»Gill-Ra, schau mal. Wieder so eine Kiste mit diesen merkwürdigen Werkzeugen!«
Der Angesprochene wandte sich von dem noch immer spielenden Derric ab und schwamm mit einem feinen Schlenker seiner Schwanzflosse zu seinen Kameraden, die silberne Gegenstände in den langen Fingern hielten. »Ich frage mich, wozu die gut sind«, murmelte Lu-Ten, Gill-Ras Stellvertreter, und hob schließlich ruckartig den Kopf. Er wandte sich herum und zischte.
»Hey, Zweibeiner! Mach’ dich mal nützlich und erklär’ mir was!«
Derric stoppte in der Bewegung und blickte verwundert zu den Eisschwimmern herüber. Es war erstaunlich, wie gut seine Ohren funktionierten und wie mühelos er sich bewegen konnte. Als wäre der Wasserwiderstand überhaupt nicht da und er würde frei in der Luft schweben. Das war faszinierend und wundervoll. Derric spürte die jämmerliche Kälte nicht mehr, noch bemerkte er, dass er in Salzwasser schwamm. Alles um ihm herum war frisch und rein und süß und nur das feine Streicheln auf seiner Haut zeigte ihm an, dass er sich unter Wasser befand. Jede sanfte Strömung war wie die Berührung einer Hand.
Zögerlich bewegte er sich auf die Gruppe Meereswesen zu, die alle ihre garstigen Gesichter zu ihm herumgewandt hatten. Erst jetzt fiel Derric auf, dass ihre Zähne nach unten hin spitzer zuliefen als bei Menschen und das erfüllte ihn mit Unbehagen. Wie es sich wohl anfühlte, wenn sie einen bissen?
»Ja?«, fragte er leise und suchte instinktiv den Blick von Gill-Ra. Er war der Einzige von diesen Kreaturen, den Derric kannte und von dem er hoffte, dass sie vielleicht etwas wie eine Verbindung zueinander hatten. Was der Junge jetzt brauchte, war ein Freund. Doch der Eisschwimmer veränderte die Mimik nicht und so blickte Derric zu Lu-Ten, der ihm den Kasten mit dem silbernen Inhalt hinhielt.
»Was ist das? Wofür gebrauchen die Menschen es? Es ist hübsch, doch mir erschließt sich der Nutzen nicht. Du bist ein Mensch. Du kannst es uns erklären.«
Der junge Mann legte die langen Finger auf den samtigen Stoff, der die Kiste auskleidete. Durch die Nässe fühlte er sich nun eher schleimig als weich an und Derric seufzte.
»Das ist Besteck. Die Menschen nutzen es, um zu essen.«
Die Eisschwimmer sahen einander verwundert an. »Wozu brauchen sie dafür Werkzeuge?«
»Hiermit«, der Junge hob ein Messer, »zerschneiden wir Fleisch oder Gemüse in kleinere, mundgerechte Stücke und hiermit«, nun zeigte er eine Gabel, »spießen wir es auf, um es in den Mund zu befördern. Das erlaubt uns, auch heiße Speisen zu essen und die Finger bleiben sauber.«
»Und das hier?« Gill-Ra, der ebenso neugierig war, deutete auf ein weiteres Stück.
»Das ist ein Löffel. Damit werden Suppen gegessen.« Derric sah in fünf fragende Gesichter und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Suppen kennt ihr wohl nicht. Wie auch, unter Wasser. Dabei tut man Fleisch und Gemüse in einen Topf, gießt Wasser und ein paar Gewürze dazu und lässt es auf dem Feuer kochen. Ihr wisst, was Feuer ist?«
»Die Schiffe der Menschen vergehen manches Mal in orangenem Licht, wenn ein Blitz sie trifft. Ich habe es einige Male beobachtet. Ist das Feuer?«
»Ja. Es ist gefährlich. Doch wir nutzen es auch, um Licht zu machen oder eben Essen zuzubereiten.«
»Wie geht das?« Lu-Ten musterte Derric aufmerksam.
»Es ist heiß. Entzündet man ein Feuer in einem Ofen, heizt es einem die Stube. Sperrt man es in eine Laterne, gibt es Licht. Und in einem Herd hilft es beim Kochen. Doch ungezähmt vernichtet es Häuser, Wälder, Mensch und Tier.«
»Also ist Feuer ein Lebewesen?« Die Eisschwimmer zogen die Brauen hoch.
