Dieses Mal hörte ich schon vom Flur aus Männerstimmen und dröhnendes Gelächter. Für einen Moment überkam mich eine seltsame Scheu. Störte ich jetzt den Flow eines vertrauten Gesprächs, wie wir Frauen es geführt hatten?
Aber Simon hatte sich ja gefragt, wo ich stecke. Er wollte mich dabei haben. Ich betrat die Küche und sah mich um. Auf der wilden Jagd nach einem Stück Pizza hatte ich kaum Zeit gehabt, das Flair dieser Küche zu genießen. Aber obwohl in dem großen Raum das Chaos regierte, war nicht zu übersehen, dass ich in einer echten Landhausküche stand. Nicht in der Sorte Küche, die im Internet als »Landhausküche« angepriesen wird, sondern in der Sorte Küche, die dafür geschaffen war, eine Großfamilie und das gesamte Gesinde durchzufüttern.
Das Herzstück dieser gemütlichen Museumsdorf-Küche war der riesige Holztisch, auf dem Gläser, Flaschen, Geschirr und die Reste diverser Snacks herumstanden. Und mitten im diesem Chaos, am Kopf der Tafel, saß mein Simon und schlabberte eine riesige Portion Spaghetti in sich hinein. Als er mich entdeckte, leuchtete sein Gesicht auf. »Lünü!«
Ich war mir ziemlich sicher, dass er meinen Namen gerufen hatte, aber mit vollen Backen war es wohl schwierig, »Lena« auszusprechen. Ich grinste einfach mal in die Runde und schob mich an zwei Wikingern vorbei, um zu meinem Mann zu kommen.
Simon angelte nach einem Stuhl für mich und stellte ihn neben sich. »Die Spaghetti sind absolut fantastisch! John weiß, wo hier die eisernen Reserven versteckt sind!«
Ich sah mich am Tisch um und entdeckte John. Er strahlte aus, dass er hier zu Hause war. Jedenfalls saß er hier genauso wie in seiner eigenen Küche, als der stille Beobachter. Ein Stückchen vom Tisch abgerückt, mit entspannt ausgestreckten Beinen und lässig verschränkten Armen. Er grinste mich an. »Snackisnack steht auf dem Herd.«
Ich strahlte, weil ich mich fühlte wie ein alter Hase. Simon hatte schon wieder die Backen voll und zeigte mir mit einer Chefkoch-Geste, dass ich unbedingt probieren müsste. Ich stand auf und ging auf die Suche. Auf dem Herd blubberte ein riesiger Topf mit Spaghetti-Sauce. Ich grinste und fing an, nach Tellern und Besteck zu suchen, während ich auf das Gespräch lauschte.
»Alter, du musst nach der Quelle Ausschau halten, nach der Quelle! Frag dich doch mal, wer dir da verkauft hat, dass dein Lebensstil natürlich ist und warum! Dieser ganze Kram von der prähistorischen bürgerlichen Kleinfamilie, hetero-normativ, mono-normativ, Zwei-Eltern-Familie, das ganze Zeug, das wir für gottgewollt oder natürlich halten, stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert! Du musst das im Kontext seiner Zeit begreifen!«
Ich zog mir einen Teller aus dem Schrank und sah mich nach dem Sprecher um. War das Lasse? Ja, ich erkannte die lustigen Zöpfe im Bart wieder. Diese ganzen Wikinger waren gar nicht so leicht auseinanderzuhalten.
Simon spülte seine Spaghetti mit einem großen Schluck Wasser runter und konterte: »Ja, aber irgendwo muss dieses Bild doch herkommen! Es hatte doch einen Sinn, dass die Menschen schon in der Steinzeit in Familienverbänden gelebt haben!«
Lasse beugte sich über den Tisch, als würde er Simon für ein bisschen schwerhörig halten. »Natürlich haben wir immer in familiären Strukturen gelebt, aber denk doch mal nach! Wer sagt dir denn, dass Menschen unter ›Familie‹ immer das verstanden haben, was wir heute darunter verstehen? Dieses ganze Bild, dass die monogame Ehe und die heterosexuelle Norm unsere natürlichen Lebensformen sind, das stammt nicht aus der Steinzeit, sondern aus der Zeit der sogenannten Aufklärung! Und aus den daraus resultierenden Strömungen! Überleg doch mal, was damals los war! Die Anfänge der Wissenschaft wurden für die Menschen zur neuen Religion, die mittelalterliche ständische Gesellschaft war abgemeldet, die Kirchen verloren endlich an Macht, aber dadurch ist ein Vakuum entstanden! Die Leute wussten doch gar nicht mehr, was los war! Da musste ein neues Wertesystem her, die Normen mussten geändert werden, aber sie blieben doch trotzdem Normen! Denk nach, Simon!«
»Das mach ich, Alter, das mach ich!« Ich kicherte in mich hinein. Hatte Simon gerade »Alter« gesagt?
