Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr und setzte mich mit einem verschämten Grinsen an den Tisch. Frühstück um zehn war abgemacht, jetzt war es halb zwölf. Aber ich hatte so unglaublich gut geschlafen! Wie ein Bärenbaby im ersten Winterschlaf!
Der Tisch war noch gedeckt, aber die Männer waren verschwunden. Anna wuselte dafür mit dem Telefon am Ohr durch die Küche und schien zu arbeiten. Auf der Arbeitsfläche stand ihr aufgeklappter Laptop, sie schlürfte Kaffee im Stehen und zwinkerte mir fröhlich zu. Ich lächelte erleichtert. Offenbar war sie nicht böse, weil ich das Frühstück verschlafen hatte. Ich lauschte mit halbem Ohr auf Annas Telefonat.
»Ja, ja, ich versteh genau, was du meinst. Aber ich hab die Frau jetzt ausführlich gestalkt und ich hab ihre Webseite gerade offen! Da steht wortwörtlich: ›Ich träume davon, irgendwann einen ernsthaften historischen Roman zu schreiben, der ja nicht auf Tatsachen beruhen muss. Vielleicht wird er ja mal wahr!‹, und ich kenn mich!« Anna lachte hell auf. »Ich weiß, wir sind die Robin Hoods der kleinen Künstler und verschaffen jeder halbwegs sympathischen Wildsau Reichweite, aber wenn ich die Frau im Interview habe, erstick ich dran, sie nicht zu zerlegen! Das ist einfach zu komisch, um zu widerstehen! Erstens ist es absurd, einen Roman, der nicht auf Tatsachen beruhen soll, weil Recherche ja Arbeit machen könnte, als ernsthaften historischen Roman zu bezeichnen. Zweitens ist ihr Lebenstraum so missverständlich formuliert, dass sie suggeriert, dass ihre erfundenen Tatsachen wahr werden könnten, wenn sie einen Roman darüber schreibt! Hallo?«
Ich senkte den Kopf und musste lachen. Diese sprachliche Ungenauigkeit wäre mir gar nicht aufgefallen, wenn Anna sie nicht eben zerpflückt hätte. Ich fragte mich, ob ich auch mal einen Roman schreiben könnte, der nicht auf Tatsachen beruht und dann wahr wird. Als Arbeitstitel wäre »Der treue Simon« ganz schön.
Anna lauschte aufs Telefon und lachte, holte dabei aber aus dem Backofen ein Brotkörbchen, um es mir vor die Nase zu stellen. Sie flüsterte stolz: »Hab ich vor den Jungs für dich versteckt! Kaffee oder Tee?«
»Kaffee!« Ich seufzte hingerissen. Ein Croissant, ein Körnerbrötchen, ein Schokobrötchen und ein Sesambrötchen lächelten mich an. Schon ohne Marmelade und Käse würde dieses Körbchen wahrscheinlich meinen Kalorienbedarf für den ganzen Tag decken. Ich beobachtete, wie Anna wieder zur Arbeitsplatte wuselte und eine Thermoskanne griff, um mir Kaffee zu servieren. Sie lachte wieder hell auf. »Alter, nein! Ich weiß, dass der Bärchen heiß auf das Interview ist, aber ich glaub einfach nicht, dass die Frau uns gestalkt hat, bevor sie diese Kooperationsanfrage raus geschickt hat! Die hat uns wahrscheinlich in irgendeiner Liste mit Influencern oder Buchbloggern oder was weiß ich gesehen und hat keine Ahnung, was wir wirklich machen!«
Ich fragte mich zwei Dinge auf einmal. Wer war »der Bärchen« und was machte Anna eigentlich wirklich?
Während ich mein Croissant voller Vorfreude mit Marmelade bestrich, kam John in die Küche und hielt die gespreizten Hände hoch wie ein Arzt, der aus dem OP kommt. Nur waren seine Hände nicht blutbefleckt, sondern bunt. Anna verstand ihn sofort und versuchte, ihm mit der freien Hand die Ärmel aufzukrempeln. Während John mir ein umwerfendes Lächeln schenkte, drehte Anna den Wasserhahn auf und machte ihrem Malerchen Platz.
