Der Morgen in Haggard brach früh an. Doch nicht früh genug für Derric, der bereits lange bevor das erste Leben sich in der Stadt regte, am Fenster saß und dem Treiben der Fische zusah. Nur wenige Stunden Schlaf waren ihm vergönnt gewesen, unruhige Stunden voller Sorge darüber, was die Zeit bei den Eisschwimmern für ihn bedeuten mochte. Gill-Ra hatte ihm zugesichert, dass man ihm kein Leid zufügen würde. Doch reichte sein Einfluss dafür aus? Derric hatte noch nicht ergründen können, wie das Machtgefüge bei dem Meeresvolk beschaffen war. Hatte es einen König? Oder hatte Haggard einen Bürgermeister, der als Anführer aller Eisschwimmer fungierte? Gab es mehr als diese Stadt? Waren die Kreaturen womöglich in Siedlungen über das ganze Eismeer verteilt? Konnte Gill-Ra wirklich eine solche Entscheidung treffen und einen Menschen in ihre Mitte holen, ohne dass ihm dafür Konsequenzen drohten?
Und wer war ‘sie’, vor der die Eisschwimmer anscheinend Angst hatten, über die Gill-Ra Derric jedoch nicht hatte aufklären wollen? Für den jungen Mann waren das viel zu viele offene Fragen, um einfach dieses außergewöhnliche Abenteuer in dieser fremden Welt zu genießen, von der es immer nur geheißen hatte, sie wäre kalt, trostlos und ohne Farben.
War er am Ende von der einen tödlichen Gefahr in eine andere geschlittert? Derric schmunzelte bei dem Gedanken. Zumindest hatte er in der Situation, in der er sich jetzt befand, die Möglichkeit, sich gegen den Tod zur Wehr zu setzen. Das war ein Anfang.
Derric wandte den Kopf herum, als er hörte, wie Gill-Ra sich brummend aufsetzte. Er rieb sich über das Gesicht und den Kopf und wirkte genauso verkatert wie ein Mensch, der gerade wachgeworden war. Gänsehaut hatte sich auf seiner silbrig wirkenden Haut gebildet und er schüttelte sich, als wäre ihm kalt. Auch Derric hatte dieses Erlebnis gehabt, als er erwacht war. Durch die stundenlange fast völlige Bewegungslosigkeit während des Schlafs mussten die Muskeln der Eisschwimmer so auskühlen, dass sie die Kälte des Wassers um sich herum spüren konnten.
»Guten Morgen«, sprach der junge Mann den Meereskrieger an, der unwillig knurrte und ihm das Gesicht zuwandte.
»Rede nicht mit mir.« Gill-Ra erhob sich, streckte sich lauthals murrend und griff anschließend in eine seiner Vasen, um eine Handvoll der kleinen Purpurschnecken hervorzuziehen, von der er Derric am Vorabend eine gegeben hatte. Nach und nach schob der Eisschwimmer sich einige davon in den Mund und erst dann wirkte er wirklich wach. Die belebende Wirkung der kleinen Tierchen setzte unverzüglich ein. Derric konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Auch das Meeresvolk brauchte morgens etwas zum Wachwerden!
»Was grinst du so, Seehund?«
»Wir brauchen morgens Kaffee oder einen starken Tee.«
Gill-Ra sah auf seine Hand und die restlichen Schnecken darin. Ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht.
»Oh. Ja. Möchtest du auch welche?«
»Nein, danke. Ich bin nicht mehr müde.«
Der Eisschwimmer legte die übrigen Muntermacher zurück in die Vase und verschwand in der Kammer mit den Heringen. Wortlos reichte er kurz darauf einen zusammen mit seinem Messer an Derric weiter und ließ sich sein Frühstück schmecken. Der junge Mann putzte sein Mahl und warf das für ihn ungenießbare Zeug zum Fenster hinaus, wo ein kleiner Schwarm bunter Fische wie ein Rudel Straßenkatzen begann, sich darum zu balgen.
