»Warum hat mich keiner angegriffen? Angepöbelt? Oder dich? Es ist merkwürdig, dass es niemanden interessiert hat, dass ich da war.«
»Derric, es ist schwer, ich weiß, aber es dreht sich nicht alles um die Menschen.« Gill-Ra zog das Tempo an und stieg über einige der schwarz schimmernden Gebäude hinweg. Er war erschöpft und frustriert und hatte keinen Nerv, sich mit den Befindlichkeiten dieses Knaben herumzuschlagen. Warum hatte ihn niemand angegriffen?! Hätte er sich das gewünscht? Mehrere hundert Meter unter der Wasseroberfläche von einer Gruppe Eisschwimmern angegriffen und durch die Mangel gedreht zu werden? Dieser Mensch war merkwürdig. Gill-Ra seufzte innerlich. Warum ihn noch niemand für sein eigenmächtiges Verhalten gerügt hatte, wusste er genau, doch er wollte es Derric nicht erzählen. Der sollte sich nur ein, zwei Tage erholen und dann dorthin zurückkehren, wo er hergekommen war. Das Leben und das Dilemma der Eisschwimmer gingen ihn nichts an!
»Wer ist ‘sie’?«, platzte der Junge jedoch in Gill-Ras Gedanken und diesem lief ein Schauer über den Rücken. Neugieriger Seehund!
»Geht dich nichts an.«
»Ich denke, nachdem ich nun zumindest auf Zeit einer von euch bin, dass ich wissen sollte, ob sich etwas Gefährliches nähert! Sammelt ihr deswegen das ganze gesunkene Gut?«
Gill-Ra schwieg und steuerte auf ein kleines Häuschen zu. Auch bei diesen war die Tür nur eine Decke aus Seegras und zwei steinerne Säulen stützten ein kleines Vordach.
»Da wären wir«, murmelte der Eisschwimmer und gewährte Derric den Vortritt. »Da du meinen Seelensplitter trägst, bin ich für dich verantwortlich. Also dass du zu Essen bekommst und einen Platz zum Schlafen. Nun, hier lebe ich.«
Der Junge sah sich um. Das Haus schien nur einen Raum zu haben, an deren Wänden sich steinerne Bänke aufreihten. Sie wirkten etwas gerundet und nicht vollkommen eben, als wären sie extra als Schlafstätten gebaut worden. Zu seiner Belustigung sah Derric, dass Gill-Ra zwei gläserne Vasen besaß, die auf Tischen aus dem gleichen vulkanischen Material standen, sowie eine große tönerne Amphore in der Ecke. Es war ein Wunder, dass das schwere Gefäß ganz geblieben war. Eine massive Truhe in einer anderen Ecke bildete das letzte Möbelstück.
»Pragmatisch. Aber ich mag deine Vasen«, grinste der Junge. Gill-Ra zuckte mit den Schultern und ein feines Lächeln lichtete sein grimmiges Gesicht.
»Wie auch immer. Diese Liege da kannst du nehmen. Hast du Hunger? Also ich schon.«
Derric sah aus einem der Fenster. »Etwas. Was machen wir? Gehen wir einfach raus und krallen uns einen von den Fischen da draußen?« Er schüttelte sich.
Gill-Ra schnaubte. »Natürlich nicht! Die gehören jemandem!«
»Warte ... willst du sagen, dass es ... Haustiere sind?«
»Ja?«
»Diese Welt wird immer verrückter. Und ist gleichzeitig meiner so gar nicht unähnlich. Bei uns laufen Hunde draußen herum, hier sind es bunte Fische.«
»Diese da mögen die Beschaffenheit unserer Häuser, deswegen lassen sie sich nicht vertreiben. Also haben wir das Beste draus gemacht. Fisch gibt es allerdings wirklich. Hering.« Der Eisschwimmer verschwand hinter einem Vorhang, den Derric zuerst gar nicht bemerkt hatte. Offenbar gab es doch noch einen Raum. Neugierig schob der Junge seinen Kopf in den Durchgang und konnte gerade noch sehen, wie Gill-Ra einen großen silbernen Fisch aus einem Käfig holte und ihm mit einem Ruck das Rückgrat brach. Dasselbe geschah mit einem zweiten.