Simon brach sich ein Stück von einem Baguette ab und sinnierte: »Normen sind doch nicht per se schlecht! Sie geben doch auch Sicherheit und Orientierung!«
Lasse nickte. »Das tun sie. Aber nur solange, wie Regelverstöße nicht geahndet werden und wie sie niemanden ausschließen. Aber welche Norm ist denn in der Lage, wirklich zu inkludieren? Das Wesen der Norm schließt ein, dass alles, was nicht der Norm entspricht, ausgeschlossen ist, weil es abnorm ist.«
Simon knabberte nachdenklich an seinem Baguette. »Ja, natürlich. Aber irgendwo muss man doch Grenzen ziehen, sonst herrscht Anarchie!«
Lasse grinste satt. »Anarchie ist nicht das Schlechteste!«
Simon seufzte. »Aber das würde Mord und Totschlag geben!«
»Ach, und so haben wir das nicht?«
Ich warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass der zweite Wikinger am Tisch die wilde Lotta war. John wechselte einen Blick mit Lotta und grinste. »Aber so, wie es jetzt ist, sind Mord und Totschlag wenigstens reglementiert. Das nennt sich dann Krieg oder Exekutive und man weiß, wer daran verdient.«
Lotta lachte träge. »Stimmt, das macht die Buchführung einfacher.«
Lasse lehnte sich zurück und strich sich entspannt über den Flaum auf seinem rasierten Schädel. »Reglementierung ist doch ein gutes Stichwort. Die Ehe ist eine Institution, die das Liebesleben der Menschen reglementiert, oder sagen wir es einfach direkt: Sie reglementiert das Sexleben. Für dein Liebesleben gibt es also ganz klare Normen. Woran erkennt man eine gute Ehe? An der hetero-normativen Monogamie. Aber was machst du, wenn deine Gefühle nicht genormt sind? Wenn du einfach andere Vorlieben, andere Bedürfnisse und Neigungen hast?«
Ich griff mir meinen voll beladenen Teller und setzte mich zu Simon. »Ja, genau! Was machst du, wenn du zum Beispiel placiosexuell bist? Nach der bürgerlichen Norm kannst du dann gar keine glückliche Ehe führen.« Ich war extrem stolz, weil ich ein neu gelerntes Wort sofort richtig anwenden konnte. Die Besuchows hätten mir definitiv nicht folgen können.
Lotta nickte. »Oder pansexuell!«
Lasse gähnte und klopfte sich zufrieden auf den Bauch. »Oder asexuell!«
John ergänzte: »Wenn du sapiosexuell bist, könnte es aber klappen!«
Offenbar war Sven nicht der einzige Wikinger, der den LGBTQ-Slang beherrschte, denn Lasse und Lotta lachten über Johns Bemerkung. Simon beugte sich vor und hob den Finger wie ein Schulkind. »Hallo? Könnt ihr vielleicht ein Beispiel nehmen, das auch ein Zahnarzt versteht?«
Ich musste so lachen, dass mir eine Nudel in den falschen Hals rutschte. Simon klopfte mir geistesabwesend auf den Rücken, während er auf Lasses Erklärung lauschte. »Also, ich kenn dich ja nicht, deswegen weiß ich nicht, ob du dir das extra vorstellen musst, aber stell dir vor, du bist bisexuell. Das Wort kennt bestimmt jeder.«
Simon rieb mir jetzt mechanisch den Rücken, er war so vollkommen auf das Gespräch fokussiert. »Okay, ich dachte, zu wissen, was es bedeutet, aber bei den Wörtern, die ihr hier durch den Raum werft, fände ich eine klare Definition sehr beruhigend.«
Lasse legte den Kopf in den Nacken und rieb sich den Bart. »Wenn du bisexuell bist, fühlst du dich sexuell von zwei Geschlechtern angezogen. Bi, zwei, logisch. Das darfst du nicht mit polysexuell verwechseln, denn dann stehst du auf mehrere Geschlechter.«
Simon wimmerte. Lotta grinste hilfsbereit und zählte auf: »Als Polysexueller kannst du auch auf non-binäre Menschen stehen, auf Intersexuelle, auf Transsexuelle, das volle Spektrum der Identitäten eben.«
Simon raunte mir zu: »Jetzt bin ich schlauer!«