»Hmhm, versteh ich. Ihr wollt das unbedingt. Pass auf, dann lass uns einen Test machen. Du rufst die Frau an und führst mit ihr ein Vorgespräch. Sag ihr, dass wir das mit allen Bewerbern machen. Und dann guckst du einfach mal, ob die schlagfertig ist und sich selbst mit Humor nehmen kann, oder eben nicht. Ich will nämlich nicht, dass unsere Follower der armen Frau das Herz brechen, weil sie sich über ihr dilettantisches Lebenswerk scheckig lachen, das ist echt eine sensible Sache! Für uns sind Titel wie Dem Henker seine Hure eine grandiose Steilvorlage für geile Satire, aber ich will nicht die Schuld daran tragen, dass eine tippende Mutti aus Bottrop sich das Leben nimmt, weil wir ihr die Illusion nehmen, dass sie eine ernsthafte Erotik-Autorin ist! Wir haben doch keine Ahnung, was dahinter steckt, vielleicht sind ihre Geschichten alles, was die Frau hat! Wir müssen da mit Respekt und Fingerspitzengefühl ran!«
Anna lauschte und nickte wieder und reichte John automatisch ein Handtuch, dann sah sie ihn an. »Ich hab gerade deine kleine Blume in der Leitung, willst du mit ihr sprechen?«
John flüsterte: »Hab ich schon!«, hängte das jetzt bunt bekleckerte Handtuch an seinen Haken und gab Anna ein Küsschen auf die Nase. Mit einem lauten: »Ich liebe meine Frauen! Alle beide!« verschwand er wieder aus der Küche.
Ich biss mit einem tiefen Seufzer in mein Croissant. Annas Telefonat klang nach Arbeit. Arbeitete sie etwa mit Johns anderer Freundin? Friedlich? Dieser polyamore Beziehungsalltag war besser als jede Telenovela.
Während ich mich fragte, wann Sven wohl auf der Küchenbühne auftreten würde, lachte Anna wieder ihr fröhliches, heiseres Lachen. »Ja, er ist im Arbeitsrausch, das gibt wieder zehn Kilo Kochwäsche. Hast du gesehen, dass Nicki in der Gruppe nach einer Mitfahrgelegenheit gefragt hat? Und wann wollt ihr Silvester denn überhaupt eintrudeln? Oh, warte, Svenne kommt, ich ruf dich später wieder an!«
Anna legte auf und ich freute mich mümmelnd auf den nächsten Akt. Irgendeine Tür fiel mit einem lauten Knall zu, dann rief Sven: »Sorry!«
Anna antwortete: »Kannst Krach machen, Lena ist wahach!«
Sven tauchte in der Küche auf. Warm eingepackt. Der riesige Kerl trug tatsächlich eine Strickmütze, die aussah wie ein Wikingerhelm. Mit Hörnern und angenähten Zöpfen. Er wehte mit einer frischen Wolke kalter Winterluft an mir vorbei. »Hi, Lena-Krümel! Nika, wo sind die verfickten Arbeitshandschuhe? Ich hab fünftausend Splitter in den Pfoten!«
»Oh, deine zarten Musikerhände!« Anna küsste Svens eiskalte Finger, dann schickte sie ihn in den Hauswirtschaftsraum zum Werkzeugregal. Sie brüllte aber hinterher: »Hast du genug Paletten bekommen?«
Sven tauchte wieder auf. »Yäp! Ehrlich, der verdammte Idiot wollte mich übers Ohr hauen! Ich hab 50 Paletten bezahlt und der wollte mir nur 46 auf den Hänger packen! Aber nicht mit Svenne! Ich kann nämlich zählen!«
Anna nickte heftig. »Sogar auf Ssswedisss!«
Ich lachte auf. Auch Sven gab Anna ein Küsschen auf die Nasenspitze. Wahrscheinlich hatte diese Frau die meistgeküsste Nasenspitze Ostfrieslands. »Ich muss rüber, wir wollen das dämliche Bettenlager aufbauen, bevor das Tageslicht weg ist!«
Anna nickte knapp. »Vier Stunden habt ihr noch, dann wird das schon wieder dunkel!«
Sven rieb sich den Bauch. »Gibt es eigentlich schon einen Plan fürs Essen?«
Anna sah verträumt zu ihm auf. »Ich dachte an zehn Kilo Lasagne oder so.«
»Ick liebe dir!« Sven nahm Annas Gesicht in die Hände, küsste sie voller Leidenschaft, dann streifte er seine Arbeitshandschuhe über und rannte wieder raus.
