Derric starrte Gill-Ra ins Gesicht, bevor er sich verlegen abwandte. »Oh ... so ... so ist das. Verzeih’, dann habe ich was falsch verstanden.«
»Die Vorstellung, du könntest für immer einer von uns sein, ist lachhaft!«, knurrte der Eisschwimmer. »Menschen sind schlecht. Sie sind gierig und dumm. Ich half’ dir, weil es meine Pflicht ist. Nichts weiter.« Grimmig wandte Gill-Ra sich ab und fegte mit einem Wisch seiner Schwanzflosse die bunten Glasscherben auf dem Grund durcheinander. Derric betrachtete das Schauspiel und wusste nicht, warum sich das Herz in seiner Brust so schwer anfühlte. Er war unwillkommen. Eine lästige Pflicht. Warum hatte Gill-Ra ihm überhaupt geholfen? Nicht dieses Mal, sondern damals, als Derric im Sturm über Bord gegangen war. Hätte der Eisschwimmer ihn einfach ertrinken lassen, wäre er verschont geblieben. Seine Meinung über die Menschen war schließlich eindeutig und die wenigen Stunden seiner Gefangenschaft in Derrics Heimatdorf hatten sie sicher nur noch fester zementiert.
Der Junge wandte den Kopf herum und betrachtete die Meereswesen, die eifrig die Güter in zusammengeknotete Segel häuften, um sie mitzunehmen. Derric wusste nicht, wofür sie den Krempel brauchten, da sie nicht einmal gewusst hatten, welchen Zweck Besteck hatte, doch er wusste auch, dass sie ihm vermutlich nicht sagen würden, was sie damit taten. Womöglich waren die Menschen für die Eisschwimmer trotz ihrer Abneigung einfach zu interessant, um die Sachen nicht zu sammeln. Wer wusste das schon. Derric zumindest nicht. Seufzend ließ er sich zu Boden sinken und sammelte die bunten Glasscherben ein. Der Zufall wollte es, dass er einen Jutestoffsack aus den Trümmern ziehen konnte, um die Splitter zu transportieren. Unter keinen Umständen wollte er sie liegen lassen und sich den Unmut Gill-Ras zuziehen, dem gegenüber Derric sich plötzlich sehr unsicher fühlte. Das anfängliche Gefühl der Erleichterung, in der Ödnis der eiskalten Meeresoberfläche ein vage vertrautes Gesicht zu sehen, war längst verflogen. Derric war für Gill-Ra eine Last, obwohl der Junge angenommen hatte, ihre gegenseitige Schuld wäre längst abgegolten. Von den strengen Ehrvorstellungen des Eisschwimmervolkes konnte der Junge nicht wissen und so blieb ihm nur das Nachsinnen über die Gründe und ein immer stärker werdendes Heimweh nach Rus. Derric wollte nach Hause, dorthin, wo er hingehörte, in die Arme seiner Mutter.
»Zweibeiner!«, rief ihm Lu-Ten zu und der Junge zuckte zusammen. »Träum’ nicht, sonst frisst dich der Kraken. Beweg’ dich, wir brechen auf.«
»Ich komme sofort«, murmelte Derric. Zweibeiner nannten sie ihn, obwohl er eine Schwanzflosse wie sie hatte. Wie hatte er annehmen können, dieser Seelensplitter hätte ihn für immer zu einem Angehörigen dieses Volkes gemacht? Er war für sie ein Mensch wie sie für ihn Meereskreaturen waren, deren garstige Gesichter Kinder zum Weinen bringen konnten! Hässlich nach seinem Verständnis, ganz und gar nicht dem Schönheitsideal entsprechend. Zweifelnd blickte Derric auf seine Hände. Und genau so dachten sie über ihn. Gill-Ra hatte Recht. Je eher Derric den Ozean verlassen und wieder er selbst sein konnte, desto besser für alle Beteiligten.
Die Eisschwimmer waren schnell, so schnell, dass der Junge Schwierigkeiten hatte, mit ihnen mitzuhalten. Die ungewohnte Bewegung mit dem Fischschwanz, der sich so unvertraut anfühlte, ließ ihn schnell ermatten und er fiel schließlich zurück.
