Der »kleine Snackisnack« stellte sich als überladene Tafel heraus. Der Küchentisch war voll mit bunt angerichteten Tellerchen. Antipasti, Törtchen, Obst, Kekse, Brot, Marmeladen, Käse, einfach alles. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, diesmal mit einem andächtigen Strahlen. »Wann hast du das alles gemacht?«
John zuckte auf seine typisch verlegene Art die Schultern. »Stand ja alles fertig im Kühlschrank.«
Sven schob sich an mir vorbei auf seinen Platz. »Haben wir schon erwähnt, dass wir bei dem Wetter nur ans Essen denken?«
Anna schnappte sich als Vorspeise eine Banane und schälte sie konzentriert. »Ich hab neulich gelesen, dass Essen der Sex des Alters ist. Glaubt ihr, dass wir schon so weit sind?«
Sven grinste, aber es war John, der mit gesenktem Kopf nur den Blick hob und Anna zuflüsterte: »Wir können sofort in die Höhle gehen, Kleines.«
Anna lachte hell auf, dann zog sie auf eine hinreißende Art das Näschen kraus und brachte John mit einem intensiven Blick zum Erröten. Ich wandte diskret den Kopf ab, aber ich konnte die intensive Anziehung zwischen den beiden immer noch spüren wie ein warmes Kribbeln. Natürlich, auch John hatte die wilde, entfesselte Anna erlebt. Und in diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, dass er diese ungehemmte, frei liebende Frau sehr gut kannte. Wenn sie beim Sex auch nur einen Funken dieser lebendig pulsierenden Urkraft entfesselte, war klar, dass John völlig verrückt nach ihr war.
Sven legte sich eine Brotscheibe auf den Teller und wischte sich das Grinsen aus dem Gesicht, dann sah er mich an. »Wie geht es dir jetzt?«
Ich lachte und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich weiß nicht. Einfach unbeschreiblich. Ich fühl mich so erschöpft und gleichzeitig so frei und gelöst, ich hab mich ewig nicht so wach und lebendig gefühlt.«
Sven nickte langsam, dann fing er an, auf dem überfüllten Tisch nach der Butter zu suchen. Ich griff mir gleich zwei Scheiben Brot, ich hatte schon wieder unglaublichen Hunger. »Hast du eine therapeutische Ausbildung oder wie hast du es hingekriegt, dass ich versteinerter Eisklotz heule wie ein Wolf? Ich hab schon öfter von solchen therapeutischen Angeboten gelesen, ›Verbinde dich mit deinen Gefühlen‹ und so, aber ich fand den Gedanken immer irgendwie total lächerlich.«
Sven baute sich ein prächtiges Brot mit Käse, Tomaten und Gurkenhappen und schüttelte entspannt den Kopf. »Das ist nichts Therapeutisches. Das ist nur menschlich. Oder nenne es meinetwegen Handwerk. Wenn ich auf die Bühne gehe und nicht gelöst und konzentriert bin, bin ich auch nicht mit meinen Gefühlen verbunden. Dann ist meine Kehle zu, ich komm nicht in den Flow und hab einfach keine Ausstrahlung. Das ist dann ziemlich kacke für die Leute, die sich Konzertkarten geleistet haben.«
Ich blinzelte und ließ das auf mich wirken. Anna fragte: »Wieso kam der Gedanke an therapeutische Angebote dir blöd vor?«
Ich dachte kurz nach. »Hm, ich weiß nicht, ich mag den Gedanken nicht, meine Gefühle vor fremden Leuten zu zeigen. Schon gar nicht, wenn das irgendwie aufgesetzt ist, weil ein Guru sagt, dass ich jetzt was machen soll. Aber mit euch gerade, das kam mir völlig natürlich vor. Ich war total ich selbst!«
Anna grinste verschämt auf ihren Teller. »Wir sind eben keine Therapeuten.«
Ich lachte auf. »Ihr seid nur schwule Hippies!«
Sven sang leise: »Hippiejajahippiejajay!«
Wir prusteten alle los. Sven fuhr sich mit einem leisen Stöhnen durch die Haare. »Den running gag werden wir nie wieder los!«
