Derric richtete sich auf und rieb sich die Augen. Er musste einige Stunden geschlafen haben, denn die Sonne war dabei, rotglühend im Meer zu versinken. Die Möwen waren noch immer unablässig dabei, ihre fette Beute zu besingen, doch das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Hatte er nicht ein lautes Platschen gehört? Und Stimmen? Oder wurde er langsam verrückt? Mühsam richtete er sich auf und hielt sich an den Planken fest. Der Rumpfteil wiegte sich im Wasser, kenterte aber nicht und so konnte der junge Mann den Blick über die weite Meeresoberfläche wandern lassen. Natürlich war nichts weiter zu sehen als flammend roter Himmel und Eisberge, wohin er auch sah. Warum er noch nicht erfroren war, war Derric ein Rätsel.
Obgleich er eine lange Zeit geschlafen hatte, war er erschöpft und seine Glieder schmerzten, ganz zu schweigen von seinem Kopf. Derric hatte furchtbaren Durst und rieb sich die Kehle, bevor er kraftlos wieder zusammensackte. Noch immer spürte er die bleierne Müdigkeit, die die Kälte ihm geschickt haben musste, um sein Sterben zu erleichtern. Ohne wirklich etwas zu sehen, pulte er Eiskristalle vom Stoff seiner Hose und starrte an den Horizont. Bald würde es ganz dunkel sein. Wie das wohl sein würde, wenn die Eisberge wie Wolken über das Meer trieben, nur beschienen vom Mond und den Sternen?
Nur beiläufig wanderte sein Blick auf das Wasser in seiner direkten Umgebung. Die Fässer und die Leichen seiner Kameraden hatten sich längst entfernt, alle Trümmer waren entweder versunken oder weiter auseinander gedriftet. Er saß vollkommen isoliert auf seiner kleinen Insel, die sein Grab werden würde. Doch plötzlich zuckte er und spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken glitt, der nicht von der Kälte kam.
War da unter der Oberfläche nicht etwas? Etwas, das heller schien als die Wassermassen? Oder fing seine vom Durst und Hunger strapazierte Fantasie bereits an, ihm Bilder des Wahnsinns zu schicken? Angespannt setzte er sich auf und fixierte den Punkt. Angst bohrte in ihm und die Ungewissheit, was in diesen Gefilden noch alles an Gefahren lauerte. Derric hatte sich zwar einen schnellen Tod gewünscht, doch von einem Seemonster verschlungen werden, war nicht damit gemeint gewesen. Er griff nach dem Fischerhaken, der neben ihm lag, als der helle Fleck sich zu bewegen begann und klammerte sich an diese Waffe wie an einen Schild, als tatsächlich etwas vor ihm auftauchte. Gleich mehrere Etwas, deren scharfe Flossen die Meeresoberfläche durchstießen wie die charakteristischen Merkmale eines Hais, der seine Beute belauerte. Sie beobachteten Derric mit durch die untergehende Sonne glühend roten Augen, als warteten sie nur darauf, ihn in die Tiefe zu ziehen und zu fressen.
»Lägg ner det«, sprach ihn eine der Kreaturen mit rauer Stimme an und näherte sich ihm. Derric ließ den Haken tatsächlich fallen, der durch den Schwung ins Wasser fiel und versunken wäre, wenn das Meereswesen ihn nicht festgehalten hätte.
»Gill-Ra?«, krächzte der Junge heiser und mit trockener Kehle. Er hockte sich auf die Knie, als der Angesprochene seine krallenbewehrte Hand auf das Holz des Wracks legte und nickte. Er verzog überrascht und irritiert das Gesicht, als Derric in Tränen ausbrach und sich schluchzend mit dem klammen Hemd über die Augen rieb. Weinen war den Meereskreaturen völlig fremd und so konnte der Junge hören, wie die anderen Wesen, Gill-Ras Gefährten, in ihrer merkwürdigen rauen Sprache zu reden anfingen.
»Var lugn!«, knurrte Gill-Ra ihnen zu und Derric vermutete, dass er ihnen den Mund verboten hatte, denn sie verstummten und begnügten sich damit, den jungen Mann weiter mit ihren garstigen grimmigen Gesichtern zu taxieren.