Ich kicherte in meine Spaghetti und lauschte weiter auf Lasses Erklärung. »Also, Alter, stell dir vor, du fühlst dich zu Männern und Frauen gleichermaßen sexuell hingezogen. Merkst du, dass ich extra Geschlechter ausgesucht habe, die auch ein Zahnarzt kennt?«
Simon lachte hell auf. »Ich weiß das zu schätzen! Du bist sehr inkludierend!«
»Hab ich gut gemacht, oder?« Lasse grinste stolz. »Aber was passiert jetzt, wenn du dich als bisexueller Mensch in Relation setzt zur hetero-normativen Monogamie, hm?«
Simon blinzelte. »Ja, okay, dann kriege ich ein Problem.«
Lotta stellte fest: »Dann kriegst du ganz schnell das Gefühl, dass du falsch bist. Weil die Norm ja bestimmt, was richtig ist.«
Ich beobachtete, dass Simon sich jetzt selbst schon über einen unsichtbaren Bart strich und verstehend nickte. »Gut, das sehe ich alles ein. Niemand sollte sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung als falsch empfinden, solange er keinem schadet. Aber was ich nicht verstehe …«, Simon verschränkte die Arme auf dem Tisch und runzelte die Stirn. »Um noch mal den Bogen zurückzuschlagen zu der Frage, ob Monogamie natürlich ist. Du sagst, ich soll nach den Quellen fragen, aber wer hatte denn ein Interesse daran, mir zu erzählen, dass wir schon in der Steinzeit dasselbe traditionelle Familienmodell hatten wie heute? Warum sollte das jemand erfinden, wenn es nicht natürlich ist?«
Lasse rieb sich die Hände. »Okay, Alter, pass auf! Monogamie hat Vorteile, definitiv. Nimm zum Beispiel das Viktorianische Zeitalter. Das Militär der guten Vicky hat mehr Soldaten an die Syphilis verloren als an Kriege. Da ist der Gedanke naheliegend, die monogame Beziehung als Hort der Glücksseligkeit zu propagieren. Und das Problem reicht ja noch viel weiter zurück, etwa zwanzigtausend Jahre sogar. Das ging ja schon los mit Ackerbau und Viehzucht, als wir keinen Bock mehr hatten, dem Wild auf seinen Wanderungen zu folgen und mal einen richtigen Herd bauen wollten. Sobald du etwas hast, was du als Eigentum empfindest, weil du richtig hart dafür geackert hast, willst du es auch weitergeben an deine Erben.«
Lotta ergänzte: »Nicht an die Kinder deiner Frau, die dem Briefträger verdächtig ähnlich sehen!«
Lasse nickte. »Aber um was vererben zu können, brauchst du ja nicht nur Kapital, du brauchst auch Erben! Und damit die Erben sich nicht die Köpfe einschlagen, brauchst du sogar eine Reglementierung der Erbfolge und das alles! Heiraten war ja ganz lange Zeit ein Luxusproblem der Upper Class! Mit dem Einsetzen der Industrialisierung blubberte dann aber das Bürgertum mit seinem Wohlstand in die Mitte der Gesellschaft und plötzlich waren da jede Menge Leute, die erst mal total verunsichert rumgestochert haben. Bildung, Wissenschaft, Forschung, Kunst und Kultur, das war plötzlich alles total sexy, man hatte ja Geld und es gab da diese neue Erfindung, die sich Freizeit nannte.«
Simon lachte. »Ja, davon hab ich gehört.«
John meldete sich zu Wort. »Aber Bildung und Wissenschaft lagen fest in männlicher Hand.«
Lotta grinste mitleidig. »Irgendwie müsst ihr ja kompensieren, dass ihr keine Kinder kriegen könnt!«
Lasse beugte sich zu Simon. »Und jetzt stell dir vor, du wärst ein Mann!«
Simon nickte knapp. »Schaff ich!«
Lasse lehnte sich zufrieden zurück. »Du hast deinen bescheidenen Wohlstand, dein Biedermeiersofa, du bist gebildet, liest deine Zeitung, das liebe Frauchen ist mit den Kindern beschäftigt und wenn du Langeweile kriegst, schleichst du dich ins Dienstmädchenzimmer. Da holst du dir nicht so schnell die Syphilis wie Nietzsche im Puff und ihre Tugend verteidigen kann sie auch nicht, weil sie dann auf der Straße landet. Unzucht mit Abhängigen, allet chic. Eine ganz normale bürgerliche Ehe eben.«
