»Der Regen hat mir gerade jetzt gefehlt« seufzte ich, während Alex meine Flügel mit einem Föhn trocknete. Die warme Luft tat gut. Weniger das Radfahren in nassen Klamotten – ich schauderte beim Gedanken, wie die durchnässten Kleider an meinem Körper klebten und es jede Minute kälter wurde. Wir waren wie zwei Verrückte zurück in die Stadt geradelt und froh darüber, dass uns die nächste Regenwelle nicht erwischt hatte. Für eine kurze Zeit war die Sonne zu sehen, ehe sie wieder von den Wolken verdeckt wurde. Als wir bei Alex ankamen, hatte ich schon blaue Lippen.
»Wenn du möchtest, kann ich dir einen Tee kochen« bot Alex an, ohne seinen Blick von meinen Flügel zu nehmen. Er kniete zwar hinter mir und ich konnte seine Wärme spüren, war aber vollkommen abwesend, was mit der Bewunderung meiner Flügeln zu erklären war. Ich war ihm nicht böse, ganz im Gegenteil – innerlich kicherte ich jedes Mal, wenn er vorsichtig mit den Fingerspitzen über herausstehende Federn streichelte.
Alex wohnte im dritten Stock eines Wohnblocks. Seine Wohnung war klein, aber stilvoll eingerichtet. Die beigefarbenen Wände erzeugten eine angenehme Stimmung und erinnerten mich an meine eigenen Flügel. Die Küche verschmolz mit dem Wohnzimmer, in dem eine Tür in Alex’ Zimmer und eine ins Bad führte. Ich hatte nicht viel Zeit, mich umzusehen, weil ich sofort in das hellblau gestrichene Badezimmer eilte. Was mir jedoch sofort auffiel, waren die schwarz-weißen abstrakten Bilder, die im Wohnzimmer hingen. Längliche Muster, elegante Formen und beeindruckende Landschaften zierten die Wände des Raumes. Ich nahm mir vor, jedes einzelne Bild näher zu betrachten, sobald ich wieder trocken war.
Es war im Vorhinein schon zu erwarten, dass sowohl mein Korsett, als auch beide Flügel gänzlich nass wurden. Als ich im Badezimmer in den Spiegel blickte, sah ich schrecklich aus. Ich konnte mir vage vorstellen, wie meine Flügeln ausschauen mussten. Ich zog das Oberteil aus, um das Risiko zu mindern, mich zu erkälten, und trocknete erst meine Haare. Alex stand währenddessen in der Badezimmertür und betrachtete mein Tun. Danach half er mir, das Korsett loszuwerden. Dass ich nur noch einen BH anhatte, war mir egal – und Alex erst recht. Sobald das Korsett unten war und ich meine Flügel lockerte, nahm er den Blick nicht mehr weg von ihnen. Wie ich zuvor vermutet hatte, sahen sie aus wie zwei eingeweichte, dreckige Katzen, die jemand zum Trocknen an eine Wäscheleine gehängt hatte. Ich bereute es, zu Alex gekommen zu sein statt nach Hause zu fahren.
»Sie sind wundervoll« flüsterte Alex mit weit aufgerissenen Augen. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszulachen.
Wundervoll. Sie waren alles andere als wundervoll, aber ich wollte Alex’ Augenblicke der Faszination nicht zerstören. Wenn er sie doch nur beim Fliegen sehen würde! Dann würde sich seine Meinung von wundervollen Flügeln mit Sicherheit ändern.
»Darf ich sie berühren?« stellte er die Frage. Seine Lippen waren weit offen, genauso wie seine Augen.
»Klar. Sie sind aber nass. Ich müsste sie trocknen« sagte ich, aber er ignorierte den zweiten Satz und streichelte vorsichtig über meinen rechten Flügel.
»Federn« stellte er fest. »Aber keine gewöhnlichen. Diese sind anders.«
Meine Federn waren tatsächlich anders als die von Vögeln. Sie waren stärker und dichter, aber nicht wasserdicht, da ich sie nie einfettete. Unter den vielen kleinen Federchen befanden sich noch winzigere Flaumfedern, die beim Waschen das meiste Wasser aufnahmen und dadurch meine Flügel um einige Töne dunkler erscheinen ließen.
»Die sind anders« bestätigte ich Alex’ Aussage. Die Feder, die er betrachtete, löste sich von meinem Flügel.
»Oh, entschuldige!« rief er erschrocken. Ich lachte los.
»Keine Sorge, es ist nichts passiert. Wie auch meine Haare ausfallen, so verliere ich täglich ein paar Federn« beruhigte ich ihn noch immer grinsend. »Ist ein Geschenk, darfst du behalten.«
»Danke« sagte er und nahm das ausgefallene Exemplar genauer unter die Lupe. »So eine Feder habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.
»Willkommen in meiner beflügelten Welt« sagte ich lächelnd. Alex lächelte zurück, ging dann aus einem Zimmer und kam mit einer kleinen Schachtel zurück, in die er die Feder legte. Danach trat ich zur Badewanne und presste das Wasser aus den Flügeln, da für die andere Methode, bei der ich sie stark schlug, der Raum zu klein war. Als ich fertig war, holte Alex ein großes Handtuch und wickelte sie ein. Mit einem anderen Tuch trocknete er meine Schulter und meinen Rücken. Nachdem ich halbwegs trocken war, drehte er mich zu sich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Ich verlor mich in seinem Duft und genoss jede Sekunde in der Umarmung.