»Ugh. Wenn du sie so in einem Käfig hältst, macht es den Eindruck, du tötest deine Haustiere.«
Der Eisschwimmer drückte seinem Gast einen Hering in die Hand und schob sich an ihm vorbei. »Ist das nicht der Sinn? Nutztiere hält man, um sie zu nutzen. Wenn ich sie lebend halte, bleiben sie frisch. Toter Fisch verdirbt auch in Meerwasser sehr schnell und das möchtest du nicht essen. Macht ihr das an Land anders?« Gill-Ra nahm auf einer der steinernen Liegen Platz und Derric bewunderte, wie er das elegant trotz seines wirklich langen Fischschwanzes hinbekam. Ohne weiteres Zögern biss der Eisschwimmer in den Fisch und trennte einen ordentlichen Bissen aus dem weißen Fleisch.
Derric wandte den Blick ab und sah auf sein eigenes Mahl. »Ähm ... wenn ich es genau bedenke, eigentlich nicht. Wir halten Kühe, Hühner und Schweine auch lebend. Kühe wegen der Kälber und der Milch, Hühner wegen der Eier, Schweine wegen des Fleischs. Wir mästen sie dick und schlachten sie irgendwann.«
»Wo ist also der Unterschied?«
»Es besteht keiner, schätze ich. Nur dass wir unser Nutzvieh nicht mit ... Haut und Haaren verspeisen. Das wird anders verwertet, von der Haut bis zu den Knochen.«
»An Fisch ist nicht viel dran, man kann alles mitessen. Nur die Augen sind hart, die solltest du ausspucken.«
Derric schluckte und sah Gill-Ra beim Essen zu. Der Junge hatte wirklich Hunger, doch etwas verdarb ihm den Appetit. Zu essen wie eine Bestie fühlte sich komisch an. Er hob den Fisch an die Nase und roch daran, doch außer einen feinen Hauch Salz bemerkte er nichts.
»Zweibeiner!«
Derric hob den Kopf und zuckte zusammen, als Gill-Ra ihm sein Messer zuwarf. Es trieb langsam auf ihn zu. »Irgendwas sagt mir, dass Menschen so etwas anders essen als wir.«
»Danke.« Wie Recht er hatte. Der Junge erhob sich und schwamm vor den Eingang, bevor er zumindest die harten Schuppen von dem Hering kratzte und die Innereien entfernte. Das Gekröse hatte er schon immer gehasst und niemals könnte er es mitessen! Er ließ die hellrosa Gedärme in der sanften Strömung davon treiben und konnte erkennen, dass die bunten Fische, die Haggard zu ihrer Heimstatt auserkoren hatten, nur zu dankbar darüber herfielen.
»Jetzt werden wir sie erst recht nicht mehr los!«, knurrte Gill-Ra, der aus dem Fenster sah, doch er schien es nicht böse zu meinen, sondern grinste leicht.
»Tut mir leid«, Derric kam wieder hinein, gab das Messer zurück und begann, sein Mahl mit den Fingern in Stücke zu zupfen. Er hatte noch nie zuvor rohen Fisch gegessen und wirklich viel Geschmack hatte er auch nicht, doch es erfüllte dankbarerweise seinen Zweck und stillte den Hunger.
»Wenn du so weit bist, leg dich schlafen! Morgen geht es auf die Jagd!«
»Und da soll ich dabei sein?«
»Natürlich! Außer du möchtest hier bleiben, ganz schutzlos, und darauf warten, dass dich meine Leute doch noch verdreschen.« Gill-Ra kicherte rau und hatte bereits die Augen geschlossen.
Derric machte sich auf seiner Liege lang und freute sich über sein einfaches, aus Seegras geflochtenes Kissen. Frieren tat er gar nicht, was ihn verwunderte, denn das Wasser musste eiskalt sein.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wer ist ‘sie’?«
Die Antwort blieb Gill-Ra Derric auch dieses Mal schuldig.