»Bis hierhin kann ich dir folgen.« Simon blinzelte, dann sah er mich erschrocken an. »Wir haben kein Dienstmädchenzimmer!«
Ich tätschelte ihm beruhigend das Knie und wandte mich an Lasse. »Weiter!«
»Gut. Du bist also Familienvater. Deine Töchter dürfen ein bisschen aquarellieren und singen, aber echte Bildung wäre verschwendet, du hast ja schon Schwiegersöhne ins Auge gefasst, als sie im Krabbelalter waren. Deine Söhne sind auch schon verplant, der erste übernimmt dein Geschäft, der zweite geht zum Militär und den dritten kann deinetwegen die Kirche haben. Idylle pur!«
John nickte. »Und drinnen züchtigt Walter die Hausfrau.«
Lotta prustete los. »Maler, wenn du hier weiter mit deiner humanistischen Bildung angibst, gibt Schiller dir irgendwann was auf die Glocke!«
John grinste breit. Lasse fing an, mit den Fingern auf der Tischplatte einen spannenden Rhythmus zu trommeln. »Und jetzt …«
Wie sahen ihn alle gespannt an. Lasse hörte auf zu trommeln und grinste. »Jetzt kommt das Monster, das deine schöne neue Weltordnung umstoßen will.«
Lotta trompetete: »Die Frauenbewegung!«
John nickte. »Überlegt mal! Da kommt plötzlich eine ganze Hälfte der Menschheit und fordert für sich das Wahlrecht! Zugang zu Bildung und bezahlter Arbeit! Freie Gattenwahl!«
Simon lockerte sich den Kragen und schluckte. »Okay, jetzt bin ich ganz froh, dass ich kein reicher weißer Mann bin!«
Wir prusteten los. Lotta beugte sich über den Tisch und tätschelte Simon stolz den Arm. »Du bist auf einem guten Weg, Bohrerchen!«
»Nicht wahr?« Simon lachte stolz. Ich mümmelte weiter meine himmlischen Spaghetti und grinste in mich hinein. Bohrerchen.
Lasse stützte gemütlich die Hand aufs Knie. »Was macht jetzt der geneigte Naturwissenschaftler? Er findet Argumente, um diese wild gewordenen Suffragetten in ihre Schranken zu weisen. Plötzlich gibt es jede Menge archäologischer Entdeckungen. Oh, wir haben einen Faustkeil gefunden! Klare Sache das, der muss einem Mann gehört haben, was sollte denn eine zarte Frau mit so einem Teil anfangen, die musste doch auch das Baby halten! Guckt mal, eine abgebrochene Speerspitze mit Kratzern und da klebt sogar noch ein bisschen Erde dran! Ganz klarer Fall: Die Frau ist friedfertig und kämpft nicht, deswegen gehört sie ins Haus, ist doch jetzt wissenschaftlich erwiesen!«
Simon und ich kreischten vor Lachen. Simon japste: »Du musst auf die Bühne!«
Lasse nickte knapp. »Ja, danke, aber ich bleib lieber bei meinen Trommeln. Aber kapiert ihr, was los ist? Jede Bewegung provoziert eine Gegenbewegung. Und die Kerle wollten auf keinen Fall Augenhöhe mit den Frauen riskieren, da fühlt der Mann von Welt sich einfach zu schnell kastriert! Also haben wir rückwirkend unser Weltbild und unser Wunschdenken auf die prähistorischen Lebensverhältnisse projiziert, um in unserer damaligen Gegenwart zu rechtfertigen, dass Frauen ins Haus gehören und dass die Aufgaben ganz klar verteilt sind. Vielleicht war uns das noch nicht mal bewusst, man hat ja so seinen Tunnelblick, aber wir haben es getan. Inzwischen ist zwar längst erwiesen, dass es auch Grabstätten mit gleichgeschlechtlichen Paaren gab, dass es Frauengemeinschaften gab, die sehr wohl reich oder kriegerisch waren, aber wir haben immer noch im Kopf, dass es eine natürliche Ordnung in der Rollenverteilung gibt.«
Für einen Moment saßen wir einfach nur still da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Simon schüttelte sich. »Wie seid ihr auf die Idee gekommen, all diese Dinge zu hinterfragen? Wie kommt man darauf, die gesamte Weltordnung einfach mal auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen?«
Lasse deutete mit einem trägen Lächeln auf John. »Das muss das Malerchen dir erzählen.«