Simon und ich starrten fassungslos durch die Windschutzscheibe. Im Licht unserer Scheinwerfer schwärmten Wikinger aus. An Sven hatte ich mich ja gewöhnt, aber das? Eine dröhnende Männerstimme schrie: »Schildwalllllll!«
Vier oder fünf riesige Kerle formierten sich und schlossen laut krachend mit Schilden den Wall.
Überall auf dem Hof hatten sich inzwischen Zuschauer verteilt, die laut johlend und klatschend das Geschehen kommentierten. Völlig auf das Spektakel konzentriert, zuckten Simon und ich synchron zusammen, weil Sven direkt vor unserer Motorhaube auftauchte. Er tänzelte wie ein Boxer und lockerte seine Nackenmuskeln, dann umrundete er im Galopp den Schildwall.
Ich hüpfte wild im Sitz auf und ab. »Das war Sven, der da! Der Große!«
Mein Mann stotterte: »Welcher? Die sind alle groß!«
Es wurden Kommandos gebrüllt, die ich nicht verstand, aber es klang auf jeden Fall skandinavisch. Der Krieger in der Mitte machte einen Schritt nach vorne, kippte seinen Schild und zog den Kopf ein. Die Menge setzte an zu einem anschwellenden: »Oooooooooohhhhhh!«, dann flitzte etwas an uns vorbei. Die quirlige kleine Anna raste über den Hof, machte unter dem Gejohle der Menge einen Satz auf den mittleren Schild und verschwand dann mit einem Salto über den Schildwall.
Für einen Moment war es totenstill, dann brüllte Sven: »Hab sie!«
Die Menge kreischte los. Der Schildwall löste sich auf. Hindurch trat Sven, der mit ausgestreckten Armen Anna in der Luft hielt wie eine Balletttänzerin. Obwohl mir gar nicht klar gewesen war, was für eine halsbrecherische Akrobatik-Nummer sie geplant hatten, stieß ich erleichtert die Luft aus. Sven trug Anna triumphierend über den Hof, die immer noch mit der perfekten Körperspannung wie ein Bügelbrett waagerecht über seinem Kopf schwebte.
Atemlos, als hätten wir selbst den Sprung gewagt, kletterten Simon und ich aus dem Auto. Ich prallte sofort im Zwielicht gegen John. Als wäre ich gar nicht weg gewesen, sah er mich stirnrunzelnd an und stellte fest: »Ich hasse es, wenn sie das tun! Ich hab immer Angst, dass sie sich was bricht oder einen Zahn ausschlägt!«
Ich grinste stolz. »Kein Problem, ich hab einen Zahnarzt dabei!«
Ich wedelte wild mit der Hand, um Simon herbeizuwinken. So scheu und befangen, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, kam er ums Auto und nickte John zu. Ich stellte vor: »Das ist Simon, mein Mann! Und das ist John, der irische Maler, von dem ich dir erzählt habe!«
Während Simon beim Händeschütteln kein Wort herausbrachte, blinzelte John nicht weniger nervös. »Äh, irischer Maler klingt immer, als wäre ich der Held eines Kitschromans.«
Er sah mich fragend an. »Hebefiguren muss man doch eigentlich im Wasser üben, oder?«
Simon prustete los. John hatte das Eis mit einem Dirty Dancing Witz gebrochen. Simon stammelte übertrieben: »Ich habe eine Wassermelone getragen!«
Ich kicherte und boxte ihn. »Nächstes Mal gucke ich den Film dann eben alleine!«
Simon grinste. »Oh, ja, ich bitte darum!«
Irgendwo hörten wir Anna übermütig quieken. »Digger, lass mich endlich runter!«
Johns Augenlider flatterten kurz, dann wurde er von einem Wikinger aus dem Weg gerempelt. Nein, von einer Wikingerin. Die Frau, die John eine handbreit überragte, fragte vorwurfsvoll: »Was soll ich mit dem Gummi-Teil machen, wenn uns die Ostfriesen angreifen?« Sie schlug mit einem Spielzeug-Schwert auf ihren Schild. »Hört ihr das? Poff, poff! Wie soll ich mir denn mit dem Ding Respekt verschaffen!«
John bohrte eine Hand in die Hosentasche und rieb sich mit der anderen auf seine typische Art den Nacken. »Äh, Lotta, Schildmaid und Trommlerin, und das sind Simon und Lena.«
Lotta wollte gerade ihr Schwert unter den Arm klemmen, um uns die Hand zu geben, als sie von der Seite angegriffen wurde. Sie wich geschickt aus und hielt mit ihrem Schwert eine Gummi-Axt auf, bevor sie auf ihren Schild hernieder sausen konnte.