Ich kicherte schuldbewusst, dann wandte ich mich wieder an Sven. »Aber woher wusstest du, dass ich diesen unglaublichen Knoten im Körper habe, der einfach mal platzen muss?«
Sven zuckte wieder so unglaublich gelassen die Schultern, als wäre es die normalste Sache der Welt, über so intensive und private Gefühle zu reden. »Erfahrung. Meine Brüder geben manchmal Trommel-Workshops, wenn wir Löcher im Kalender haben und Kohle brauchen. Da bin ich auch öfter dabei. Und wer kommt da hin?«
Ich grinste geknickt. »Betrogene Ehefrauen, die mal was für sich tun wollen?«
Ich erwartete, dass Sven lachen würde, aber er blieb völlig ernst. »Werte das nicht so ab, kleene Krabbe. Du wertest damit dich selbst ab. Aber tatsächlich kommen zu den Workshops oft Menschen, die so eine innere Unruhe spüren und schreien könnten, aber eben nicht können. Die sind total unter Strom und suchen ein gesellschaftlich anerkanntes Ventil, ihren ganzen Frust einfach mal loszuwerden. Da ist Krach machen bei einem ausgewiesenen Workshop in einem ordentlichen öffentlichen Raum mit Feuermeldern und Rettungswegschildern ein guter, geschützter Rahmen, der niemandem peinlich sein muss. Wenn du deinen Freunden erzählst, dass du am Wochenende auf einem Workshop warst, klingt das nach etwas, was du auf Facebook posten kannst. Das ist cool. Es klingt jedenfalls besser als: Ich hab mich schon so lange angepasst, ich musste einfach mal komplett eskalieren und mir den ganzen Frust von der Seele schreien, weil ich sonst verrückt werde!«
Ich sah Sven gebannt an. Dieser kluge Mensch gefiel mir immer besser. »Aber wo kommt der ganze Frust her? Wieso stehen so viele Menschen unter Strom? Und wieso muss man laut werden? Macht das nicht noch aggressiver?«
Sven rieb sich nachdenklich die Bartstoppeln. »Da fragst du den Falschen. Ich bin in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Ich hab schon als kleiner Stöpsel getrommelt. Wenn bei uns die Wände beben, empfinden wir das als normale Lautstärke. Aber bei den Leuten, die zu unseren Workshops kommen, ist das natürlich anders. Die sind immer angepasst, immer brav, die funktionieren fantastisch. Die stauen ihre Gefühle oft so lange an, dass sie verlernen, den Druck einfach mal abzulassen, bevor er ihnen die Kehle zuschnürt.«
Ich flüsterte: »Was denn für Druck?«
Anna schenkte mir Tee ein und fragte leichthin: »Was glaubst du, wieso dein Simon nichts von seiner Affäre gesagt hat? Hat er vielleicht auch Druck?«
Ich sah Anna erschlagen an. Mir fiel wieder ein, was ich auf der Wiese geschrien hatte, dass Simon zu feige ist, um mit mir in den Ring zu steigen.
Sven räusperte sich. »Also, wenn wir eine Talkshow wären, dann würde ich jetzt den nächsten Gast anmoderieren und elegant überleiten zu John O’Molloy, dem ehemals monogamen Fremdgänger. Der kann dir erklären, was in deinem Mann vorgeht.«
John senkte den Kopf und grinste verschämt. Anna strich ihm sanft über die Schulter und flüsterte: »Wir brauchen deinen wertvollen Erfahrungsschatz als heimlich fremdgehender Mann.«
Der zusammengesackte John sah zu Anna auf, musste aber lachen. »Ich hätte nicht gedacht, dass der ganze Scheiß, den ich angestellt habe, sich noch mal auszahlt.«
Ich rutschte gespannt hin und her. »Dann erklär es mir! Was geht in Simon vor? Dieses Schweigen, diese Lügen und das alles, das macht mich völlig wahnsinnig!«
John sah mich unter gerunzelter Stirn an und nickte langsam, dann holte er tief Luft und streckte sich. Nach dem »therapeutischen« Erlebnis mit Sven und Anna hatte ich plötzlich das Gefühl, eine neue Antenne bekommen zu haben. Ich konnte fühlen, dass John sich löste und sich mit seinen Gefühlen verband. Er öffnete sich. Er verschränkte die Hände im Nacken und stellte fest: »Du fühlst dich ohnmächtig, weil du das Tabu nicht wegräumen kannst, solange es ein Tabu ist.«