»Wenn du möchtest, kann ich deine Flügel mit dem Föhn trocknen« flüsterte er.
»Ich würde mich sehr bedanken« antwortete ich schwach.
So kamen wir ins Wohnzimmer, wo ich auf einem Kissen hockte, während er meine Flügel föhnte. Je trockener die Federn wurden, umso heller leuchteten sie. Bis auf die Unterwäsche waren meine Sachen alle in Alex’ kleinem Trockner. Ich bekam von ihm eine bequeme graue Jogginghose, in die ich zweimal reingepasst hätte.
Ich war glücklich, unbeschreiblich glücklich. An diesem Tag durfte ich die schönsten Momente meines bisherigen Lebens erleben. Er war ein wahr gewordener, langersehnter Traum. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder einen Menschen finden würde, dem ich derart vertrauen konnte. Doch Alex war perfekt. Er war nicht nur äußerst charmant und attraktiv, sonder auch verständnisvoll und achtsam. War er die Entschuldigung des Schicksals für die letzten Jahre meines Lebens, in denen ich mich verstecken musste? Ich konnte mir mein Glück nicht anders erklären, suchte aber auch nicht nach weiteren Gründen. Das »Wieso?« zu beantworten war unwichtig, denn ich war ihm unendlich dankbar, dass er nun Teil meiner Welt war.
»Deine Flügel sind trocken, Liebes« riss mich Alex aus meinen Gedanken.
Er richtete die vorderen Federn und schlang dann seine Arme um mich. Ich war noch ganz benommen von den überwältigenden Gefühlen. Reflexartig schloss ich die Flügel hinter seinem Rücken und ließ den Kopf auf seine Brust sinken. Alex’ feste Hände wärmten meine Taille, die Berührung ließ meine Haut aufglühen. Sanft hauchte er mir einen Kuss auf die Lippen und ich verlor den Bezug zur Realität.
Zu schnell ging der Kuss vorüber. Ich zwang mich, klar zu denken und stand auf. Meine Beine waren vom Sitzen etwas taub, ich streckte mich und ging ein paar Schritte vor und zurück.
»Danke sehr« gähnte ich.
Meine Flügel waren wie neu. Sauber, weich und glänzend. Alex hatte meine Federn an den richtigen Platz gebracht und ich fragte mich, ob er ein Naturtalent war oder das schon öfters gemacht hatte. Jedenfalls sollte ich öfters zu ihm kommen, wenn es um die Pflege meiner Flügeln geht.
»Und was sagst du zu meinen Flügeln?« wollte ich wissen.
»Ich bin sprachlos, Blanka. Ich habe es noch immer nicht realisiert, dass sie tatsächlich echt sind. Das bringt mein ganzes Weltbild durcheinander« gestand er mit ernstem Gesichtsausdruck. »Zuerst erlaubst du mir, dich zu küssen, und dann stellt sich auch noch heraus, dass du ein Engel bist.« Alex stand ebenfalls auf und schritt zu mir.
»Ich bin kein…« fing ich an, aber seine Lippen erstickten meine Worte.
»Ich bringe dir deine Kleider« sagte er sanft und ließ meine Taille los.
Ich zog das Oberteil mit dem Katzenmuster wieder an. Alex’ bequeme Jogginghose, die mir bis zu den Knien hing, ließ ich an, da meine Jeans noch nicht ganz trocken waren. Er legte sie zusammen und packte sie in einen Plastikbeutel.
»Darf ich dich was fragen?« schaute er mich ernst an. »Du musst mir nicht antworten, aber es würde mich sehr dringend interessieren« fügte er dann noch hinzu.
»Klar, frag nur« antwortete ich.
»Wie fing es an? Deine Flügel, das Fliegen… Du kannst nicht so auf die Welt gekommen sein, weil dann auch deine Eltern Bescheid wüssten. Außerdem hast du gemeint, du warst vierzehn.«
»Hm… Da hast du recht« grinste ich. Wenn Alex die ganze Geschichte hören möchte, wird das viel Zeit in Anspruch nehmen. »Wie viel Zeit hast du?«
»Wieso?«
»Weil es eine sehr lange Geschichte ist« erklärte ich ihm.
»Ich koche dir einen Tee« antwortete er, gab mir einen Kuss und ging in die Küche. »Ich möchte alles wissen!« hörte ich noch.
Wir setzten uns mit zwei Tassen Tee auf das Sofa und ich erzählte ihm meine Geschichte. Ich erzählte ihm vom schmerzhaften Traum, der mein Leben verändert hatte, von den anfänglichen Versuchen, mich in die Luft zu erheben und vom langwierigen Weg zum ersten erfolgreichen Flug. Ich schilderte ihm, wie ich bei unserem zufälligen Treffen vom Schularzt geflohen war, erzählte über die nächtlichen Touren und Erlebnisse, aber auch über den Fehler, den ich einmal gemacht hatte. Seine Miene änderte sich mit meinen Worten. An den lustigen Stellen lachte er mit, an weniger lustigen Stellen war er besorgt oder schlicht fasziniert. Und ich war froh, dass er einen Arm um mich hatte, während ich erzählte. Denn dieser Tag hatte mein Leben verändert, endlich hatte ich wieder eine Aussicht auf eine schöne Zukunft.