»Trödel’ nicht!«, rief ihm Lu-Ten zu, was auch die anderen hörten und stoppten. Sie waren allesamt beladen und wirkten dennoch kein bisschen erschöpft. Derric hingegen strapazierte seine brandneuen Kiemen, krümmte sich und rieb sich die Schwanzflosse. Die oberflächliche Stichwunde des Haifischmessers ziepte und die Muskeln brannten wie Feuer.
»Ich kann nicht mehr«, keuchte Derric und die Eisschwimmer schnalzten missbilligend mit der Zunge.
»Wirklich jetzt? Wegen der Schnecke kommen wir nach Einbruch der Nacht an! Was tun wir, Gill-Ra?«
Der Angesprochene musterte Derric, sein Blick durchbohrte ihn und der Junge wurde darunter immer kleiner. Konnte es sein, dass der Meermann seinen edlen Entschluss, ihn zu retten, bereits bereute und abwägte, ihn einfach absaufen zu lassen, weil er ihm nur Ärger machte?
Schließlich schloss Gill-Ra genervt die Augen und reichte Lu-Ten das Bündel, das er trug. »Schwimmt ihr voran. Wir bilden die Nachhut. Es ist nicht mehr weit. Ich hätte wissen müssen, dass er zu langsam ist.«
»Entschuldige mal! Lass’ dir mal zwei Beine geben und mach’ dann einen Sprint!«, presste Derric hervor. »Dann werden wir ja sehen, wer dann langsam ist.«
»Du bist hier aber nicht am Festland!«
»Ich bin auch kein Eisschwimmer!«, feuerte Derric zurück. Die Erschöpfung ließ ihn unbesonnen werden, doch da er den Kopf nach Luft ringend gesenkt hatte, konnte er das feine angedeutete Lächeln auf Gill-Ras Gesicht nicht sehen. Offenbar steckte doch Mumm in dem Jungen.
»Macht voran, damit wir ankommen!« Der Eisschwimmer scheuchte seine Männer vorwärts, die schnell hinter einem Riff verschwanden, während Gill-Ra scheinbar geduldig wartete, dass Derric zu schnaufen aufhörte. Nur das Zucken einer der kleineren Flossen an seinem Fischschwanz zeigte, dass er nicht so ruhig war, wie er schien.
»Was macht ihr hier, wenn ihr einen trockenen Hals habt? Asche, wie ist das überhaupt möglich?« Derric hustete und Gill-Ra schob die schlanken Finger in ein kleines Bündel an seinem Seegrasgürtel.
»Iss’ das.«
Der Junge musterte das kleine Etwas und nahm es zögerlich. »Was genau ist das?«
»Purpur-Meeresschnecke. Sie wirkt belebend.«
»Ein Aufputschmittel?«
»Hilft gegen das Kratzen im Hals. Wenn zu schnell zu viel Wasser durch die Kiemen geht, passiert das schon mal.«
Derric führte die kleine Schnecke an seine Nase, um wie üblich daran zu riechen, bis ihm auffiel, was er da tat. Gill-Ra musterte ihn verwundert.
»Warum musst du wissen, wie es riecht? Du sollst es essen. Es wird bald Nacht sein und da möchte ich nicht in der Ebene sein.«
Die Ebene, von der der Eisschwimmer sprach, war vielmehr ein zerklüftetes und zerfurchtes Feld voller Gestein und Felsen, bunten Fischen und dunklem Seegras, das wie das Haar eines Tiefseemonsters in der fast nicht spürbaren Strömung tanzte. Da konnte einem schon Angst und Bange werden. Der Junge schluckte und schob sich die Schnecke zwischen die Zähne. Es knackte, als er draufbiss und überrascht spürte er, wie sich sein Mund mit einem Saft füllte, der süßlich und nach Rost schmeckte. Das Blut der Schnecke rann wie ein Balsam Derrics trockenen Hals hinunter und das Husten hörte auf der Stelle auf. Und trotzdem verzog er das Gesicht und schüttelte sich leicht.
»Menschen, wirklich. Stell’ dich nicht so an, du gewöhnst dich dran.« Gill-Ra knuffte ihn mit der stumpfen Seite des Speers und setzte ihren Weg fort, langsamer, sodass Derric dranbleiben konnte.