Anna setzte sich zu mir an den Tisch und lächelte. »Tut mir leid, dass es heute so hektisch ist. Wir stecken nur mitten in der Planung der Silvesternacht.«
Ich kicherte zufrieden. »Hab ich das richtig verstanden, ihr baut ein dämliches Bettenlager?«
Anna grinste und pustete sich eine Locke aus der Stirn. »Ja. Das dämliche Bettenlager ist die ostfriesische Variante von Odins Halle. Nur eben in einer ostfriesischen Scheune. Wir haben uns mal wieder mit der Bettenbelegung hoffnungslos verkalkuliert und erwarten jede Menge Wikinger und die gesamte Entourage. Im Sommer bauen wir einfach ein Zeltlager im Garten, aber dafür ist es gerade einfach zu kalt. Deswegen bauen wir in einem Teil der Scheune einen Palettenboden und darauf kommen dann Schlafsäcke, Felle, Decken, Kissen, alles, was das Wikingerherz begehrt. Wer dann beim Feiern umfällt, hat es warm und weich.«
Ich lachte auf. »Oha, das klingt nach einer Menge Met.«
»Nö!«, Anna schüttelte entspannt den Kopf. »Wir trinken eigentlich kaum. Aber wir trommeln, tanzen, futtern und feiern die ganze Nacht. Und selbst, wenn wir die Bettenbelegung akribisch planen, hält sich sowieso niemand dran, also spielen wir einfach Wikinger-Bingo.«
Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und prustete: »Wikinger-Bingo?«
Anna nickte völlig trocken. »Analog zum ostfriesischen Kuhfladen-Bingo. Das Bettenlager wird in Quadrate unterteilt und jeder darf einen Tipp abgeben, wer an welcher Stelle umfällt.«
Ich lachte seufzend in mich hinein. Wehmütig murmelte ich: »Das klingt wirklich nach einer verrückten Party.«
Ich konnte mich gar nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal ausgelassen gefeiert hatte. So, wie die Menschen in dieser WG, hatte ich wahrscheinlich noch niemals gefeiert. Die Partys, auf die wir gingen, endeten meistens damit, dass wir uns gesittet für den schönen Abend bedankten, eine Gegeneinladung aussprachen und beteuerten, dass wir unbedingt mal wieder zusammen einen Kaffee trinken müssten. Um uns dann dabei genauso zu langweilen wie auf der Party. Einfach zu trommeln und zu tanzen, bis alle in ein riesiges Bettenlager fielen, war jedenfalls in meiner Welt undenkbar.
