Unter der Wasseroberfläche merkte man nichts von der beißenden Kälte des Windes oder dem Geschrei der hungrigen Möwen. Eine dumpfe Stille herrschte, doch nur für den, der nicht hören konnte, wie lebendig die See auch unter den Wellen war. Das kalte Nordmeer, von den Bewohnern des Festlandes als weiß, farblos und lebensfeindlich betrachtet, verbarg in seinen Tiefen Farbe und eine mannigfaltige Vielfalt an Kreaturen, aber auch den immerwährenden Kampf um das Überleben, manchmal sichtbar, manchmal verborgen.
Mitten hindurch durch einen Schwarm leuchtend roter Fische schossen sie - eine Gruppe von bizarr erscheinenden Wesen, deren lange, schlanke Körper in einem scharfen Fischschwanz, ganz ähnlich dem eines Hais und doch ganz anders, mündeten. Ihr drahtiger Rumpf und die muskulösen Arme, denen eines Menschen gleich, waren unbekleidet und in ihren starken, klauenbewehrten Fingern trugen sie lange Speere, denn es waren Jäger. Garstige, streng wirkende Gesichter mit grimmigen Brauen über schlammgrünen Augen, die wie die Augen einer Katze rot leuchteten, wann immer das Licht günstig in sie fiel, unterstrichen die Gefahr, die von den Wesen ausging. Ebenso wie das wilde Haar in der Farbe von Algen, das die Köpfe bei jeder Bewegung des Wassers umtanzte wie eine Flamme. Das feine Klickern der Muscheln, befestigt an den Gürteln der Kreaturen, gesponnen aus Seegras, zur Zier und zum Transportieren ihrer weiteren Waffen, konnten nur sie selbst hören, während sie in enormer Geschwindigkeit durch die eiskalten Fluten jagten. Die Neugier trieb sie und der Drang danach, Dinge zu finden, die den Menschen an der Oberfläche gehörten, denn sie waren auch Sammler und erfreuten sich an den Alltagsgegenständen, die für sie selbst skurril waren. Auch das Gold, das die Menschen oft mit sich führten, war ein begehrtes Gut, auch wenn es für die Meereskreaturen nicht denselben Wert hatte.
Der Sturm der vergangenen Nacht war auch unter Wasser nicht unbemerkt geblieben und Späher hatten von einem Schiff berichtet, das dem Auge des Unwetters erlegen war. Und tatsächlich konnten sie auf einer Erhöhung am Meeresgrund die ersten Trümmer einer Galeere erkennen, zusammen mit unzähligen Teilen Schrott und gesunkenen Fässern, Truhen und Dingen, die wie Möbelstücke aussahen. All die traurigen Überreste hatten sich gleichmäßig auf einer Felsformation und in einem breiten Radius drumherum verteilt, als hätte etwas das Schiff in einem Stück unter Wasser gedrückt und bersten lassen.
»Ziemlicher Wellengang letzte Nacht!«, schnarrte eine der Kreaturen und lachte rau, während die anderen die Geschwindigkeit noch steigerten und neugierig über das Fundgut am Meeresgrund schwammen, die scharfen Augen Ausschau haltend nach etwas, das ihnen interessant vorkam.