Ich nickte wild. »Ja! Ja, ganz genau!«
»Hmhm.« John ließ den Blick nachdenklich durch die Küche schweifen, dann stellte er fest: »Das geht ihm genauso.«
Anna neigte sich zu John und wisperte: »Wäre es nicht besser, wenn sie einfach direkt mit Simon redet?«
John hob die gespreizte Hand. »Warte, warte! Der Körpertherapeut hatte seine Chance, also gib dem Analytiker seine!«
Anna machte ein schuldbewusstes Gesicht und schloss sofort mit einem unsichtbaren Schlüssel ihre Lippen ab. John lächelte sie entschuldigend an. »Er blockt sie ab, oder nicht? Hab ich das richtig mitgekriegt? Wenn sie fragt, ist alles in Ordnung.«
Wir nickten alle synchron. John seufzte tief. »Wenn sie mit ihm reden will, konstruktiv mit ihm reden, dann braucht sie einen sicheren Stand. Dann muss sie sich über ihre eigenen Gefühle klar sein und in sich ruhen, sonst verletzen sie sich nur unnötig!«
Ich nickte heftig. »Genau, ganz genau! Genau davor habe ich solche Angst, dass es mit die Kehle zuschnürt! Was ist, wenn ich einfach vor Wut platze und destruktiv werde und Dinge sage, die ich nie wieder zurücknehmen kann?«
John starrte eine Weile mit zusammengezogenen Augenbrauen hochkonzentriert auf eine Käsepackung. Irgendwann beugte Sven sich zu Anna und flüsterte: »Darf ich da jetzt ran?«
Annas Augen flitzten wild über den Tisch, dann griff sie nach einem Glas Oliven und tauschte es flink gegen den Käse aus. John starrte einfach weiter. Anna reichte Sven den Käse und wisperte: »Das ist sein Innen-Blick, er sieht nicht den Käse. Er scannt die Daten in seinem Gehirn!«
Sven zog seine Käsescheibe aus der Packung und murmelte: »Und das sind einige.«
Anna kicherte leise. »Keine Terabyte, Zettabyte! Yottabyte!«
Ich verschluckte ein Lachen. Wir führten hier ein für mich absolut existenzielles Gespräch, aber der vertraute Umgang dieses Dreierpaares gab mir das Gefühl, dass selbst der Weltuntergang vielleicht gar nicht so schlimm werden würde, solange es Küchentische gab wie diesen. Küchentische, an denen man über alles reden konnte. So einen Tisch hätte ich zu gern zu Hause gehabt.
John war fertig mit seinem Scan und nickte zufrieden. »Bist du sicher, dass ich dir erklären soll, was in ihm vorgeht? Das kann auch wehtun.«
Ich nickte entschlossen. Ich wollte diesen festen Stand, von dem John gesprochen hatte, ich wollte diese innere Ruhe, wenn ich mit Simon rede. »Ganz sicher!«
John nickte wieder so bedächtig, dann rieb er sich langsam den Nacken. »Ihr seid verheiratet, oder? So richtig, mit Treuegelöbnis, Party, Hochzeitskleid, Fotos und dem ganzen Programm.«
Ich nickte wieder. John knabberte sich an der Lippe, dann fragte er: »Bist du noch wütend auf ihn?«
Ich horchte kurz in mich hinein, dann schüttelte ich den Kopf. Meine ganze Wut hatte der eisige Wind über die Kuhweide in die Nacht getragen. Erstaunt stellte ich fest: »Jetzt gerade hab ich fast sogar ein liebevolles Gefühl für ihn. Ich möchte ihn einfach nur verstehen. Ich will wissen, was los ist, damit ich nicht mehr grübeln muss!«
John schob seinen Teller weg und verschränkte die Arme auf dem Tisch. Er sah mich offen an. »So wie ich das sehe, leidet der arme Kerl Höllenqualen. Er hat Gefühle für diese andere Frau. Sehr verwirrende Gefühle. Er weiß, dass er das in eurer Welt nicht darf. Er fühlt sich absolut beschissen, weil er seine Versprechen an dich gebrochen hat. Er quält sich, weil er sich wie der letzte Loser fühlt, der dein Vertrauen nicht verdient. Und das macht ihn wütend auf sich selbst. Aber so eine Wut ist verdammt schwer auszuhalten, deswegen projiziert er sie wahrscheinlich auf dich. Du bist sein personifiziertes schlechtes Gewissen, auf das er mit einem Schuld-Abwehr-Reflex reagiert. Deswegen blockt er dich auch.«