Anna sah mich prüfend an. »Wie hast du überhaupt geschlafen?«
Ich horchte in mich hinein, dann lächelte ich. So richtig von innen. »Um ehrlich zu sein, so gut wie ewig nicht.« Ich zögerte kurz, dann fügte ich hinzu: »Ich hab gestern Nacht noch ein bisschen mit Simon geschrieben.«
Annas Augen blitzten verstehend auf. Gespannt flüsterte sie: »Wie war es?«
Ich grinste schief. »Na ja, er hat mir beteuert, dass es vorbei ist und dass wir nie wieder darüber reden müssen.«
Tonlos flüsterte Anna: »Und das willst du.«
Ich schlug mir die Hände vors Gesicht und kicherte wie ein dämlicher Teenie. »Ja, nein! Das will ich nicht! Ich will mit ihm reden! Ich will ihn nicht einfach so vom Haken lassen, dann könnte ich ihm doch nie wieder vertrauen! Und ich weiß, du musst mich jetzt für eine fürchterlich dumme Pute halten, aber ich will meine Ehe einfach retten! Ich bin mit einem ganz warmen und liebevollen Gefühl für Simon aufgewacht und ich will es mit ihm schaffen!«
Gerührt hauchte Anna: »Das ist wundervoll!«, dann setzte sie sich ruckartig auf. »Aber wieso sollte ich dich für eine dumme Pute halten?«
Ich sah mich in der gemütlichen kleinen Küche um, dann streichelte ich aus irgendeinem verwirrenden Impuls heraus den Küchentisch. »Ich dachte, du erklärst mich für verrückt, weil ich so eine konventionelle Beziehung retten will.« Ich grinste entschuldigend. »Dein Leben ist einfach so vollkommen anders als meins.«
Anna lehnte sich zurück und zog grübelnd die Stirn kraus, dann zupfte sie sich gedankenverloren das Milchbrötchen aus dem Korb. »Es tut mir leid, wenn wir dir den Eindruck vermittelt haben, als wären wir irgendwie missionarisch.«
»Missionarisch?«
Anna zuckte mit einem tiefen Seufzer die Schultern. »Na ja, als wäre unser Lebensstil der einzig richtige. Das ist Quatsch. Das passiert uns tatsächlich manchmal, dass Monos anfangen, sich vor uns zu rechtfertigen, sobald sie verstanden haben, wie wir wirklich leben. Aber das ist wirklich totaler Quatsch! Wir sind einfach nur Fans der Theorie, dass jeder Mensch auf die Art glücklich werden sollte, die zu ihm passt!« Plötzlich huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. »Abgesehen davon sind wir die Letzten, die dir raten würden, eine langjährige Beziehung einfach aufzugeben.«
Ich machte eine ausladende Handbewegung. »Ja, aber in deiner Welt gibt es so viele Möglichkeiten! Du kannst dich jederzeit in einen anderen Mann verlieben, oder nicht?«
Anna sah mich an wie ein betretenes kleines Mädchen, das seine Hausaufgaben vergessen hat. Aber dann reckte sie sich über den Tisch und nahm meine Hand. »Lena, denkst du, dass ich Sven oder John einfach aufgeben könnte, wenn es schwierig wird? Du hast keine Ahnung, was wir schon alles zusammen durchgemacht haben! Wie oft wir uns verletzt haben, ohne es zu wollen! Wir haben dieselben Sorgen und Probleme wie alle anderen Paare, wir legen nur keine geblümte Tischdecke drüber, wir reden! Und wir haben nicht diese ab Werk eingebaute Sollbruchstelle. Für uns bedeutet das Ende der Exklusivität nicht das Ende der Liebe. Aber wir sind doch trotzdem auch eifersüchtig und verwundbar und haben Verlustangst und Schuldgefühle und all das. Wir gehen nur einen anderen Weg, um damit klarzukommen!«
Ich nickte ganz langsam. »Ihr wählt nicht den Weg, es zu beenden und dann nie wieder darüber zu reden.«
