Ich legte mein Besteck zusammen und schob den Teller zur Seite. »Das tat jetzt echt gut, danke!«
Ich hatte viel mehr gegessen, als ich eigentlich wollte, aber es war auch einfach zu lecker gewesen. Erst jetzt merkte ich, wie gut es tat, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Die letzten Tage hatte ich auf eine seltsam angespannte Art nur in meinem Kopf verbracht. Ich hatte mich nur noch um meine rasenden Gedanken gedreht. Jetzt merkte ich wieder, dass ich auch einen Körper hatte und der fühlte sich gerade überraschend wohl, in dieser gemütlichen kleinen Küche.
Mir gegenüber saß der stille Mitbewohner von Anna und Sven und spielte gedankenverloren mit seiner Gabel. Ich beobachtete ihn verstohlen. Wenn es hier tatsächlich einen schwulen Hippie gab, dann war er es. Jedenfalls hatte ich selten so einen wunderschönen Mann gesehen. Er hatte einen zarten Porzellanteint, für den ich getötet hätte, lange schwarze Wimpern, für die ich bei näherer Betrachtung erst recht getötet hätte, und einen dichten, dunklen Schopf. Ich war mir nicht sicher, ob er Stunden damit verbracht hatte, seine Haare so zu stylen, dass sie hinreißend ungestylt aussahen, oder ob er morgens einfach so aus dem Bett gestiegen war.
Aber er war wortkarg und musterte mich nur hin und wieder mit einem scheuen Blick. Ich kicherte innerlich. Wahrscheinlich war er einfach nicht die hellste Kerze am Christbaum, bei so viel Schönheit. Bämm, noch ein reaktionäres Vorurteil, das sich anfühlte, als könnte ich Druck von meinem inneren Kessel ablassen.
Ich beobachtete, wie Anna von ihrem Stuhl hüpfte und die Teller einsammelte. »Will jemand Nachtisch?«
Ich winkte ab. »Danke, aber ich kann nicht mehr. Ich will eigentlich nur noch ins Bett.«
Sven bestellte seinen Nachtisch mit einem Fingertippen, wie der obligatorische auf einem Barhocker angewachsene Stammgast in einer leeren Kneipe.
Der stille John stand auf und stellte artig sein Glas in die Spülmaschine. »Ich muss noch aufräumen und die Pinsel auswaschen.«
Sven rieb sich zufrieden den Bauch und brummte: »Mach nicht mehr so lange, Malerchen!«
Malerchen? Ich sah diesen John mit neu erwachtem Interesse an. »Du malst?«
John sah sich zu mir um und wirkte irgendwie verschreckt, aber er nickte. Ich beugte mich interessiert vor. »Ist das Bild oben im Flur von dir?«
John rieb sich den Nacken und bekam einen gehetzten Blick. »Ja, äh, kann sein.«
Ich merkte, wie ich wirklich wach wurde. »Das Bild ist wirklich schön! Wenn du willst, kann ich dir ein paar Kontakte in Hannover machen, mein Mann kennt eine Menge Kanzleien, die kaufen manchmal Kunst für ihre Büros an!«
»Äh, nee, lass mal, ist nicht nötig.« John streifte Anna mit einem verunsicherten Blick, dann verschwand er in einen Flur und ich hörte eine Tür klappern. Ich sah zu Anna auf, die Sven gerade mit einem stolzen Lächeln eine Schüssel Schokoladencreme und einen Löffel reichte.
