Die Siedlung war anders als jede, die Derric zuvor gesehen hatte. Während die Städte auf dem Festland variierten, mal aus weißem Marmor, mal aus roten Ziegeln und einige sogar ganz aus Holz errichtet worden waren, zeigte sich das Gestein in Haggard von einem seltsamen Schwarz. Es schimmerte und wirkte an manchen Stellen durchscheinend, als wäre es aus Glas.
»Solch ein Baumaterial habe ich noch nie gesehen«, murmelte der Junge fasziniert.
»Wie auch«, brummte Gill-Ra, »es stammt von einem Vulkan.« Der Eisschwimmer ließ sich auf das Straßenniveau herabsinken und Derric, der zunehmend nervöser wurde, hatte das Gefühl, dass aus den dunklen Fensterhöhlen der Gebäude unzählige Augen seine Ankunft bezeugten. Laternenartige Gefäße erhellten die Gassen zwischen den Heimstätten der Eisschwimmer. Die hausähnlichen Gebilde wirkten filigran und doch massiv, etliche waren übereinander gebaut worden, mit vielen kleinen Öffnungen wie ein Bienenstock, und vermittelten ein Gefühl der Offenheit. Der Baustil ermöglichte, dass sich drinnen wie draußen anfühlte. Es gab keine Fensterscheiben oder Türen, stattdessen wehten Vorhänge, gesponnen aus Seegras, in der sanften Strömung. Säulengänge ließen hier und da einen Blick in das Innere zu und so konnte Derric erkennen, dass sich die Meeresbewohner nicht mit vielen Möbeln oder solchem Firlefanz beluden. Bis auf einige Stücke, die mehr zum Liegen denn zum Sitzen gedacht schienen, und weiteren dieser leuchtenden Gefäße, erschienen die Wohnstätten leer.
»Ihr haltet nicht viel von Inneneinrichtung, oder?«
Gill-Ra knurrte. »Redest du von diesen Gebilden aus Holz? Wie nennt ihr sie? Mobiliar? Holz hat im Meerwasser keine lange Lebensdauer, ebenso wie die Stoffbahnen, die ihr an der Oberfläche verwendet. So wird alles, was wir benötigen, aus Vulkanstein und Seegras gefertigt.«
Derric nickte. Ihm kam das trist und düster vor, kalt und so spürte er, wie er fröstelte.
»Du magst es nicht«, befand Gill-Ra mit einem Seitenblick und zog die Braue hoch.
»Es ist ... anders, als ich es gewohnt bin, das ist alles.«
»Es wird dich freuen, dass diese gläsernen Gefäße, die dein Schiff geladen hatte, sich hier einer Beliebtheit erfreuen. Wenn sie nicht zerbrechen. Wir wissen nur nicht, was man mit ihnen macht ...«
Derric lächelte. »Man nennt sie Vasen. Wir nutzen sie, um Schnittblumen darin auszustellen. Man füllt sie mit Wasser und stellt die Blumen hinein, um sie am Leben zu halten. Die ganz großen sind Amphoren. In ihnen bewahrt man Wein oder Öl auf, manchmal auch Getreide.«
»Ich frage mich gerade, warum ihr Blumen abschneidet, um sie dann ins Wasser zu stellen. Warum lasst ihr sie nicht, wo sie sind?«
»Eine ... berechtigte Frage. Wir verzieren damit unsere Wohnung.«
Gill-Ra warf Derric einen skeptischen Blick zu und zuckte schließlich mit den Schultern. »Eitelkeit«, murmelte er und schwamm um eine Häuserecke.
Derric folgte ihm und prallte förmlich zurück, denn vor ihm eröffnete sich ein Platz, fast kreisrund, mit steinernen Bänken, von talentierten Steinmetzen verziert, und dort wimmelte es vor den Eisschwimmern, die der junge Mann zuvor nicht wirklich vermisst hatte. Als wüssten sie, dass er nicht nur ein Fremder, sondern auch ein Mensch war, wandten sich die garstigen Gesichter der Männer, Frauen und sogar der Kinder Derric zu, der unentschlossen weiter an der Seite von Gill-Ra herschwamm.