Anna ließ meine Hand los und lehnte sich zurück. »Ganz genau. Nicht zu wissen, was los ist, würde mich wahnsinnig machen. Ich würde vor Eifersucht durchdrehen, selbst dann, wenn sie gar nichts anstellen. Ich würde mich immer fragen, was da hinter meinem Rücken passiert und wann die nächste Bombe platzt.«
Für eine Weile saßen wir still da, jede mit ihren Gedanken beschäftigt. Irgendwann murmelte ich: »Ich hatte tatsächlich eine völlig falsche Vorstellung von Menschen wie euch.«
Ich sah, dass Anna den Kopf senkte und ein Grinsen verbarg. Ich musste lachen. »Simon dachte übrigens, du wärst eine Oma.«
Anna sah mich verwundert an. Ich kratzte mich verwirrt an der Schläfe. »Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, wie er darauf gekommen ist. Ich hatte ihm geschrieben, dass ich bei sehr liebevollen Menschen ein Zimmer gebucht habe und die Gespräche genieße mit einer Frau, die mit zwei wundervollen Männern zusammenlebt.«
Anna grinste so satt, dass sie mich an Sven erinnerte. »Er hat gedacht, das können nur Alt-68er sein. Und die sind ja inzwischen selber 68. Mindestens!«
Ich prustete los. »Jetzt verstehe ich das erst mal! Wenn du mir nicht erklären würdest, was im Kopf meines Mannes passiert, wäre ich völlig aufgeschmissen!«
Anna sprang auf, hüpfte in einen angrenzenden Raum und kam mir einer bunten Keksdose zurück. »Mehr Kaffee?«
Ich nickte. Während Anna mir zufrieden summend einschenkte, nahm ich Anlauf, um die Frage zu stellen, für die ich mich aus dem Bett bewegt hatte. Ich wollte es jetzt wirklich wissen. »Wenn du Eifersucht kennst, dann erklär mir, wie du sie aushältst. Ist das nicht die Hölle für dich, wenn du weißt, dass einer deiner Männer bei einer anderen Frau ist?«
Anna ließ sich mit einem tiefen Schnaufen wieder auf ihren Stuhl fallen, zog ein Knie an und umarmte sich selbst. Ich konnte auf ihrer Stirn die Grübelfältchen tanzen sehen und fragte mich, ob sie sich gleich den Nacken reiben würde wie John. Endlich holte sie tief Luft. »Ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann, weil ich einfach nicht monogam bin.«
»Wie meinst du das?«
Anna hob die Schultern und neigte mit einer geschmeidigen Bewegung den Kopf. »Ich weiß selbst nicht genau, was ich sagen will. Aber meine eigene Gefühlswelt ist einfach nicht so exklusiv wie deine, völlig wertfrei, da gibt es kein richtig oder falsch. Ich ticke nur einfach nicht so, dass ich in einem Menschen meine ganze Welt finden will oder kann. Ich hab einige Liebesbeziehungen, die sich für mich alle völlig einzigartig und exklusiv anfühlen, weil jeder Mensch ein absolutes Einzelstück ist. Und ich schaffe es nicht, eine Rankingliste zu erstellen. Ich mache auch bei der Liebe keinen Unterschied, ob die Beziehung einen leidenschaftlichen, körperlichen Aspekt hat oder nicht, sie sind einfach nur alle vollkommen verschieden. Ich liebe meine engsten Freundinnen und Freunde genauso wie meine Männer, nur eben vollkommen anders. Aber trotzdem falle ich weich, wenn es in einer dieser Beziehungen Probleme gibt. Weil ich das unglaubliche Glück habe, mehrere Menschen zu haben, bei denen ich ganz ich selbst sein kann und die mich lieben, wie ich bin. Ich hab einfach die Sicherheit, dass ich immer jemanden finde, der mir Halt gibt, wenn ich wackle.«
Ich zupfte fasziniert Watte aus einem Brötchen. »Wenn du wackelst?«