Verwirrt stotterte ich: »Hab ich was Falsches gesagt?«
Sven schüttelte beruhigend den Kopf und murmelte: »Das Malerchen ist einfach nur schüchtern. Er fremdelt ein bisschen, wenn Besuch da ist.«
Der Wikinger tauchte mit einem seligen Lächeln den Löffel in sein Dessert. Anna schlug ihm auf die Hand und wisperte: »Digger, nicht aus der großen Schüssel, nimm ein Schälchen!«
Sven grinste sie an. »Lass mal, mit dem Löffel geht das schon ganz gut!«
Anna zischte leise: »Ich meine nicht, dass du ein Schälchen zum Löffeln nehmen sollst, sondern, dass Besuch da ist und wir uns heute benehmen!«
Svens Grinsen wurde noch breiter. Betont langsam legte er den Arm um die Puddingschüssel. »Lena möchte doch keinen Nachtisch!«
Anna ging mit einem resignierten Knurren in die Knie, zauste Sven aber zärtlich die Haare. Dabei erklärte sie: »John hasst es einfach, sich über seine Arbeit unterhalten zu müssen, das musst du nicht persönlich nehmen. Außerdem ist er an internationale Verträge gebunden, sein Agent würde ihn vierteilen, wenn seine Originale in Kanzleien in Hannover auftauchen.«
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott! Dann seid ihr wirklich so richtige Künstler? Und ich trete hier auf wie die gönnerhafte Zahnarztgattin, die sich mit ihren Kontakten aufspielt!«
Sven schaufelte sich Pudding in den Mund und nuschelte: »Wir machen das tatsächlich beruflich. Bei uns kleinen Krautern reicht es immerhin für die Künstlersozialkasse, aber John ist drüben an der Ostküste eine stabile Wertanlage. Und auf dem asiatischen Markt ist er der kommende Geheimtipp, deswegen muss er manchmal nach Japan. Das verstört ihn immer für Monate!«
Während Sven zufrieden lachte, stand ich verlegen auf. »Soll ich noch beim Aufräumen helfen?«
Anna schüttelte rigoros den Kopf. »Du bist Gast, John und ich räumen später auf, Sven hat gekocht. Ich hol dir noch schnell die Bettwäsche. Und der Wasserkasten steht hier um die Ecke vorm Hauswirtschaftsraum, nimm dir einfach alles, was du brauchst!«
Anna wuselte auf ihre flinke Art aus der Küche. Sven löffelte genüsslich seinen Pudding und sah fragend zu mir auf. »Bist du sicher, dass du schon pennen willst? Wir könnten noch kultiviert Kaffee schlürfen oder so was.«
Ich schüttelte den Kopf und zeigte in die Richtung, in der Anna verschwunden war. »Der Wasserkasten ist da?«
Sven nickte und stach mit dem Löffel ein Muster in die fluffige Schokocreme. »Einfach um die Ecke.«
Ich ging los und betrat den Flur hinter der Küche. Im schummrigen Licht erkannte ich funkelnde Wasserflaschen am Ende des Ganges und ging darauf zu, als ich eine Bewegung wahrnahm. Ich blieb stehen. Die Tür zum Hauswirtschaftsraum stand offen. Ein warmer Lichtstrahl fiel auf schlanke Männerhände, die sich gierig um einen knackigen kleinen Frauenhintern schlossen. John und Anna küssten sich. Nein, sie küssten sich nicht, sie machten rum. Sie machten wild rum.
Nach der ersten Schocksekunde überkam mich das Gefühl, in einem schlechten Splattermovie auf die Kreissäge gefallen zu sein. Ich wurde blitzschnell in drei Teile zerfetzt.
Meine untere Hälfte meldete eine unstillbare Sehnsucht danach, auch endlich mal wieder so viel Leidenschaft zu spüren und so begehrt zu werden. Mein Herz zerriss bei dem Gedanken, dass mein Mann genau das wahrscheinlich gerade mit Annegret tat. Und mein Kopf explodierte vor moralischer Entrüstung.
Wie konnte Anna diesen unglaublich netten Sven betrügen? Direkt vor seinen Augen! Mit dem Mitbewohner! Was war dieser John für ein skrupelloses, notgeiles Schwein? Wieso konnte der nicht einfach die Finger von der Frau seines Freundes lassen?
Gehetzt sah ich mich um, dann trat ich den Rückzug an. Ich hastete durch die Küche, murmelte schnell: »Nacht!« und schwankte nach oben, ohne eine Antwort abzuwarten.
Mein Herz raste. Ich fühlte das Bröckeln meiner schützenden Fassade wie das Grollen in einem Bergwerk. Da saß dieser unschuldige Sven in seiner Küche, löffelte seinen Pudding wie ein kleiner Junge, der sich freute, weil er doppelten Nachtisch bekam … und er hatte keine Ahnung, was sich da über ihm zusammenbraute. Für mich hatte ich noch keine echte Träne vergossen, aber für diesen Wikinger hätte ich plötzlich ganze Eimer voll heulen können. Badewannen!