Ich sah John vollkommen erschlagen an. »Und deswegen nennt er mich frustrierte Ziege, wenn er mit ihr textet! Weil er wütend auf sich selbst ist!«
John nickte langsam, als würde er an einem zu großen Bissen kauen. »Er muss irgendwie vor sich selbst rechtfertigen, dass er dich betrügt. Wenn er sagen würde, hey, meine Frau ist klasse, ich liebe sie, sie ist sexy, clever und witzig, sie ist immer für mich da, dann wäre es in eurer Welt völlig absurd, eine Affäre anzufangen. Weil ihr Liebe mit Exklusivität gleichsetzt. Es kann nicht sagen, dass er dich liebt und offen vor seiner Geliebten dazu stehen, weil das in der Monogamie ein Paradoxon darstellt. Wenn er dich lieben würde, hätte er ja gar kein Bedürfnis nach der anderen. Hat er aber. Deswegen ist der arme Kerl vollkommen verwirrt und kann seine Gefühle für dich einfach nicht zulassen.«
Ich ließ mich erschlagen gegen die Stuhllehne fallen. »Oh, mein Gott! Ich hatte ja keine Ahnung, was er durchmacht!«
John beugte sich zu Anna und flüsterte: »Fußnote für mich: Wie ist sie dahinter gekommen, wenn er nicht redet?«
Anna raunte: »Handy. Er hat sein Handy liegenlassen.«
John atmete tief durch. »Ah, verstehe. Und an die Freudsche Fehlleistung glauben wir nicht wirklich.«
Anna schüttelte rigoros den Kopf. »An die glauben wir nicht. Das war keine Fehlleistung, das war ein Hilferuf.«
Ich starrte Anna ungläubig an. »Ein Hilferuf?«
Anna nickte. »Er hält den Graben zwischen euch, den er selbst angelegt hat, nicht mehr aus. Er will die Nähe zurück und mit seiner Frau reden. Du bist immerhin seine Gefährtin, seine beste Freundin.«
John hob nachdenklich die Hand. »Und du hast nicht reagiert? Gar nicht?«
»Gar nicht!« Ich schüttelte den Kopf.
John stöhnte. »Oh, mein Gott, die arme Sau! Er hat gesehen, dass die neuen Nachrichten gelesen waren und hat kein Donnerwetter bekommen? Gar keins?«
Jetzt war ich es, die stöhnte. »Oh, nein! Hat er jetzt gedacht, dass ich ihn leiden lasse? Dass ich ihn schmoren lassen will?«
Beklommen flüsterte Anna: »Oder noch schlimmer: Er denkt, dass er dir schon längst so gleichgültig ist, dass du einfach wegsiehst!«
Sven murrte: »Jetzt baut hier mal keine Täter-Opfer-Umkehrung! Er ist der Schuft, nicht sie!«
Anna blinzelte ihn verwundert an. »Seit wann denkst du in solchen konventionellen Mono-Strukturen? Es gibt in der Liebe keine Täter und Opfer, es gibt nur verwirrte Menschen, die mit ihren komplizierten Gefühlen nicht zurechtkommen und dann eben Fehler machen!«
Sven verschränkte seufzend die Arme. »Ja, okay. Ist ja nicht so, dass wir alle noch nie Fehler gemacht hätten.«
Anna nickte knapp. »Eben! Wenn wir Simon jetzt zur Arschkrampe ernennen, weil er menschliche Fehler macht, dann lassen die beiden sich scheiden und wir sind schuld!«
Sven grinste. »Aber wir könnten ihn mit der Moralkeule verhauen!«
Ich musste lachen, dann stellte ich fest: »Eigentlich will ich das gar nicht! Um ganz ehrlich zu sein, hab ich auch ganz fürchterliche Angst vor einer Scheidung, ich will ihn auf keinen Fall verlieren. Aber wenn erst mal bekannt wird, dass er eine Affäre hat, hab ich doch gar keine andere Wahl.«
Alle drei sahen mich schockiert an. John krächzte: »Keine andere Wahl?«
Ich fuhr mir über die Augen. »Wenn alle wissen, dass er mich betrügt, kann ich doch unmöglich bei ihm bleiben! Wie sieht das denn dann aus! Als hätte ich kein Selbstwertgefühl! Ich muss doch dann Konsequenzen ziehen, um meinen Stolz zu bewahren!«