Anna nickte wild. »Wenn ich eifersüchtig bin, dann weiß ich immer, dass ich ein Defizit habe. Dann fehlt mir was. Bestätigung, Zuwendung, Liebe. Und im Idealfall kann ich dann zu dem Menschen gehen, der dieses Defizit für mich gerade spürbar macht. Aber manchmal geht das eben nicht. Dann kann ich aber meine Bedürfnisse nach Nähe und Wärme woanders befriedigen.«
Ich schluckte und spülte meinen Happen mit Kaffee herunter. »Ja, aber ist das dann nicht nur ein lauwarmer Ersatz?«
Annas Augen leuchteten mich an, als hätte sie eine Glühbirne im Kopf. Sie hatte wirklich wunderschöne, kluge Augen. »Du hast gerade Kummer wegen deines Mannes, aber das Leben hat dich zu uns ins Haus gespült. Würdest du sagen, dass deine Zeit hier, das Reden, das Ausschlafen, das Essen, das Tanzen und Heulen nur ein lauwarmer Ersatz dafür sind, mit ihm schweigend in eurem Haus zu sitzen und eure Probleme zu ignorieren?«
Ich sah Anna erschlagen an, dann griff ich mir an den Kopf und murmelte: »Du hast recht! Um ehrlich zu sein, ich hab mich ewig nicht so lebendig und so zentriert gefühlt. Hier, mit dem ganzen Abstand zu ihm und mit euch, da kann ich meine eigenen Gefühle viel klarer wahrnehmen und verstehen.«
Anna nickte langsam, dann grinste sie breit. »Siehst du? Für mich ist es so, dass ich das immer haben will, dieses Gefühl, die Mitte meines eigenen Lebens zu sein. Bei mir selbst zu sein. Und dann finde ich es immer sehr entspannend, wenn meine Männer auch woanders hingehen können. Der Gedanke, die alleinseligmachende Frau eines Mannes zu sein, würde mir völlig die Luft abschnüren. Ich kenn mich, ich würde mich selbst mit einer diffusen Bringschuld unter Druck setzen und ständig versuchen, mich an seine Bedürfnisse anzupassen. Ich würde eine grauenvolle, klammernde Klammeraffenheulsuse werden, die den ganzen Tag passiv-aggressive Pfeile abschießt. Und ich hätte ständig vor Verlustangst Schnappatmung.«
Ich lachte verwirrt. »Und so hast du keine Verlustangst?«
Anna nickte wieder so wild, dass ihre Locken flogen. »Doch, hab ich, hab ich! Auf jeden Fall! Aber die hast du in jeder Beziehung! Und Komplexe! Ich hab wahnsinnige Komplexe! Guck mich doch mal an, ich bin irgendwie nur halb fertig geworden! Ich fühl mich manchmal gar nicht wie eine richtige Frau, ich bin winzig und hab Hände wie ein Hamster! Und ich hab noch dieselbe BH-Größe wie mit vierzehn! Und dann guck dir Sven an! Diesen riesigen, männlichen Kerl mit dem breiten Kreuz und den dicken Muckis und den Tattoos! Sven ist Berufsmusiker, der muss so aussehen, der Style ist Teil seines Jobs, sein Charisma und das alles. Und er steht auf Frauen, die so handfest sind wie er! Sven mag bombastisch opulente Walküren mit wogenden Brüsten und Beinen wie Säulen, so richtige Wuchtbrummen! Und ich bin«, Anna grinste entschuldigend, »ich bin immer noch die kleene Annika, die ihre Schultüte kaum festhalten kann!«
Ich sah Anna fasziniert an und schüttelte atemlos den Kopf. Ich wusste nicht, ob ich mit ihr lachen oder weinen sollte. »Ja, aber, wenn du so unsicher bist, obwohl das absolut nicht nötig ist, müsstest du dann nicht erst recht eine zehn Meter hohe Mauer um euer Haus ziehen?«
