Du bist Elred Aramys Nuvian.
„Wir sind lediglich Reisende“, antwortest du dem Wissenssammler. „Ich bin Nurmised aus dem Dunkelwald und mein Begleiter ist Arthrax der Schreckliche, Matrose von der Mondsee.“
Der Wissende verengt seine dunklen Augen leicht. „Ein Dunkelelf und ein Pirat? Was sucht ihr in Aak?“
Du siehst, wie Arthrax nervös nach dem Griff seiner Axt tastet. Du musst die Situation schnellstens entschärfen!
„Wir hörten von dem neuen Bündnis des Friedens und wollten die Gelegenheit nutzen, die anderen Völker zu besuchen“, antwortest du liebenswürdig.
Der Wissenssammler lacht trocken. „Ausgerechnet ein Elf und ein Pirat! Habt ihr es noch nicht gehört? Die Steine eurer Völker wurden gestohlen!“
Du gibst dich angemessen entsetzt. „Gestohlen? Die Schöpfersteine? Aber – das ist unmöglich!“
„Offenbar nicht. Euresgleichen ist wohl nicht gut darin, seine Schätze zu bewahren“, höhnt der Wissende. Dann wird er ernst. „Doch es ehrt euch, dass ihr das Friedensbündnis auch ohne Unterpfand ehrt. Kommt. Es findet sich sicherlich etwas Wasser für eure Reittiere und auf dem Weg zur Stadt können wir euch berichten, was an unsere alleshörenden Ohren drang.“
Die fünf Wissenden – und der Karrenführer, offenbar ein Tiermensch, denn er hat Hörner und braune Tierohren – sind wie verändert. Eure Pferde und das Maultier werden umsorgt. Wenig später reitest du dein Vollblut, Coritas, und Arthrax seinen rotbraunen Hengst an der Seite der merkwürdigen Höckerwesen der Wissenden. Auf Arthrax' neugierige Blicke hin erklären die Wissenssammler euch, dass es ‚Kamele‘ sind, Reittiere aus der Wüste von Galabad.
Hierbei erfahrt ihr auch, dass bereits drei Schöpfersteine gestohlen wurden: Das Tigerauge der Orks, der Ametrin der Dunkelelfen und zuletzt der Ammonit der Mondsee. Brenna, Allyster und Aji waren also erfolgreich! Ihr müsst euch anstrengen, um eure Freude nicht zu zeigen.
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Nach einer kurzen Pause habt ihr das letzte Stück Weg zur Stadt auf euch genommen. Zu eurer Überraschung schlagen die Wissenden einen Bogen, um die Stadt von der anderen Seite zu betreten.
„Das hier ist das wohlhabende Viertel, auf der Nordseite befinden sich die Slums“, erklärt dir einer deiner Begleiter auf deine Nachfrage.
„Wollt ihr euch uns auf dem Marktplatz anschließen oder habt ihr ein bestimmtes Ziel?“, fragt ein anderer. Das Konzept von Namen ist diesen seltsamen Leuten fremd, also gibt es keine Möglichkeit für euch, sie anzusprechen. Das kommt euch zugute, denn Arthrax hat bereits ab und zu vergessen, dich Nurmised zu nennen. Doch deinen Begleitern fallen diese Fehler nicht auf.
„Gerne.“ Du nimmst ihr Angebot nach einem kurzen Blickwechsel mit Arthrax an.
Auf dem Weg in die Stadt hinein trefft ihr auf unzählige andere Karren, die jeweils von fünf Wissenden begleitet werden. Den Stau nutzt du, um die Wissenssammler unschuldig auszufragen. Zwischen unzähligen Grüßen an die anderen Wissenden – sie sprechen sich ausnahmslos mit „weise Herren!“ an, sodass dieser Ruf tausendfach über den Köpfen der Reisenden hin und her geworfen wird – erklärt dir der Wissende, dass sie als Nomaden durch die Wüste und auch die restlichen Länder ziehen und ihr Wissen im ‚Herz‘, dem Karren, sammeln. Alljährlich treffen sie sich zum Fest des Wissens in den Ruinen, wo sie sich in der Verbotenen Stadt – dem Teil der Siedlung, die von der Mauer umgeben ist – mit anderen Wissenden austauschen, während die Stadt rituell gereinigt wird.
„Wissen kann nur bestehen, wo alle überflüssigen Emotionen ausgeschaltet werden“, sagt dein Fremdenführer dazu. Du bist überrascht, wie stark dieses Motto dem deines eigenen Volkes ähnelt. Sind die Unterschiede zwischen Elfen und den rätselhaften Bewohnern der Ruinen etwa doch nicht so groß?
