Lola hatte immer die Befürchtung, dass ihre Bemühungen nicht ausreichten. Dass sie niemals an das Talent ihrer Geschwister herankommen würde, weil ihr das Fingerspitzengefühl fehlte. Dabei arbeitete sie seit ihrem siebten Lebensjahr kontinuierlich an ihren Fähigkeiten, hörte aufmerksam zu, wenn ihr Vater die Grundlagen mit ihr durchging. Trotzdem glaubte sie, niemals seine Klasse erreichen zu können. Nicht mal die ihres Bruders Tom, der so viel weniger Zeit in die Feinheiten investierte. Er machte sich keine Mühe, die Wunden sauber zu schließen, Hauptsache die Naht hielt. Sie hingegen hielt sich pedantisch lange daran auf und vergaß häufig die Zeit. Wie oft hatte ihr Tom schon das Kunstwerk unter den Händen weggezogen, weil sie die Stiche zu achtsam gesetzt hatte? Das muss jetzt raus, hatte er gesagt, gleich kommen Neue. Klemm dir deinen Perfektionismus, Kleine.
Lola seufzte. Es waren immer dieselben Phrasen. Kleine. Mäuschen. Nur, weil sie mit Sorgfalt vorgehen wollte. Immerhin handelte es sich bei ihren Werkstücken nicht um einen Haufen Lumpen. Aber das war ihrem Vater und Tom ziemlich egal. Auch, dass das Material immer jünger wurde. Solange das Geld stimmte, stellten sie keine Fragen und zerlegten einen nach dem anderen, packten die Wertstoffe auf Eis, vakuumierten sie und schickten sie ins Zwischenlager. Wie das Produkt weiterverarbeitet wurde, wusste niemand in Lolas Verwandtschaft. Sie wurden nur dafür bezahlt, den Wirt auszunehmen und zu entsorgen. Ein Familiengeschäft, dass seit der verstärkten Schleppertätigkeit florierte. Tom ging wahrscheinlich davon aus, dass er das Unternehmen in Zukunft leiten würde. Aber Lola hatte auch noch ein Wort mitzureden. Spätestens in einem Jahr, wenn sie endlich 18 wurde. Dann würde sie als Teilhaberin dafür sorgen, dass endlich eine Kühlhalle angemietet wurde; die Truhen in der Garage fassten längst nicht mehr alle Abfallprodukte. Und sie würde schärfere Messer verlangen, die die Sehnen geschmeidiger vom Knochen trennten. Ein Radio neben der Werkbank wäre auch nicht schlecht ...
"Lola, bist du durch mit dem Thai? Papa hat drei Chinesen im Kofferraum, jeweils Herz und Leber. Schaffst du das bis zum Abendbrot?"
"Ja", erwiderte sie und schloss die Naht, trat einen Schritt zurück und betrachtete den nierenlosen Kinderkörper. Schade, dass sie die Augen nicht entfernen durfte, die waren überaus schön. Aber sie war nun einmal ein Dienstleister; der Auftraggeber bekam nur, wofür er zahlte.
Es war schon nicht leicht, in diesem Metier eine Perfektionistin zu sein.