Es schienen Tage vergangen zu sein, als Derric die Lider aufschlug und sofort wieder zusammenkniff. Die Sonne, hell und kalt, biss ihm in die Augen und das Kreischen von Möwen, dumpf und scheinbar weit entfernt, dröhnte in seinen Ohren. War er noch am Leben?
Der Körper tonnenschwer, versuchte er, sich aufzurichten, doch die Holzplanke, auf der er lag, ließ das kaum zu. Er war auch viel zu erschöpft und so hob er nur leicht den Kopf.
Der Brecher hatte die Athena vollkommen zermalmt. Teile des Bugs, die nicht unter den Wassermassen zerborsten waren, trieben wie makabere Inseln in der sanften See. Fetzen der einst schneeweißen Segel dümpelten wie Leichentücher über Planken und auf den Wellen tanzenden Fässern und das Kreischen der Möwen rührte von den unzähligen Körpern im Wasser. Für die Vögel musste es ein ungeheures Festmahl sein, sich an den unglücklichen Seeleuten laben zu können, die es nicht geschafft hatten, Medusas dunkelgrünen Tiefen zu entgehen.
Seufzend ließ der Junge seinen Kopf wieder sinken und sah in den Himmel. Nicht ein Hinweis auf das furchtbare Unwetter war mehr zu sehen. Die Wolken, weiß wie Schäfchen, wurden von einem milden Wind über das Firmament geschoben, die Sonne tauchte alles in eine zartgelbe Helligkeit und der Himmel war so blau, wie es Derric noch niemals zuvor gesehen hatte. Und es war kalt. Zermürbend und das Innerste erschütternd kalt!
Wie weit waren sie durch den Sturm in den Norden getrieben worden? Aufschluchzend und sich seine Verzweiflung aus den Augen wischend, wünschte sich der junge Mann, er wäre ebenfalls ertrunken oder von den berstenden Innereien der Athena erschlagen worden. Denn das Schicksal, das ihm nun blühte, verdursten oder erfrieren in den einsamen Gewässern des nördlichen Eismeeres, war schlimmer als ein schneller Tod. Die Handelsmarine würde ihren Schoner frühestens in einer Woche vermissen und Spähschiffe ausschicken, um ihn zu suchen. Zu lange für Derric, um bei diesen Bedingungen am Leben zu bleiben. Leise stöhnend, weil er seine Beine und auch Finger kaum spürte, setzte er sich auf der dicken Holzplanke auf. Sie versank etwas im Wasser, was dieses über ihn schwappen und nach Luft schnappen ließ. Eiskristalle trieben auf der Oberfläche. Wenn er eines der Speisefässer finden konnte, würde er zumindest nicht mit leerem Magen erfrieren. Mit schwerem Herzen sah er sich um, in dieser Szenerie aus trauriger Zerstörung, dem geborstenen Holz einer einst wunderschönen Handelsgaleere, deren engelsgleiche Galeonsfigur anmutig auf den leichten Wellen zu tanzen schien, als wolle sie sich vehement dagegen wehren, in den Tiefen des Ozeans zu versinken. Die Körper der Seemänner, die als makabere Speisung der Seevögel vor sich hin trieben, versuchte Derric nicht zu genau anzusehen. Ihm grauste die Vorstellung, jemanden zu erkennen, den er gemocht hatte. Langsam und schwerfällig paddelte der junge Mann auf einen Teil des Rumpfes zu. Die Anstrengung vertrieb für kurze Zeit die Kälte aus seinen Gliedern, doch wirklich warm wurde ihm nicht. Der feine Wind, der über die See glitt, war beißend.
»Hallo?«, rief er, krächzend und schwach. Vielleicht war außer ihm noch jemand davon gekommen. Er räusperte sich einige Male und rief erneut, doch bis auf das Schreien der Möwen blieb es stumm. Derric war von Geistern umgeben, knarzendem Holz und dem Plätschern des dunkelblauen Wassers. Er schrie auf, als er bei dem Versuch, auf den Rumpfteil zu klettern, abrutschte und einmal vollständig untertauchte. Spotzend und spuckend hievte er sich auf das Holz und fing zu bibbern an. Wenn er doch nur eines der Dingies hätte! Mit einem Fischerhaken, der sich in den Bohlen verfangen hatte, gelang es ihm nach einigen Minuten, ein treibendes Fass heranzuziehen, das er mit etwas Krafteinsatz schließlich aufbrechen konnte. Es hatte einmal Äpfel enthalten, doch sie waren bereits einige Tage auf See gewesen, bevor der Sturm kam und Obst verbrauchte sich schnell. Eine kümmerliche Frucht befand sich am Grund des Fasses, doch für Derric, dem vor Kälte, Hunger und Verzweiflung alles weh tat, war es ein Glück.
Er aß sein karges Mahl langsam, kaute länger als es nötig wäre, doch wenn dies schon seine Henkersmahlzeit war, dann sollte er sie so lange hinauszögern, wie er konnte. Versonnen blickte er an den Horizont nach Norden. Weit in der Ferne unter dem blauen Himmel glaubte der junge Mann, Eisberge treiben zu sehen. Sie waren unzählige Seemeilen weiter nördlich als sie es sein sollten. Die Spähschiffe der Handelsgesellschaft würden die Athena niemals finden, bevor sie restlos versank, und niemals würde jemand mit Gewissheit sagen können, was der Mannschaft geschehen war. Dutzende Familien würden niemals wissen, wie ihre Söhne, Brüder, Ehemänner, Geliebte ihr Ende gefunden hatten.
Derric seufzte. Als er das letzte Mal in einen Sturm geraten war, im Herbst vor zwei Jahren, war er über Bord gegangen und drohte, zu ertrinken. Dieses Schicksal hätte er dieses Mal lieber gehabt als als einziger Überlebender langsam auf sein Dahinscheiden warten zu müssen. Ertrinken war leicht. Irgendwann wurde einfach alles schwarz und man driftete dahin, wurde von Medusas Tiefen nicht verschlungen, sondern empfangen wie bei der Umarmung einer Mutter. Das hier, Warten in der gleißenden Helligkeit der nördlichen Sonne, war schlimmer. Nichts Tröstliches gab es hier, auf das der Junge sich hätte konzentrieren können. Nur das Schreien der Möwen, die auf ein weiteres Festmahl warteten. Müde legte Derric seine Arme auf die angewinkelten Knie und schloss die Augen. Fast verschwamm das Geräusch der See zu einem Wiegenlied.
Hab’ Acht, junger Seemann, das Meer ist rau.
Doch feurig und wechselhaft wie eine Frau.
Sei’ tapfer und standhaft, sonst zieht’s dich hinab.
Erbarmungslos runter in Medusas Grab.
Wieder und wieder sang der junge Mann diesen Vers, den er als kleiner Junge von seinem Vater gelernt hatte, bis er schließlich langsam in den Schlaf wegdämmerte. Ob er zuhause wohl vermisst werden würde, wenn er niemals wiederkehrte? Er hoffte, sein alter Herr würde ihm dann doch noch verzeihen, dass er damals die Meereskreatur freigelassen hatte, die sein Vater so stolz gewesen war, gefangen zu haben. Derric bereute diese Tat nicht, sie war das einzig Richtige gewesen. Er bedauerte nur, dass das zum Bruch mit seinem alten Herrn geführt hatte. Doch für Reue und den Wunsch, etwas wiedergutzumachen, war es nun zu spät.