»Schaut, es ist nicht alles gesunken! Lasst uns die Oberfläche überprüfen, solange es noch hell ist, bevor wir hier suchen!« Eine zweite Kreatur, der Anführer, hob ihren Speer empor. Schaurig wie Marionetten, denen man die Schnüre durchtrennt hatte, glitten die Körper ertrunkener Matrosen langsam gen Meeresboden und an der Oberfläche waren deutlich noch mehr Leiber und Trümmer zu erkennen. Das Wesen verzog den grimmigen Mund, es konnte kein Mitleid mit den Männern empfinden, denn es hatte erleben müssen, wie diese Menschen waren - grausam, engstirnig und todbringend um jeden Preis. Es setzte sich in Bewegung und durchbrach schon Sekunden darauf die Wasseroberfläche, an der der eisige Wind über seine klitschnassen Haare strich wie eine Axt. Für einen Moment geblendet von der niedrigstehenden Sonne, sah sich die Kreatur um. Tatsächlich trieben noch mehr Leichen und Fässer herum und die reich geschnitzte Galionsfigur des Schiffes trotzte den Wellen. Sie war sehr gelungen und zeigte eine Meerjungfrau, wie es sie so hoch im Norden nicht gab. Eine idealisierte Fantasie der Seemänner, wie Kreaturen des Meeres aussahen, doch glichen sie mehr ihren eigenen Weibern als denen des Meervolkes. Schwer die kalte Luft einatmend, bewegte sich das Wesen an die Trümmer heran. Die meisten Fässer waren leer oder inzwischen mit Wasser gefüllt, was den verderblichen Inhalt ruiniert hatte, und Reichtümer waren unter Garantie bereits gesunken. Das Gekreisch der weißen Vögel, die über der Unglücksstelle kreisten, machten der Kreatur nur zu deutlich, dass sie hier keine Überlebenden finden würden und was sollten sie mit denen auch anstellen? Sie waren mitten auf dem Ozean, bis ans Festland war es viel zu weit und die nächste Küste war eine von Eis bedeckte Ödnis, die den Zweibeinern den Rest geben würde. Da wäre es mildtätiger, die Menschen einfach zu ersäufen.
Ein leiser Pfiff zog die Aufmerksamkeit des Wesens auf seine Kameraden, die ihm gefolgt und um den treibenden Rest des Schiffsrumpfes herumgeschwommen waren.
»Schaut nur!«, raunte eine der Kreaturen, hob ihren Speer und deutete auf ein kümmerliches Häufchen Elend, das sich in eine Nische des zersplitterten Schiffes gezwängt hatte. »Was meint ihr, ist es tot?« Sie hatten den schlafenden Derric entdeckt.
»Nein«, brummte der herbeigerufene Anführer, zog die Augenbrauen kraus und näherte sich dem Wrack. Die Kreatur zuckte, denn das Gesicht des vor ihr schlummernden Burschen kam ihr bekannt vor. Zweimal hatte sie ihn schon gesehen und beide Male war einer von ihnen in Gefahr gewesen. »Ich kenne dich!«
Als der junge Mann im Schlaf brummte und sich rührte, schraken die Meereswesen zurück und hoben gleichzeitig ihre Speere.
»Hört auf.«
Doch als Derric die Augen öffnete, konnte er nur noch die schnelle Bewegung ausmachen und das Platschen hören, mit der die Kreaturen untertauchten. Sie trauten ihm nicht, egal, was ihr Anführer sagte. Einige Meter unterhalb der Oberfläche fixierten sie den Menschen mit ihrem scharfen Blick.
»Was tun wir mit ihm? Überlassen wir ihn der Kälte? Bis morgen wird er unmöglich überleben. Ertränken wir ihn und nehmen ihn mit nach Hause? Er macht uns eine Weile satt.« Die Wesen sahen zu ihrem Anführer, der Derric nicht aus den Augen ließ und schließlich den Kopf schüttelte.
»Nein, das werden wir nicht.« Das Knurren der Kreatur klang widerwillig, doch die Gesetze ihres Volkes waren eindeutig. »Ich kann nicht. Meine Ehre gebietet, dass ich mich seiner annehme.«
»Willst du andeuten, dass er der Zweibeiner ist, der dich aus der Gefangenschaft entlassen hat? Wenn dem so ist, hat er nur abgegolten, dass du ihn vor dem Absaufen gerettet hast - was du nicht hättest tun sollen! Damit seid ihr quitt und wir können ihn fressen!«
»Nein! Du weißt genau, dass es nicht so einfach ist. Wir werden ihn mitnehmen. Aber lebendig!«
Die Meereswesen sahen ihren Anführer und anschließend einander an. Es gab nur eine Sache, die so etwas möglich machte und was er da andeutete, tun zu wollen, hatte zu ihren Lebzeiten noch nie einer von ihnen für einen Menschen getan.