Im ersten Moment dachte ich, der Angreifer sei Sven, aber er schien nur ein Doppelgänger zu sein. Sein Haar war etwas dunkler und auf eine andere Art sehr strubbelig und kreativ frisiert. Während Lotta und dieser Krieger sich angriffen, auswichen, umeinander drehten und mit dröhnenden Schreien ein atemberaubendes Wikinger-Ballett aufführten, tauchte Sven neben John auf. Grinsend schüttelte er mir die Hand. »Lasst euch von meinen Geschwistern gar nicht stören, die wollen nur spielen!«
Fasziniert hauchte ich: »Ihr seid Geschwister?«
Simon krächzte: »Alle?«
Sven nickte und schüttelte auch Simon die Hand. »Ich bin Svenne. Ja, also, nicht alle Leute, die hier rumspringen, sind aus demselben Nest wie ich. Nur die, die aussehen, als würden sie Haustüren mit der Axt öffnen.«
Lotta und ihr Gegner ließen die Schilde sinken und reihten sich artig neben Sven auf. Stolz verkündete Lotta: »Wir drei sind die kleinsten Hedlunds!«
John beugte sich zu uns und verbesserte schnell: »Die jüngsten!«
Ich hörte Simon hinter mir kichern. Sven stellte fest: »Jedenfalls sind wir die hübschesten!«
Svens Doppelgänger betonte: »Ich bin hübscher als Sven!«
Lotta rempelte ihre Brüder an. »Ich bin hübscher als ihr beide zusammen!«, dann streckte sie Svens Doppelgänger die Zunge raus und rannte los. Sofort setzten ihre Brüder ihr nach. Das dumpfe »Klirren« der Gummischwerter setzte wieder ein.
John holte Luft, aber er kam nicht dazu, etwas zu sagen. Wie eine Bombe platzte die nächste Frau mitten in unsere kleine Gruppe. »Oh, Gott, wie gut, dass ihr da seid! Ich müsst Lena und Simon sein! Ich bin Steffi.«
Das Händeschütteln ging wieder los, dann ging die blonde Frau, deren kurze Zöpfchen von ihrem Kopf abstanden wie kleine Antennen, flehend in die Knie. »Kann einer von euch ein Bierfass anschließen? Und wir brauchen ganz dringend jemanden in der Küche, der zwanzig Pizzen in kleine Stücke säbelt und sie gegen die Meute verteidigt, bis wir das Buffet aufgebaut haben!«
Simon krempelte seine Ärmel hoch. »Okay, wo ist die Küche? Und Lena müsste wissen, wie man ein Fass anschließt, ihre Oma hatte eine Wirtschaft!«
Ich lachte empört. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein Fass anschließt! Aber Steffi machte so einen niedlichen Freudenhüpfer und rannte so schnell los, dass Simon und ich einfach mal hinterher stolperten. Der Hof hatte sich jetzt merklich geleert, langsam wurde der schneidende Wind auch wirklich eisig.
Simon und ich stiegen hinter Steffi die große Freitreppe zu der wuchtigen alten Haustür hinauf. Simon flüsterte mir zu: »Ist das hier immer so?«
Ich grinste ihn entschuldigend an. »Ich weiß, sie sind ein bisschen chaotisch, aber gib ihnen bitte eine Chance!«
Aber mein Mann lachte befreit auf. »Machst du Witze? Langsam beginne ich zu verstehen, was du damit meintest, dass ich hier einfach mal die lockere Atmosphäre auf mich wirken lassen soll! Diese durchgeknallten Leute sind fantastisch!«
Ich schnaufte erleichtert, dann sah ich ihn erschrocken an. »Wir haben das Mitbringsel im Auto vergessen!«
Simon guckte mich verdutzt an, dann lachte er laut los. »Glaubst du, dass unsere mickrige Flasche Wein hier einen Unterschied macht? Das sind mindestens fünfzig Leute!«
Ich kicherte und wisperte Simon zu: »Anna hat irgendwas von ›nur ein paar Freunde‹ gemurmelt!«
Die Haustür, die während unseres kleinen Gesprächs hinter Steffi zugefallen war, wurde wieder aufgerissen. Vor uns stand Elvis. »Seid ihr der Gastro-Trupp?«
Simon und ich prusteten los, dann stolperten wir ins Haus. Ich glaube, wir waren bereit, uns in die verrückteste Party unseres Lebens zu stürzen.