Sven rubbelte sich übers Gesicht, dann ließ er die Hände sinken. »Äh, warte, nach dem Abendessen, da hast du gedacht, dass Annika mich mit John betrügt, oder? Wie hat sie reagiert, als du ihr das an den Kopf geworfen hast?«
Meine Hand blieb mit dem Butterbrot in der Luft hängen, dann legte ich es wieder hin. »Äh, sie hat mir völlig ruhig gesagt, dass ihr eine offene Beziehung führt und dass ihr alle Bescheid wisst.«
Sven nickte zufrieden. »Und du?«
Ich neigte verwirrt den Kopf. »Ich war irgendwie fassungslos. Schockiert. Ich hab nicht verstanden, wie man sich das freiwillig antun kann.«
John stellte fest: »Du warst emotional. Weil Anna seelenruhig den Ball zurückgespielt hat und er plötzlich wieder in deiner Spielfeldhälfte lag.«
Ich musterte ihn irritiert. »Äh, ja? Irgendwie ja. Aber was willst du mir damit sagen?«
John verschränkte wieder die Hände im Nacken und streckte entspannt seine geraden, schlanken Beine aus. »Du kannst unmöglich dein Selbstwertgefühl retten, indem du tust, was die Nachbarn gerade brauchen. Du kannst es nur retten, indem du tust, was du selbst für richtig hältst. Andernfalls rettest du dein Nachbarwertgefühl, nicht dein Selbstwertgefühl.«
Ich nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Johns metaphysischen Gedanken zu folgen, war gar nicht so einfach. Anna lächelte mich an. »Wenn andere Leute sich aufregen und einmischen, dann kannst du davon ausgehen, dass sie mit ihrer eigenen Baustelle beschäftigt sind. So wie du heute Abend. Du hast John und mich gesehen, deine Schlüsse gezogen und deinen eigenen Schmerz gefühlt. Wenn du in einer monogamen Welt lebst, mit monogamen Nachbarn und Freunden und Kollegen, dann wissen alle, dass ihr System störanfällig ist. Weil eine Außenbeziehung in dieser Welt mit dem Ende der Liebe gleichgesetzt wird. Und wenn dann einem eine Affäre passiert, dann werden die anderen Tiere in der Herde unruhig. So, wie wenn ein Schaf vom Wolf gerissen wird. Dann blöken sie, stampfen und rennen los, weg von der Gefahr. Sie haben Angst, selbst gefressen zu werden. Das merkst du schon total krass, wenn du dich scheiden lässt, weil dein Mann untreu war, sie behandeln dich, als wäre das ansteckend. Aber jetzt denk mal weiter, was in den armen anderen Schafen passiert, wenn du sagst: Och, nö, eigentlich mag ich den Wolf, ich find den sogar richtig sexy, ich will mich gar nicht scheiden lassen!«
Ich schloss die Augen und stellte mir diese armen verwirrten Schafe vor. »Du meinst, andere Frauen könnten wütend auf mich werden, weil ihre Männer sich denken: Wenn der Simon damit durchkommt, dann kann ich das auch!«
Anna nickte stumm, aber dann hauchte sie: »Sie werden nur wütend, weil sie Angst haben. Sie wollen dich ja nicht verletzten oder aus der Herde ausstoßen, sie haben einfach nur wahnsinnige Angst, dass Affären ansteckend sein könnten. Du hast auch immer gedacht, dass euch das nie passieren könnte. Das denken alle. Aber manchmal passiert es eben doch! Die Angst davor ist doch vollkommen berechtigt, in einem Lebenskonzept, das erfordert, dass du sofort Schluss machst!«
Ich fiel stöhnend nach hinten und rieb mir die Schläfen. »Mir schwirrt der Kopf! Über all diese Dinge hatte ich noch nie nachgedacht! Wie könnt ihr all diese Erkenntnisse so klar und schnell aus dem Ärmel schütteln?«
Die drei sahen sich an, dann murmelte Sven: »Das ist eben nicht unsere erste Nacht am Küchentisch.«
Ich musste lachen, dann schüttelte ich mich. »Wie könnt ihr so viel Verständnis aufbringen für Leute, die euch für schwule Hippies halten?«