»Nein. Also ... es hat kein Herz, keinen Puls, keinen Verstand. Aber es frisst. Alles, was verbrennt, ist hinterher nur noch Asche.«
»Hier bei uns wirst du viele Dinge sehen, die ebenfalls keinen Verstand oder einen Puls haben und dennoch leben«, Gill-Ra knurrte und wandte sich an seine Mannen. »Wir nehmen das ... Besteck mit. Und alles andere, was von Wert ist. Je mehr, desto besser, umso mehr haben wir als Tausch anzubieten!« Die Eisschwimmer nickten und Derric ließ seinen Blick über das Trümmerfeld wandern. Sie hatten in Manafell Vasen aus Yangju-Glas geladen gehabt, die nun alle in Scherben auf dem sandigen Boden lagen. Der Junge schwamm auf sie zu und ergriff eine davon, aus kostbarem Blau. Wenn der Grund des Meeres sie nicht verschluckte, würden sie bald glatt und weich geschliffen sein.
»Diese Splitter sind liebreizend«, ertönte die Stimme Gill-Ras hinter ihm und Derric richtete sich wieder auf. Er hatte wie eine Jungfrau in Nöten am Boden gesessen und sicher wie ein Narr ausgesehen. Doch er wollte nicht aussehen, als bedauerte er das Geschenk des Eisschwimmers und als wäre er unglücklich über die ungewisse Zukunft. Denn ungewiss war besser als keine.
»Du hättest sie sehen wollen, bevor sie zerbrachen«, murmelte der Junge und hielt noch immer das kobaltblaue Glas in den Händen.
»Ich kenne diese Gefäße, auch wenn ich den Sinn nicht verstehe. Wir fanden bereits einige, die nicht zerbrochen waren. Ich bewundere diese Kunstfertigkeit und dieses Material. Wie nennt ihr es?«
»Es ist Glas. Um es herzustellen, braucht man wieder Feuer«, Derric schmunzelte.
»Dies scheint ein wichtiger Bestandteil des Lebens der Menschen zu sein?«
»Ja. Eigentlich braucht man es für alles. Vom Schmieden von Waffen bis zum Backen von Brot.«
Gill-Ra ließ einige der funkelnden Scherben durch seine Finger gleiten und sie sanken wie ein bunter Regen auf den Grund hinab.
»Vielleicht sollten wir sie mitnehmen. Sie bieten sicher Material für Schmuckstücke.«
»Wie tragt ihr all das nach ... wo immer ihr lebt?«
»Wir nutzen die Stoffbahnen der Schiffe.«
»Die Segel?«
»Wenn sie so heißen«, brummte Gill-Ra und zuckte die Schultern. Derric seufzte und musterte den Mann vor sich. Seine Stimme hatte das Raue verloren, das sie an der Oberfläche so misstönend hatte klingen lassen; tatsächlich empfand der Junge sie unter Wasser als angenehm. Doch sie war reserviert. Gill-Ra machte nicht den Eindruck, irgendwelche positiven Gefühle, geschweige denn freundschaftliche, für Derric zu hegen. Das Gesicht des Eisschwimmers war stets gleich, der Blick aus den schlammgrünen Augen abschätzend und kühl.
»Ich bitte um Verzeihung«, murmelte Derric und drehte die Scherbe in seinen Händen.
»Wie bitte?«
»Für die Umstände, die ich dir und deinen Leuten mache. Für den Schmerz, den du ertragen hast, um mich ... mir diesen ... Körper zu geben. Es wäre wohl besser, ich würde verschwinden.«
»Um mit meinem Seelensplitter für immer ein Eisschwimmer ohne Volk zu sein?«
»Ich bin keiner von euch! Ich bin ein Mensch. Ich ... ich mache dir nur Ärger. Schon das zweite Mal.«
»Du hast mein Leben gerettet.«
»Weil du zuvor mich vor dem Tode bewahrt hast.«
»Was ich auch dieses Mal getan habe, Derric. Willst du lieber dort oben erfrieren, als bei uns zu bleiben?«
»Kannst du das denn einfach so entscheiden? War das überhaupt erlaubt, mir diesen ... diesen Seelensplitter zu geben? Sieh’, versteh’ mich nicht falsch. Ich bin dir dankbar, nicht mehr zu frieren. Ich habe nicht einmal mehr Durst und ich weiß nicht, wie das geht. Heute Nacht wäre es mit mir zu Ende gegangen und für einen Moment hatte ich gehofft, unser ... Zusammentreffen von vor zwei Jahren würde sich wiederholen. Doch ...« Derric sah sich um und seufzte.
»Du bist ein Mensch.«
»Ich habe Angst! Das alles macht mir Angst. Der Ozean, die Gefahren hier, ihr. Ich weiß nicht, ob ich das kann und erst recht nicht, ob ich das eigentlich will!«
Gill-Ras Gesicht lichtete sich das erste Mal, als er die Lippen zu einem feinen Grinsen kräuselte. »Weißt du, niemand hat gesagt, dass du für immer ein Eisschwimmer sein sollst. Vergessen? Gibst du mir meinen Splitter zurück, wirst du wieder ein Zweibeiner. Ich habe das getan, damit du Kraft sammeln kannst für den Heimweg. Die Verantwortung, einen Menschen zu uns geholt zu haben, werde ich nicht länger tragen, als ich es muss!«