Harry hob das geliebte Buch ein wenig ärgerlich auf. Er besaß nichts Wertvolleres, und nun lag das teure Stück auf dem Boden. Dann erst sah er das Mädchen genau an. Er erinnerte sich an Narzissas ständige Ermahnungen zu gutem Benehmen: „Hallo, ich bin Harry Potter, und wer bist Du?“ Sie lächelte unsicher und ihr ausgeprägtes, aber absolut ebenmäßiges Gebiß wurde sichtbar. Plötzlich dachte Harry, dass Draco sehr hübsch war. Er war sogar hübscher als die meisten Mädchen. Der Gedanke verschwand so schnell, wie er aufgeblitzt war. Das Mädchen stellte sich vor: „Ich bin Hermine Granger. Darf ich mir Dein Buch mal ansehen? Ich wollte es eigentlich auch haben, aber meine Eltern haben gesagt, es ist zu teuer.“ Ron sah verständnisvoll zu Hermine. Seine Eltern sagten auch ständig, dass etwas zu teuer war. Er konnte sich nicht daran gewöhnen. Wieder bemerkte Harry, wie gut seine Eltern zu ihm waren. Nie würde er sie enttäuschen. „Bitte schön. Aber sei vorsichtig damit. Meine Adoptiveltern haben es mir zum Geburtstag geschenkt. Ich mag Zaubertränke gerne.“ Sie redeten eine Weile über Zaubertränke, aber es war nicht so interessant wie mit Severus.
Ronald hatte sich schon eine Weile hinter seinem Quidditchheft verschanzt, als Hermine auf ein spannenderes Thema zu sprechen kam. „In welches Haus wollt Ihr beide eigentlich? Meiner Meinung ist Gryffindor das Beste; aber Ravenclaw wäre auch nicht schlecht.“ Der rothaarige Junge, der erst jetzt wirklich Hermines Aufmerksamkeit gewann, sagte: „Ich gehe nach Gryffindor. Da sind oder waren alle meine Geschwister.“
Gryffindor, dachte Harry pikiert, dorthin gingen Blutsverräter und Nichtskönner. Leute, die nichts aus sich machen wollten und sich unglaublich cool fanden, hatte zumindest Marcus gesagt. Nur ein paar Gryffindors konnten gut Quidditch spielen. Den Rest konnte man getrost vergessen. Severus fand Gryffindors arrogant und faul. Warum sollte irgendjemand freiwillig dorthin wollen? „Alles, nur nicht Gryffindor!“, dachte Harry. Narzissa hatte gesagt, wenn ein Mann nichts Höfliches in Gegenwart einer Dame zu sagen hätte, sollte er besser schweigen. Also schwieg Harry und vergrub sich wieder in sein Buch.
Draco kam zum Glück wieder in das Abteil: „Harry, wir sind gleich da. Wir müssen uns umziehen“ Harry stellte Draco und Hermine einander vor. Dann gingen die Brüder zu Dracos Abteil, damit sich Harry umzuziehen konnte. Immerhin bewahrte er sein Gepäck dort auf. Alle hier redeten wild durcheinander und hatten dabei nur ein Thema: wie großartig Slytherin sei. Obwohl Harry vor allem Hermine sympathisch fand, freute er sich, jetzt wieder bei seinen Freunden Blaise und Marcus zu sein. Rasch zog er die Schulkleidung an und erwartete gespannt die Ankunft in Hogsmeade.
Die Aufregung im Kollegium von Hogwarts stieg zur selben Zeit ebenfalls deutlich an. Jeder Hauslehrer erwartete die Erstklässler seines Hauses mit Neugier. Dieses Mal fragten sich natürlich alle Lehrkräfte, in welches Haus Harry Potter käme. Minerva McGonagall wünschte sich den blitzgescheiten und vor allem warmherzigen Harry in ihr Haus. Der Junge zeichnete sich durch seine Natürlichkeit aus, und sie hatte bereits seine beiden Eltern sehr gemocht. Allerdings befürchtete sie, dass ihre Enttarnung auf Malfoy Manor das Verhältnis im Vorhinein belastet hatte.
Severus Snape mochte Harry zunächst einfach. Der Junge zeigte Gehorsam, Fleiß und Intelligenz. Er arbeitete hart und motiviert. Mit jemandem wie Harry hätten die neuen Slytherins ein gutes Vorbild. Lucius hatte damals im April keineswegs übertrieben, als er Severus von dem jungen Potter erzählte. Severus war skeptisch gewesen, ob Potters Sohn sich tatsächlich anpasste. Er tat es jedoch perfekt. Außerdem hingen die beiden Brüder aneinander und Draco käme auf jeden Fall nach Slytherin.
Pomona Sprout wünschte sich endlich mal wieder einen berühmten Namen in Hufflepuff, obwohl zumindest der junge Cedric Diggory viel zum aktuell guten Ansehen der Hufflepuffs beitrug. Professor Filius Flitwick hingegen mochte seinerseits die blitzgescheite und liebenswerte Lily Evans. Er vertrat die Ansicht, dass ihr Sohn genauso gelehrsam und weise sein müsse.
Severus Snape überprüfte noch einmal, ob für die Ankunft der neuen Slytherins alles bereit stand. Die Auseinandersetzung mit Lucius von vor einer Stunde steckte ihm noch in den Knochen. Lucius wollte unbedingt, dass Draco und Harry ein Einzelzimmer in Hogwarts bekämen. Eine derartige Idee konnte wirklich nur von einem Malfoy stammen. Severus hatte abgelehnt und sich dieses Mal durchgesetzt. Lucius schmollte einstweilen mit ihm. Es kam einfach zu selten vor, dass er seinen Willen nicht bekam. Aber Severus wusste, wenn er Lucius jetzt nachgab, würden die meisten der reichen Eltern dasselbe für ihre Kinder wollen. Also hatte er einen Kompromiss vorgeschlagen. Draco und Harry würden, wenn sie denn beide nach Slytherin kämen, die besten Betten und einige weitere Privilegien bekommen. Severus hielt nicht allzuviel von Gerechtigkeit. Warum auch? Wer war je zu ihm gerecht gewesen?