John beugte sich zu Anna und tuschelte wieder wie ein Kind im Wartezimmer: »Was hat das mit diesen schwulen Hippies eigentlich auf sich?«
Anna winkte ab. »Lena wurde nur auf der Suche nach einem Zimmer von den Eingeborenen vor uns gewarnt.«
John zog die Stirn kraus. »Also, ich hab nichts gegen schwule Hippies.«
Sven lachte satt. »Die meisten deiner schwulen Hippies sind Freunde!«
John nickte. »Genau! Wieso sollte ich dann beleidigt sein, wenn man mich als einen bezeichnet?«
»Aber das Essen soll sehr gut sein, haben die Eingeborenen gesagt!«, betonte ich und biss herzhaft in mein Brot. »Und da haben sie recht!«
Sven zeigte auf den Herd. »Ich kann noch Köttbullar warm machen, ist noch was da!«
Ich winkte mit vollen Backen ab und nuschelte: »Danke, lass mal! Ich platze ja so schon! Euer kleiner Snackisnack entschädigt mich wunderbar für die trockene Ente bei meinen Schwiegereltern.«
Für einen langen, entspannten Moment kümmerten wir uns einfach nur um die vielen kleinen Delikatessen auf dem Tisch. Ich lächelte gerührt, als Sven das Olivenglas nicht auf bekam und John es ihm wortlos aus der Hand nahm, um nach einem Schlag auf den Boden den Deckel abzuschrauben. Ich schüttelte versonnen den Kopf. »Wie lange funktioniert das eigentlich schon mit euch drei?«
Anna sah sich nach ihren Männern um. »Keine Ahnung, seit wann funktioniert es?«
Sven grinste. »Also, wir kennen uns jetzt fast seit drei Jahren, nee, nicht ganz. Annika hat John zuerst kennengelernt. Ich bin dem armen Malerchen erst später auf die Hütte gerückt.«
John leckte sich die Finger ab und murmelte: »Ich wollte ihn töten.«
Sven lachte satt. »Ich liebe dich auch, Malerchen!«
John lachte leise und wurde schon wieder auf diese umwerfend gefühlvolle Art ganz verlegen. Anna schaufelte sich noch ein bisschen Salat auf den Teller. »Jungs, könnt ihr schon mal den Kühlschrank einräumen? Ich fall gleich ins Fresskoma und will ins Bett.«
»Wartet, darf ich noch eine Frage stellen? Wirklich nur eine!«
Sven, der gerade aufstehen wollte, ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Klar.«
Ich wärmte mir die Hände an der Teetasse. »Also, wenn ich Simon konfrontiere, was glaubt ihr: Auf welche Reaktionen muss ich mich gefasst machen?«
Anna schob sich Salat in den Mund und mümmelte konzentriert. John ließ den Blick über die Decke schweifen und rieb sich das Kinn. »Also, ich denke, er wird es kleinreden. Wenn er merkt, dass er es nicht abstreiten kann, wird er es zuerst banalisieren.«
Ich schüttelte mich verwirrt. »Aber warum? Leugnen hat doch gar keinen Zweck mehr!«
John erklärte ruhig: »Es geht mehr um sein inneres Coming-out als untreuer Ehemann. Um Selbstakzeptanz. Er will sich ja selbst nicht so sehen, er will nicht realisieren, wie sehr er dich verletzt hat. Also wird er dir zuerst reflexhaft versichern, dass die andere ihm nie etwas bedeutet hat. Er wird dir schwören, dass er es sofort beendet!«
Anna schüttelte wild den Kopf. »Oh, nein, lass ihm das bloß nicht durchgehen! Wenn du ihm die Pistole auf die Brust setzt, damit er die Sache sofort beendet, kannst du Annegret gleich auf einen Sockel stellen! Von Glühwürmchen brautumjungfert, mit einem welken Blütenkranz im Haar, der ihre erstorbenen Hoffnungen symbolisiert!«
John murmelte schwärmerisch: »Das wird episch.«
Anna nickte so, dass ihre Locken tanzten. »Iconic, gewissermaßen!«
Sven blinzelte mir zu. »Annika verdient ihre Kohle unter anderem damit, Schnulzen für den Mainstream zu schreiben.«
»Hochlandrammler sind mein absolutes Fachgebiet! Erotische Schotten in heißen Röckchen!«, verkündete Anna stolz.
