*Sixty-Minutes-Halloween-Special*
16 +
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Als Zachary auf die Minute vor Mitternacht in mein Zimmer kam, wusste ich, dass etwas passiert sein musste. Normalerweise schlief er um diese Zeit.
"Edith, bist du wach ...?", wisperte er und schloss leise die Tür hinter sich.
"Ja. Was ist los?"
Er antwortete zunächst nicht und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.
"Da war jemand."
"Was? Wo?"
"In meinem Zimmer."
Ich sah, dass er sich mir zuwandte, seine Augen glänzten im faden Licht der Straßenlaternen vor dem Haus.
"Papa? Oder Mama?", fragte ich, doch er schüttelte den Kopf.
"Er war klein. Und seine Finger waren kurz."
"Er war? Was redest du da?"
"Er ist nicht mehr da", meinte er und verschränkte seine Hände ineinander. Ich setzte mich auf und tastete nach ihnen, bis ich auf seine Handrücken traf. Seine Haut war kühl und die Finger zittrig.
"Ist dir kalt? Kannst du nicht schlafen?"
"Mir ist nicht kalt. Ich bin auch nicht müde. Ich ..."
Erneut zögerte er. Das sah Zachary nicht ähnlich. Er war mit seinen acht Jahren ein äußerst gesprächiges Kind, doch nun lag ihm etwas auf der Seele. Ich legte meine Finger um seine kalte Hand.
"Du hast bestimmt schlecht geträumt. Wenn du möchtest, kannst du bei mir schlafen ..."
"Nein, wir ... er hat gesagt, wir können nicht mehr schlafen. Nie mehr."
Seine Stimme begann zu beben und ich spürte, wie mein Herzschlag unwillkürlich anzog.
"Wer hat das gesagt?"
"Der Sandmann."
Ich hielt den Atem an. Vielleicht hätte ich lachen sollen, doch in seinen Worten lag eine solch tiefe Angst, dass mir nicht danach zumute war.
"Der Sandmann?"
"Ja. Er hat gesagt, dass jemand jede Nacht gegen das Gebot verstößt. Dann hat er in seinen Traumbeutel gegriffen und sich seinen Sand in die Augen gerieben. So viel, bis es geblutet hat. Und jetzt liegt er da und ... ich weiß nicht. Vielleicht schläft er, aber vielleicht ist er auch tot."
"Was ...?"
"Was machen wir jetzt? Der Sand liegt überall auf dem Boden. Soll ich ihn auffegen und wegtun ...?"
Danach verstummte er. Ich drückte seine Hand ein wenig fester zusammen. Er hatte schreckliche Angst. Ich nahm meinen Mut zusammen.
"... Zeigst du ihn mir?"
🌟🌟🌟
Wenn ich damals gewusst hätte, was der Tod des Sandmanns auslösen würde, wäre ich vermutlich in Panik geraten. Vielleicht war es Schicksal, dass er seiner Existenz in Zacharys Zimmer ein Ende bereitet hatte. Der Körper war bereits zerlaufen, als wir zusammen nachgesehen hatten, und Zachary hatte sich auf einen großen Teil des Traumsands übergeben. Trotzdem war es uns gelungen, mehrere Kilogramm in kleinen Kästchen zu verschließen.
Das war die beste Entscheidung unseres Lebens gewesen.
Glaubte ich.
🌟🌟🌟
Als ich die Augen aufschlug, fiel mein Blick auf die digitale Zeitanzeige an der Decke. Es war eine Minute vor Mitternacht, genau wie vor zehn Jahren. Das halbe Korn, das ich mir jeden Tag in die Augen rieb, reichte nur noch für drei Stunden Schlaf. Mein Körper litt allmählich unter dem Entzug, aber es ging mir bei weitem besser als dem Rest dort draußen. Meine Haut faulte mir nicht von den Knochen und meine Lichtrezeptoren waren noch intakt. Viele Süchtige träufelten sich zu viel Sandkonzentrat in die Augen, woraufhin sie erblindeten. Es gab so viele von ihnen, die auf den Straßen umherirrten und irgendwann bei vollem Bewusstsein verhungerten. Mittlerweile fühlte sich niemand mehr für die Leichenberge zuständig. Auch nicht derjenige, der sie zu verantworten hatte.
