hermine zögerlich. Sie blieb stehen und genoss den Ausblick von der Treppe der Eulerei über die Ländereien von Hogwarts: "Harry kann da ziemlich stur sein. Wenn er der Meinung ist, dass er Recht hat, bringt man ihn davon nicht so schnell ab. Er wird eher nur wütend. Vielleicht ist es sinnvoller, wenn wir Malfoy selbst im Auge behalten. Wenn er nichts Verdächtiges tut, kann Harry ihm gar nichts. Und vielleicht hat Harry ja doch Recht, da ist es umso besser, wenn mehr Leute aufmerksam auf ihn sind."
"Ich halte mal die Ohren offen. In meinem Jahrgang gibt es erstaunlich viele, die ihn attraktiv finden. Von den Slytherin-Mädels sowieso. Vielleicht hört man ja was."
"Die verbotene Frucht des bösen Jungen, jaja", kommentierte Hermine kichernd, doch innerlich zuckte sie bei ihren eigenen Worten zusammen - sie war ja selbst dem Reiz des Verbotenen erlegen.
***
Schnaubend las Hermine erneut den Brief, den sie von Lucius Malfoy erhalten hatte. Sie hätte sich denken können, dass ihre gut gemeinten Worte bei seiner Arroganz abprallen würden.
Verehrte Jean,
ich danke dir für deine Anteilnahme, doch musst du mir zugestehen, dass ich meine Familienverhältnisse besser kenne als du. Ich kenne nun deine Beziehung zu Draco nicht, doch in Anbetracht deines Blutes gehe ich davon aus, dass ihr keine guten Freunde seid. Was auch immer er dir also erzählt haben mag, entspricht vermutlich weit weniger der Wahrheit als du zu glauben scheinst. Und denkst du nicht, dass ich mit meinen siebzehn Jahren praktischer Erfahrung besser befähigt bin, als Vater zu agieren als du?
Denke übrigens nicht, dass mir nicht aufgefallen ist, dass du absichtlich zu einem Treffen geschwiegen hast. Was steckt hinter dieser Absicht? Wähnst du dich in den Mauern von Hogwarts sicher vor mir? Lass dir gesagt sein: Dem ist nicht so. Doch da ich kein böser Mann bin, werde ich dich vorerst verschonen. Stattdessen gebe ich dir diese eine Chance, deine Ehre zu retten und nicht feige aus unserer Abmachung zu entschwinden. Aus den Augen, aus dem Sinn? Nicht mit mir. Wenn mir etwas gefällt, kann ich sehr beharrlich sein. Also: Nenne mir einen Termin.
Ergeben,
L.
Zwei Tage hatte er sich Zeit gelassen, um auf ihren Brief zu reagieren, den sie immerhin schon am Montagnachmittag zu ihm geschickt hatte, und dann reagierte er so voller Abfälligkeit? Sie konnte nicht anders als zu kochen vor Wut.
Lucius,
es ist erstaunlich, wie viele Worte du gebraucht hast, nur um mir zu sagen, dass ich mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen soll. Ein wahrer Meister bist du darin, mit süßen Floskeln um den heißen Brei herum zu reden. Ich werde also, wie du es wünschst, schweigen.
Den zweiten Absatz deines Briefes kann ich nicht so nachlässig behandeln. Du willst mir befehlen? Und drohen? Was soll überhaupt diese Anspielung, du könntest nach Hogwarts kommen? Was würdest du dann tun? Mich vor aller Augen packen und verschleppen? Gewiss nicht. Das sind nur leere Worte, also spare sie dir. Es gibt für mich auch gar keine Ehre zu retten, da ich nie gesagt hatte, dass ich kein neues Treffen mit dir will. Ich habe übrigens auch nie gesagt, dass ich dich noch einmal treffen würde. Muss ich einem alten Mann auf die Sprünge helfen? Ich sagte, ich würde nachdenken und mich bei dir melden, zugesagt habe ich zu gar nichts. Versuche also nicht, mir die Worte im Mund herum zu drehen oder etwas zu interpretieren, was nicht da ist. Dein Spielchen funktioniert bei mir nicht.
J.
Zufrieden las Hermine sich die Zeilen ihres Briefes durch. Die Antwort von Lucius hatte sie über die Maßen verärgert und so hatte sie lange darum gerungen, all seine eitlen Worte und Anspielungen zu enttarnen und ihn vollkommen zu entwaffnen. Er würde mit seiner Arroganz bei ihr nichts anderes erreichen, als dass sie noch wütender wurde. Und je wütender sie war, umso unwahrscheinlicher war ein neues Treffen. Er wollte etwas von ihr. Also musste er zu ihr kommen, er musste Zugeständnisse machen, nicht umgekehrt!