Ich zog hektisch meine Jacke über und griff meine Tasche vom Bett. Ich klopfte noch einmal meine Taschen ab, um zu sehen, ob ich auch nichts vergessen hatte, dann drehte ich mich um. In der Tür stand Anna mit einem Arm voll bunt gemusterter Bettwäsche und sah mich erstaunt an. »Alles okay bei dir?«
Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Ich wollte mir auf keinen Fall anmerken lassen, wie aufgewühlt ich war. Und wie wütend. Das alles ging mich ja gar nichts an. Aber ein leises Klicken in meinem Kopf klärte mich darüber auf, dass meine Selbstbeherrschung einfach aufgebraucht war. Und zwar genau jetzt. Ich zischte: »Wie kannst du es wagen! Sven vertraut dir und du machst mit eurem Mitbewohner rum!«
Anna holte tief Luft, dann legte sie den Kopf in den Nacken und schien seelenruhig mit den Augen die Decke abzusuchen, als würden da hübsche Mobiles baumeln. Sie spitzte nachdenklich die Lippen und zog kurz die Augenbrauen zusammen, dann nickte sie und sah mich offen an. »Du bist verletzt.«
Empört zischte ich: »Ich bin nicht verletzt! Ich finde es nur einfach scheiße, bei Leuten zu sein, die sich betrügen!«
Anna nickte ganz langsam und flüsterte betroffen: »Wir haben dich mit irgendwas getriggert. Das tut mir leid.«
»Ihr habt mich gewas?« Ich merkte, dass ich viel zu laut gefaucht hatte und hielt erschrocken die Luft an. Ich wollte auf keinen Fall diejenige sein, die das schmutzige Geheimnis aufdeckte, weil sie laut wurde.
Anna ging seelenruhig zum Sessel, legte die Bettwäsche ab und griff sich das Kopfkissen. »Ich kann mir vorstellen, was du denkst, aber wir sind eine polyamore Triade.«
Ich zischte wieder. »Ihr seid was?«
Mein Gehirn ratterte. Ich hatte das Wort mal irgendwo gelesen. Waren Polyamore nicht diese kleinen Mikroplastikteile, die das Grundwasser verschmutzten? Oder war das diese bunte Knete, die man im Backofen trocknet? Annegret könnte daraus wahrscheinlich ganz zauberhafte Namensschildchen mit Glitzer und Herzchen basteln!
»Darf ich mal kurz?« Anna schob mich sanft zur Seite und fing an, das Bettlaken aufzuziehen. »Wir lieben uns zu dritt. Wir sind nicht monogam.« Sie drehte sich zu mir um. »Kannst du mal den Zipfel da über die Matratze ziehen?«
Ich packte automatisch die Ecke des Spannbettlakens und zischte: »Wie kannst du so gelassen bleiben? Ich hab dich gerade dabei ertappt, wie du deinen Freund betrügst!«
Anna strich das Laken liebevoll glatt, dann richtete sie sich auf und fasste sich in den Rücken, als wäre sie verspannt. »Lena, hör mir bitte richtig zu! Alles ist in Ordnung! Niemand wird hier verletzt oder betrogen. Wir führen eine Beziehung zu dritt. John und Sven wissen, dass ich sie beide liebe und ich weiß, dass meine Männer sich lieben. Wir haben eine ganz schnöde Ménage-à-trois, eine Dreierbeziehung.«
Seelenruhig schlüpfte Anna mit den Armen in den Bettbezug und versuchte, wie ein ungeschicktes Stofftier nach den Zipfeln der Bettdecke zu greifen. Während ich sie beobachtete, fiel bei mir so langsam der Groschen, dass ich das Gefühl hatte, das Rieseln einer Sanduhr in meinem Bewusstsein wahrzunehmen. Irgendwann stieß ich entsetzt aus: »Ihr macht das freiwillig? Du lässt dich freiwillig betrügen? Hast du keinen Stolz?«
Anna verschwand hinter der Bettdecke, schüttelte sie, bis der Bezug heruntergerutscht war, und tauchte wieder auf. Sie lächelte mich entschuldigend an. »Liebes, ich würde meinen Männern die Eier abschneiden, wenn sie mich betrügen würden, mit einer stumpfen, rostigen Schere! Aber wir erzählen uns ja alles. Und ich ziehe es vor, mich mit ihnen zu freuen, wenn sie sich verlieben.« Anna breitete die Decke auf dem Bett aus und schnappte sich das Kopfkissen. »Außerdem bin ich ein furchtbar neugieriger Mensch. Ich will immer wissen, mit wem sie schlafen.«
Ich starrte Anna fassungslos an, dann schlug ich die Hände vors Gesicht und plumpste mit dem Hintern aufs Bett. Der Knoten in meiner Kehle platzte. Ich schluchzte los. »Sie nennen mich die Ziege! Das tut am allermeisten weh!«
Anna setzte sich vorsichtig neben mich, dann breitete sie fragend die Arme aus. »Hug?«