Derric wusste nicht, wie er sich fühlen sollte. Er saß bis zum Hals in der Klemme, in einer für einen Menschen absolut lebensfeindlichen Umgebung und er konnte nicht darauf hoffen - er durfte es nicht - dass der schaurige Meermann ihm ein weiteres Mal das Leben retten würde. Wegen dieser Tat hatte Derric Gill-Ra davor bewahrt, in seinem Heimatdorf von den Seeleuten geschlachtet und seziert zu werden. Seinen Lebensretter im Stich zu lassen war ehrlos. Doch diese Schuld war abgegolten, sie waren quitt und Gill-Ra hatte keinerlei Grund, ihm erneut zu helfen. Derric zuckte zurück, als die Kreatur die Hand hob und mit den eiskalten Fingern über seine Wange strich, die Tränen abwischte und die Fingerkuppen an ihren Mund führte.
»Saltvatten«, murmelte Gill-Ra irritiert und voller Neugier musterte er sein Gegenüber.
»Ich verstehe dich immer noch nicht«, entgegnete Derric matt und schniefte. Die Meereswesen konnten ihm nicht helfen, sie waren schließlich mitten im Nirgendwo. Gill-Ra taxierte das Gesicht des Jungen mit seinen schlammgrünen Augen, denen ein roter Schimmer innewohnte, der Derric an ein Moor erinnerte.
»Bedeutet Trauer?«, fragte der Meermann rau und der Angesprochene nickte nur bedrückt.
»Gill-Ra helfen. Derric Vertrauen?«
Der Junge lächelte leicht, denn es freute ihn, dass das Wesen sich noch an seinen Namen erinnern konnte. Skeptisch ließ er den Blick über die Wasseroberfläche wandern, hin zu der Gruppe Meereskreaturen, die nicht den Eindruck machten, als wären sie so hilfsbereit wie ihr Anführer. Und tatsächlich löste sich eine von ihnen und näherte sich Gill-Ra. Zischelnd und harsch tauschten die beiden ein paar Worte in ihrer merkwürdigen Sprache aus, bis der Gefolgsmann Derric schließlich einen Blick zuwarf, fauchte und seinem Anführer zunickte.
»Ihr werdet mich nicht töten, oder?«
Gill-Ra zog eine Augenbraue hoch, er verstand den Zweibeiner auch nicht wirklich, doch er versuchte sich an einem Lächeln und zückte eine gezackte Klinge, die aussah, als wäre sie aus einem Stück Haigebiss gefertigt worden. Derric zuckte zurück und schob sich weiter auf das Holz, doch Gill-Ra streckte ihm die Hand entgegen.
»Du vertrauen. Gill-Ra helfen, nicht töten!«
Der Junge ergriff die eisigen Finger zögerlich und zischte, als die Klinge des Haizahnmessers seinen Handballen aufriss. Das Blut, das aus der Wunde quoll, wirkte blass und dick. Derric war dehydriert.
»Du vertrauen?«
Mit einem Kloß im Hals nickte der junge Mann und schluckte, als Gill-Ra den gleichen Schnitt an seiner Haut vollführte. Sein Blut war grün und er streckte den Arm nach Derric aus, um seine verletzte Hand zu ergreifen.
»Derric gleich gut. Gill-Ra gibt Själskärva.«
Der Junge wusste nicht, was das Meereswesen damit meinte, doch als ihre Handflächen sich berührten und das Blut sich miteinander vermischte, begann Gill-Ras Brust zu leuchten. Er krümmte sich leicht und ein winziger Lichtfunke glitt durch seinen Leib hindurch bis zu der feinen Wunde, erstrahlte dort und drang sodann mühelos in Derrics Körper ein, der besorgt und mit pochendem Herzen dabei zusah und nicht verstand, was hier geschah.
»Gut aufpassen«, murmelte Gill-Ra, denn was immer soeben mit ihm geschehen war, es schien ihm Schmerzen bereitet zu haben. Seine Gefährten sahen aus gebührendem Abstand zu, die Münder neugierig geöffnet, hin und her gerissen zwischen Abscheu und Faszination.
Derric musterte sie einen Moment verwundert, bevor rasende Pein durch seinen Körper flammte, er aufschrie und der Länge nach zur Seite kippte.