»Ich dachte immer, im Eismeer wäre alles farblos, doch das hier ...«, Derric zischte durch die Zähne und kam gar nicht hinterher, all die Pflanzen und Korallenriffe anzuschauen. Gill-Ra brummte.
»Die Menschen kommen nicht weit genug hinunter, um zu sehen, wie das Leben unter Wasser ist. Und das ist auch gut so. Wir wollen sie hier nicht. Gut, dass sie ertrinken, wenn sie es versuchen.«
»Da fühl’ ich mich gleich noch willkommener«, murmelte der Junge. Der Eisschwimmer machte es ihm wirklich nicht leicht, sich nicht fehl am Platz zu finden.
»Durch meinen Seelensplitter bist du wie wir. Du und ich sind verbunden und solange das so ist, wird dir niemand ein Leid zufügen. Doch es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass du willkommen wärst.«
»Aber warum? Was haben die Menschen euch getan? Also ... mal abgesehen, was dir geschehen ist? Meine Leute wussten nicht einmal, dass es euch gibt. Und viele andere auch nicht. Selbst Kapitän Feijan von der Athena hat noch nie von Wesen wie euch gehört und der hat alle Meere befahren und sogar immer stolz behauptet, er hätte Medusa gesehen.«
»Dann war er ein Aufschneider und ein Lügner und ist zu Recht in ihren Tiefen abgesoffen.« Gill-Ra schnaubte. »Die Menschen des Nordens wussten von uns und jagten uns, wie sie Jagd auf die weißen Wale machten. Die sind eines Tages verschwunden. Die Nordmänner beschworen ihren eigenen Untergang herauf und wir hatten endlich Ruhe.«
Derric musterte den Eisschwimmer. Nordmänner und weiße Wale? Sprach er von den Bewohnern Skyfheims? Dieses Volk war vor Jahrhunderten aus dem Norden abgewandert, nach der Zerstörung ihrer Stadt. Hielt sich der Hass der Eisschwimmer an diesen Menschen fest?
»So schlimm sind wir gar nicht«, murmelte der Junge. »Zumindest nicht alle von uns.«
»Ein gammliger Fisch im Netz verdirbt den ganzen Fang. So sagt ihr Zweibeiner doch? Und je weniger die Menschen wissen, umso feindseliger sind sie. Deine Leute schlugen mich ohne Grund, stachen mich mit ihren Piken, um meine Schmerzenslaute zu hören und verstanden die Worte nicht, die ich sprach. Selbst als ich es in eurer Sprache versuchte. Sie wollten nicht hören, ich war für sie das Monster, da zum barbarischen Vergnügen und zu hässlich, um das Leben verdient zu haben.«
Bedrückt wandte Derric Gill-Ra das Gesicht zu. Ihm tat leid, dass ihm in seinem Zuhause dieses Leid zugefügt worden war.
»Ich kann mich dafür nur entschuldigen!«
»Dazu besteht kein Grund! Nicht du hast mich geschlagen. Ich gebe dir keine Schuld, doch erwarte nicht, dass ich ein Freund der Menschen werde.«
»Mir würde schon genügen, wenn du in mir einen sehen könntest«, murmelte der Junge leise, doch Gill-Ras Gesicht blieb unbewegt. Derric seufzte innerlich. Diese Zeit bei den Eisschwimmern würde wohl kein vergnüglicher Urlaub werden. Er war und blieb eine Last, die Gill-Ra sich aufgebürdet hatte.