Aber das würde heute ein Ende haben.
Ich stand auf und schlich auf Zehenspitzen durch die Villa. Der Handel mit dem Traumsand hatte Zachary und mir Reichtümer beschert, die sich niemand vorstellen konnte. Für drei, vier Körner hatte man uns Besitzurkunden von Grundstücken überreicht oder die Schlüssel von High-Class-Wagen in die Hand gedrückt. Anfangs hatten wir viel zu viel Sand rausgegeben, aber wir hatten es einfach nicht besser gewusst und Mitleid gehabt. Dieses Gefühl war mittlerweile eingeschlafen. Besonders Zachary nutzte seine Macht, um sich alles zu besorgen, wonach ihm der Sinn stand. Frauen, die vor Übermüdung kaum mehr stehen konnten, mussten ihn stundenlang befriedigen. Manchmal ritzte er mit einem Messer Narbentattoos in ihre Haut, damit er sie später wiedererkannte und nicht zweimal dieselbe abschleppte. "Verfaultes Fleisch" erregte ihn nicht. Und ich hatte es satt, nach seinen Orgien die Sandleichen in den Hof zu schaffen.
Als es Mitternacht schlug, klopfte ich an seine Tür. Er öffnete nur zögerlich und blinzelte, vermutlich hatte er sich gerade eine Überdosis Schlafsand zugeführt.
"Was is'?"
"Bist du alleine?"
"Kann sein", sagte er und nickte über seine Schulter. "Ich hab's heut mit 'nem Kerl und seiner Alten versucht, aber die waren beide so durch, dass sie verreckt sind, ehe ich fertig war. Hab mir eben 'nen Schuss gegeben, bin noch bisschen daneben."
"Wie viel Sand hast du noch?"
"Wie viel? Kein Plan. Dreihundert Gramm?"
"Okay."
"Brauchst du Stoff?", fragte er verlangsamt, während ich mich an ihm vorbei ins Zimmer schob. Seine nächtlichen Gespielen lagen nackt und blutig auf dem Tigerfell. Daneben stand ein Döschen Sand, das er ihnen wahrscheinlich versprochen, aber nie verabreicht hatte.
"Ist schon erbärmlich, was Menschen tun, wenn sie verzweifelt sind", sagte er und lachte düster. "Weißt du noch, wie Mama mich auf Knien um fünf Körner angefleht hat?"
"Ja."
"Und dein Ex, dieser Schwachsinnige ... hat sein Ding vor der Kamera in einen Pavianarsch gesteckt. Der arme Affe. Das Video müssen wir uns unbedingt wieder ansehen, oder?"
"Nein", erwiderte ich und drehte mich zu ihm um. "Du musst dir gar nichts mehr ansehen."
Er musterte mich defokussiert, wahrscheinlich kickte die letzte Dröhnung gerade. Das war der richtige Zeitpunkt, um zu tun, was ich schon vor Jahren hätte machen sollen.
Ich packte ihn an den Schultern, drängte ihn an die Wand und griff in meine Pyjamatasche. Dann drückte ich ihm das Messer so fest an die Kehle, bis sich ein dünner Blutfaden an der Klinge bildete.
"Du bist schuld, dass diese Scheißwelt zugrunde gegangen ist", zischte ich. "Du hättest verhindern müssen, dass der Sandmann aufgibt."
Zachary antwortete nicht. Er war vermutlich viel zu zugedröhnt, um meine Worte deuten zu können.
"Dreihundert Gramm von acht Kilo sind übrig ... Du hast alles kaputt gemacht ..."
"Ach, wirklich ...", wisperte er und grinste leicht. "Wir wissen doch beide, warum sich der Sandmann damals umgebracht hat ... stimmt's?"
Ich hielt inne, der Druck auf das Messer ließ nach. Erinnerungen schnitten sich in mein Gedächtnis wie eine scharfe Papierkante. Das Lächeln auf Zacharys Lippen verblasste. Und dann lag nur noch Abscheu in seinem Blick.
"Geh nach dem Sandmännchen schlafen, sonst geschieht Böses", ahmte er die Stimme unserer Mutter nach. Dann drückte er mich an den Schultern auf die Knie und öffnete seinen Gürtel.
"Wer von uns Beiden hat sich nicht daran gehalten, Edith?"