Als ihr den Marktplatz erreicht, steht die Sonne im Zenit, sodass ihr über den Schatten der vielen aufgespannten Tücher dankbar seid. Die Wissenden suchen sich einen Platz in dem unübersichtlichen Gedränge und richten die Schriftrollen auf dem Karren ansehnlich her, sodass Vorbeigehende die in kryptischen Zeichen und Piktogrammen verfassten Überschriften lesen können.
Da ihr zugesagt habt, ihnen zu helfen, habt ihr den Auftrag, die Neugier der Passanten zu erwecken und gleichzeitig ein Auge auf die Waren zu haben, falls jemand sie stehlen will. Die paar Schriftrollen sind der höchste Besitz der Ruinenbewohner.
Übrigens fällt dir auf, dass die meisten Gebäude verfallen sind. Abgesehen von dem inneren Burgring – der Verbotenen Stadt – sind sie offenbar nur während der Festlichkeiten in Benutzung. Die Wissenssammler sind Nomaden, die Kenntnisse aus allen Teilen der Welt zusammensuchen, sie wohnen nicht in dieser Stadt.
Etwas widerwillig fügen Arthrax und du euch in eure Rollen als Marktschreier und Schriftrollen-Leibwächter. Während der Krieger zu schmollen scheint, gehst du in deiner Rolle auf. Wenn gerade wenig los ist, fragst du die Wissenssammler über ihre Reise aus. Zwar sind die Informationen, die sie dir über die restlichen Jenseitslande geben, eher gering – Wissen ist hier ein Handelsgut, dass nicht leichtfertig verschenkt wird – doch sie erklären dir bereitwillig alles über ihr eigenes Volk und die Festlichkeiten: Die Stadt wird gesäubert und die Opfergaben dann in einer großen Zeremonie in den Tempeln in der Verbotenen Stadt den Göttern des Wissens und der Weisheit dargebracht, wo die Ruinenbewohner ihre Macht, ihr Wissen und ihre Errungenschaften zur Schau stellen. Die Feierlichkeiten dauern nur eine Nacht und finden jedes Jahr statt, der einzige Zeitraum, da die Ruinen von Aak derartig bevölkert sind. Doch dieses Jahr liegt ein Schatten über dem Fest, denn, wie einer der Wissenden euch anvertraut: „Wir rüsten uns zum Krieg. Nicht alle sind glücklich darüber, doch die Drachenkaiser rufen und ihnen widersetzt man sich nicht. Es wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr kurzer Krieg.“
An dieser Stelle tauscht du einen besorgten Blick mit Arthrax. Wenn selbst die Wissenden diese Prognose aussprechen, sind die Jenseitslande Kalynor mit Sicherheit weit überlegen.
Plötzlich kommt Bewegung in die Menge.
„Die Säuberung!“, rufen verschiedene Passanten. Manche klingen ekstatisch, andere geradezu panisch. Kinder laufen zu ihren Eltern. Die Händler verstauen ihre Ware und drängen sich zu kleinen Gruppen zusammen. Dann erscheint eine Patrouille von Soldaten, deren Stiefel fest auf die Erde stoßen. Es werden immer mehr – bestimmt hundert oder mehr Soldaten, die sich in Gruppen zu zehn Männern bewegen.
Sie bleiben stehen, betrachten die Gruppen, dringen in die Häuser ein und durchsuchen diese. Rufe hallen durch die verwinkelten Gassen. Ihr hört das Flehen von Frauen und einige panische Schreie. Nicht weit entfernt wird ein gebrechlicher Bewohner aus einer Hütte gezerrt. Der Kranke weint und fleht um Gnade. Mehrere Personen, offenbar seine Familie, wollen die Soldaten aufhalten. Doch sie haben keine Chance gegen den organisierten Trupp.
„Was haben sie nur mit dem armen Kerl vor?“, wundert sich Arthrax.
„Nichts Gutes“, sagst du mit einem Blick auf die Gesichter der Angehörigen.
„Die Säuberung!“, kreischt die Menge wie von Sinnen. Du siehst zu dem Kranken und dann zu Arthrax, der das Geschehen mit wildem Blick und geballten Fäusten beobachtet. In ihm brodelt es, das kannst du deutlich erkennen.
Du deinerseits …
- ... ignorierst das Geschehen. Lies weiter bei Kapitel 6.
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- ... greifst in das Geschehen ein. Lies weiter bei Kapitel 7.