»Was würde dein Volk mit mir machen, wenn ich euer Gefangener wäre?«
»Nichts. Du würdest es gar nicht bis in unsere Siedlung schaffen, sondern vorher absaufen. Wir würden deine Überreste verspeisen.«
Derric erschauderte und rollte dann mit den Augen. »Gut, aber theoretisch. Nehmen wir mal an, es ginge. Was würden sie tun?«
Gill-Ra zog die Augenbrauen kraus und schien ernsthaft nachzudenken. Schließlich warf er dem Jungen einen Seitenblick zu und seufzte. »Vermutlich wären wir neugierig, wie du ... funktionierst. Und würden dich piesacken.«
»Siehst du?«
»Ja, ist ja gut. Halt’ den Mund.« Gill-Ra knurrte unbedrohlich und mit einem weiteren kräftigen Schlag seines Schwanzes stieg er über einen Felsenkamm. Derric tat es ihm nach und ihm gingen die Augen auf.
Die Gesteinskette bildete die natürliche Grenze einer höhergelegenen Ebene, die nun steil abfiel, mit zerklüfteten Felsen und einem Wald, der bei genauem Hinsehen aus Riesenkorallen bestand. Wie die abgestorbenen Äste lange toter Bäume ragten sie aus dem grauen Grund des Meeresbodens hervor, lebensfeindlich und doch bevölkert von ganzen Schwärmen bunter Fische.
»Ich fühle mich, als könnte ich fliegen!«, lachte Derric auf und breitete die Arme aus. Er machte eine Rolle und schwamm einen Looping, während Gill-Ra nur den Kopf schüttelte.
»Du gebärdest dich wie ein Kind.«
»Du hast doch erlebt, wie es an der Oberfläche ist. Man klebt am Boden und wenn man für einen Moment von ihm abheben kann, währt der nur kurz und man kommt wieder unten an. Die Schwerkraft hält uns Menschen auf der Erde. Aber hier ist es ... ich spüre den Widerstand des Wassers nicht und bewege mich so leicht. So muss Fliegen sein. Wir schweben über diesen schaurigen Wald, als wären wir Vögel.«
»Oder eben Fische, Derric. Denn im Meer gibt es keine Vögel.«
Der junge Mann zog eine Braue hoch. »Du gehst auch zum Lachen in den Keller, oder? Wie kannst du das nicht genießen?«
»Ich bin’s gewöhnt! Ist doch nichts besonderes.«
»Langweiliger Stoffel«, brummte Derric nur und folgte dem Eisschwimmer. Während dessen Blick stur geradeaus gerichtet war, sah der Junge sich um und so entgingen ihm fast die Silhouetten steinerner Strukturen, die im Dunst vor ihnen auftauchten. Es musste inzwischen Nacht geworden sein, denn das ohnehin knappe Tageslicht, das durch die Wasseroberfläche eindrang, war fast völlig erloschen. Und doch konnte Derric Licht vor ihnen sehen.
»Was ist das?«, fragte er leise. Er spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken kroch.
»Haggard. Dort leben wir.«
»Das ist eure Stadt?«
»Ja. Am besten, du redest so wenig wie möglich. Gib’ meinen Leuten keinen Grund, einen Dreizack nach dir zu werfen, in Ordnung?«
Der Junge nickte, obwohl er sich fragte, was Gill-Ra dachte, das er für ein Mensch war? Derric war doch kein Idiot! Er kam mit allen Leuten, die er kannte und kennenlernte, auf Anhieb gut aus, er war respektvoll und freundlich. So zumindest sah er sich selbst und bislang hatte es noch niemanden gegeben, der das Gegenteil behauptet hätte. Doch der Junge beschloss, auf den Eisschwimmer zu hören. Sie waren immerhin ein fremdes Volk, dessen Gebräuche der junge Mann nicht kannte und nur so viel wusste, als dass sie auch nicht davor zurückschreckten, Menschenfleisch zu verzehren. Derric hatte die zugespitzten Zähne Gill-Ras und der anderen gesehen. Sie waren fast wie die eines Haifisches, wie gemacht, um Fleisch von Knochen zu schälen.
»Also dann, Zweibeiner. Willkommen in Haggard!« Gill-Ras Lächeln wirkte zynisch und wenig freundlich und so konnte der Junge nur schief grinsen und folgte dem Eisschwimmer in die Stadt des Meeresvolkes.