Sie waren alle unheimlich, einer schlimmer als der andere. Umgeben von dem wehenden seegrasgrünen Haar der Eisschwimmer, kam es dem Jungen vor, als triebe er in einem undurchdringlichen Wald, ähnlich dem Tiefseegras auf der Ebene zuvor. Umgeben von Monstern, die ihn in die Tiefe ziehen und fressen würden.
»Würdest du nicht so gucken, bitte? Das ist unhöflich!«
Derric sah überrascht zu Gill-Ra. »Wie schaue ich denn? Doch kaum anders als ihr.«
Der Meermann zog spöttisch eine Braue hoch. »Du magst vielleicht unsere Schwanzflosse und die Kiemen haben, aber du siehst nicht aus wie wir, sondern wie du. Dein Gesicht spricht Bände, wie abstoßend du uns alle findest! Dabei bist hier bei uns du der Hässliche!«
Zu dieser Erkenntnis war der junge Mann noch gar nicht gekommen und so zog er die Brauen hoch und machte große Augen, bevor er einfach zu lachen anfing. Gill-Ra zuckte zurück und die anderen Eisschwimmer, die das mitbekamen, betrachteten den Neuzugang noch argwöhnischer.
»Du hast Recht! Warum habe ich da nicht dran gedacht?«
»Weil Menschen für so etwas keinen Platz in ihrem egozentrischen Weltbild haben!«, knurrte Gill-Ra. »Los, beweg’ dich. Da drüben ist Lu-Ten. Wir müssen schauen, was wir von dem Krempel gebrauchen können, den wir mitgenommen haben.«
Sie schwammen gemeinsam durch die Menge. Die Eisschwimmer schienen diesen Platz wie einen Marktplatz zu nutzen. Sie hingen in Gruppen zusammen und redeten, Kinder spielten um sie herum, man schien Waren und Gegenstände zu tauschen. Wären sie nicht größer und hätten nicht diese haifischähnlichen Flossen statt Beinen, würde Derric keinen Unterschied zu einem Markt der Menschen erkennen können.
»Am besten, du setzt dich und bist still, in Ordnung?« Gill-Ra verfrachtete den Jungen auf eine Sitzgelegenheit und wandte sich seinen Kameraden zu, die endlich in Ruhe ihre Beute durchgingen. Nun, da sie wussten, wofür man das Silberbesteck ursprünglich benutzte, konnten sie auch überlegen, etwas damit anzufangen. Außerdem hatten sie Rollen mit Tuch, einige gläserne Schüsseln, die nicht zu Bruch gegangen waren und Säckchen voller Gold. Sie mussten Kapitän Feijan gehört haben. Die kostbaren Vasen aus Yangju waren nur noch Splitter und klirrten leise in dem Beutel, den Derric bei sich hatte. Er beobachtete einige der Kinder, die einen Kiesel hin und her warfen. Vermutlich war etwas, das leichter war als ein Stein, nicht fürs Spielen unter Wasser geeignet. Der Junge lächelte leicht, denn die Kleinen, nur einen Bruchteil so groß wie ihre erwachsenen Ausgaben, waren auf ihre ungewohnte Art liebreizend - was daran liegen mochte, dass sie noch nicht diese zugespitzten Zähne hatten. Die argwöhnischen Blicke und das Getuschel der anderen Eisschwimmer versuchte Derric nicht weiter zu beachten. Er musste Gill-Ra einfach vertrauen, dass man ihm wegen des Splitters in sich nichts antun würde.
»Mach’ dir nichts vor, Mann!«, hörte der Junge plötzlich Lu-Ten knurren. »Das wird niemals reichen! Sie wird immer noch welche wegholen kommen!«
»Wir finden schon mehr«, murmelte Gill-Ra und klang bedrückt. »Doch für heute ist es getan. Es ist dunkel. Morgen ist ein neuer Tag.« Der Meermann verstaute den ganzen Kram in einer großen Truhe und überließ die einem bereits älteren Eisschwimmer, dem offenbar eins der Gebäude am Platz gehörte. Er machte den Eindruck eines Krämers.
Gill-Ra schwamm ein paar Meter, bis ihm etwas einfiel und er sich herumwandte. »Was ist nun, Zweibeiner? Willst du die Nacht auf dem Marktplatz verbringen? Komm’ schon!«
Und unbehelligt von den Anderen folgte Derric ihm.