»Ein Vorschlag? Gib’ es das nächste Mal einfach mir. Ich esse das nämlich.«
»Oh!«, machte Derric und wich verlegen Gill-Ras Blick aus. »Das tut mir leid. Ich hab nicht daran gedacht. Ich hab gutes Essen verschwendet ...«
»Lass’ gut sein mit dem Gejammer. Verschwendet ist nichts, was jemanden satt macht. Wenn es nicht ich bin, sind es die Fische draußen. Nur ... mag ich die Innereien ganz gern und wenn du sie nicht willst, nehm’ ich sie.«
»In Ordnung«, schmunzelte Derric.
Nach dem schweigend erfolgten Frühstück erhob sich Gill-Ra wieder und nahm seinen Speer. Er zögerte und wandte sich zu seinem Gast herum.
»Na, was ist nun? Kommst du oder kommst du nicht?«
»Oh! Du meintest das ernst, dass ich mitkommen soll!«
Der Eisschwimmer zog die Augenbraue hoch und schaute garstig drein. »Ja, ich lüge nicht. Hier würdest du dich vermutlich ohnehin nur langweilen. Ich weiß ja nicht, was ihr an der Oberfläche tut, um euch die Zeit zu vertreiben.«
»Arbeiten, die meiste Zeit des Tages.«
»Und sonst? Wenn ihr nicht arbeitet?«
»Sitzt man mit Nachbarn und Freunden zusammen, bereitet zusammen ein Mahl zu, isst gemeinsam, trinkt, macht Musik, tanzt. Spielt Spiele. Oder man liest ein Buch.«
»Ein ... Buch ...«, wiederholte Gill-Ra. Sein Gesicht machte deutlich, dass er mit diesem Wort nichts anfangen konnte.
»Geschriebene oder gedruckte Worte auf Seiten aus Papier. Bücher halten Geschichten in Schriftform fest, geschichtliche Fakten oder auch einfach persönliche Gedanken, die man hineinschreibt.«
»Oh ... ich weiß nicht, was Papier ist«, gab der Eisschwimmer zu, zuckte schließlich mit den Schultern und ruckte mit dem Kopf, auf das Derric ihm nach draußen folgte. »Aber Spiele spielen wir hier auch, veranstalten Wettschwimmen oder Zielwerfen und dergleichen.«
»Wie haltet ihr die Geschichten eures Volkes fest, wenn ihr sie nicht aufschreiben könnt?« Derric folgte ihm.
»Oh, schreiben können wir schon. Wir tun es auf Steintafeln.«
»Mit Hammer und Meißel? Und das geht unter Wasser?«
Gill-Ra brummte. »Na, warum denn nicht? Was ist denn Papier? Erklär’s mir. Würde es sich unter Wasser halten, hätten wir es sicher.«
Leicht den Kopf schüttelnd schwamm der junge Mann neben dem Eisschwimmer her. »Es ist aus Holz, manche verarbeiten auch Textilfasern von alten Kleidungsstücken, um daraus Papier zu schöpfen. Im Wasser wird es weich und löst sich in seine Bestandteile auf. Wahrscheinlich im Meerwasser sogar noch schneller.«
»Siehst du? Uninteressant also.«
»Ja. Leider.«
»Ach, zieh nicht so ein Gesicht. Du musst ja nicht hier leben und brauchst somit deine geschriebenen Worte nicht zu vermissen. Und wir vermissen nicht, was wir nicht kennen. Wir erzählen einander unsere Geschichten und Legenden, von den Eltern auf die Kinder, so bleiben sie lebendig. Allein ein ... Buch zu lesen, klingt nämlich ziemlich einsam.«
»Man macht es allein. Aber einsam ist man dabei nicht. Man folgt ja den Figuren durch die Geschichte.«
Gill-Ra schmunzelte. »Ich hab mir schon gedacht, dass du ein Träumer bist. Los, dort sind die anderen. Mach’ dich auf was gefasst, wir gehen auf Robbenjagd!«