John schüttelte resigniert den Kopf. »Ich weiß bis heute nicht, was an Schotten erotisch sein soll!«
»Du bist ja auch Ire!« Sven lachte zufrieden, dann stand er endlich auf und fing an, den Tisch abzuräumen. John rappelte sich ebenfalls auf. Während Anna zufrieden ihren Teller leer putzte, unterhielten die Männer sich leise über so banale Dinge, wie dass sie die Spülmaschine morgen ausräumen würden und darüber, ob es sich lohnt, den letzten Keks noch zurück in die Packung zu fummeln.
Ich lehnte mich zurück und beobachtete einfach diese stille, vertraute Szene. Irgendwann streckte Sven die Arme aus und brummte warm: »Komm her, Malerchen, lass dich mal drücken!«
John schlüpfte mit einem zufriedenen Knurren ins Svens Umarmung und verbarg den Kopf an seiner Schulter. Ich streifte Anna mit einem neugierigen Blick. Sie wischte mit einem zufriedenen Lächeln den Rest der Salatsoße von ihrem Teller und schleckte sich den Finger ab.
Sven nahm Johns Gesicht in die Hände und flüsterte ihm etwas zu, dann küssten sich die Männer. Voller Gefühl. Und völlig ungeniert. Ich merkte, dass ich große Augen gemacht hatte und senkte mit einem Räuspern den Kopf. Ich hatte vorher noch nie gesehen, wie zwei Männer sich küssen. Jedenfalls nicht so.
Anna stand auf und stellte ihren Teller in die Spüle. »So, Pipi machen, Zähne putzen, ab ins Bett!«
»Erster im Bad!« Sven löste sich von John und verschwand aus der Küche. John blieb mit ausgebreiteten Armen einfach stehen. Anna nahm das Angebot sofort an und drückte ihn voller Liebe an sich. John flüsterte: »Ich wärm schon mal das Bett an, bis das Bad frei ist!«, dann verschwand er in dem Zimmer, aus dem Anna Sven zu uns gerufen hatte.
War das das gemeinsame Schlafzimmer der drei? Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich hatte das Gefühl, feuchte Augen zu bekommen. In diesem Haus war so viel Liebe! Anna lächelte mich müde an. »Glaubst du, dass du jetzt schlafen kannst?«
Ich nickte langsam. »Falls nicht, hab ich ja genug Stoff zum Nachdenken.« Ich stand schwerfällig auf. Jetzt merkte ich bis in die Knochen, wie erschöpft ich war, aber ich drehte mich noch einmal zu Anna um. »Ich hab wirklich noch nie Menschen wie euch kennengelernt.«
Für einen Moment kicherten wir beide. Wir gaben uns echt Mühe, nicht an schwule Hippies zu denken. Anna deutete mit einem Kopfnicken auf das Schlafzimmer. »Irgendwie sind wir mit John erst komplett geworden.«
Ich lächelte schief. »Ich steh aber leider nicht auf Frauen.«
Anna lachte auf. »Schon gar nicht, wenn sie Annegret heißen und eine flotte Kurzhaarfrisur haben. Aber das meine ich gar nicht.«
»Und was meinst du dann?«
Anna zuckte die Schultern. »Ich meine nur, dass es in der Liebe viel mehr Wege gibt, als wir uns vorstellen können. Aber wir finden die Wege nur, indem wir sie gehen. Reicht es, wenn wir morgen um zehn frühstücken?«
Ich nickte, dann schlenderte ich nachdenklich die Treppe herauf und fiel auf mein Bett.