Anna schüttelte aufgedreht den Kopf. »Nein, verstehst du denn nicht? Sven ist frei! Er kann seine Walküren haben, er kann sich austoben! Und was bedeutet das für mich? Es bedeutet, dass er genau mich will, wenn er zu mir kommt! Er würde mich nie verlassen, weil er mal was mit einer anderen Frau haben will, nie! Er darf ja! Ich weiß, dass viele andere Frauen das nicht so sehen können, aber mir gibt es Sicherheit, meinen Männern Freiheit zu lassen. Und es entlastet mich sagenhaft! Ich könnte ihnen doch nie alles geben, was sie brauchen! Dann bin ich doch froh, wenn sie nicht frustriert knurrend bei mir auf der Bettkante hocken und mir ein schlechtes Gewissen machen, weil sie meinetwegen auf so vieles verzichten müssen! Und ich könnte doch auch die Zeit mit John gar nicht genießen, wenn ich wüsste, dass Sven gerade die Wände rauf geht und leidet wie ein Tier! Und umgekehrt auch nicht! Deswegen kann dein Mann doch nicht mit dir reden, weil er sich immer noch irgendwie vormachen kann, dass niemand verletzt wird, solange er die Klappe hält! Aber das klappt nicht, so was klappt nie!«
Ich stand auf, lief um den Tisch und rubbelte mir hektisch übers Gesicht. »Oh, mein Gott! Warte, da sind jetzt zu viele Einzelteile, lass mich eben meine Gedanken sortieren!«
Ich lief ein bisschen hin und her und ratterte, während Anna zufrieden summend an ihren Keksen knabberte. Ich warf mich wieder auf meinen Stuhl. »Okay, warte. Also, du hast keinen Grund für Verlustangst, weil Untreue in eurer Welt nicht zwingend eine Trennung bedeutet. Du bist erleichtert, wenn du nicht allein dafür zuständig bist, die Bedürfnisse deiner Männer zu befriedigen, weil du dadurch nicht perfekt sein musst. Und weil du selbst nicht exklusiv fühlst, zieht es dir auch nicht gleich den Boden unter den Füßen weg, wenn einer deiner Männer sich verliebt und Energie in eine andere Beziehung investiert.«
»Genau!« Anna nickte knapp.
Ich seufzte tief und griff mir stöhnend an den Kopf. »Das ist das krasse Gegenteil von allem, was ich jemals über Liebe gehört habe!«
Anna grinste. »Niemand hat behauptet, das Polyamorie einfach ist.«
Ich nickte hektisch und knabberte mir angespannt an der Lippe. »Das beantwortet jetzt aber immer noch nicht meine Frage! Was machst du mit deiner Eifersucht? Hast du nie das Bedürfnis, anderen Frauen die Augen auszukratzen?«
»Doch, klar, hab ich.«
Ich sah Anna verwundert an. »Ja, aber, was machst du dann?«
Anna zog ein drolliges Gesicht, dann flüsterte sie: »Empathie!«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Empathie?«
Annas Locken tanzten wieder beim Nicken. »Wir Frauen werden alle von klein auf dazu erzogen, uns gegenseitig verbissen zu bekämpfen, als Rivalinnen. Eine Frau, die auf deinen Mann steht, ist eine miese Bitch, die du sofort zum Schlammcatchen fordern musst, sonst hast du keine Ehre!«
Ich wischte mir über die Augen, sah zur Decke und kicherte schuldbewusst. »Ich gebe zu, ich habe kurz daran gedacht, Annegret in einer dunklen Seitengasse aufzulauern und über ihrem Kopf meine Biomülltonne auszukippen.«
Anna kicherte. »Sehr kreativer Gedanke. Aber jetzt versuch es mal andersrum: Sie liebt dasselbe wie du, nämlich deinen Mann. Das ist eine riesige Gemeinsamkeit. Und sie hat dieselben Ängste wie du. Sie ist verliebt und hat Angst, verletzt zu werden. Sie ist eifersüchtig, weil er abends zu dir nach Hause fährt. Sie fragt sich, ob all die Sachen, die er ihr erzählt, wirklich stimmen. Dass du eine frustrierte Ziege bist, dass im Bett schon ewig nichts mehr läuft, dass er sich sowieso schon lange scheiden lassen will, aber dass deine Mutter krank ist oder der Hund oder der Briefträger, auf jeden Fall ist jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um dir den Todesstoß zu verpassen, weil ihr ja auch die Hypothek für das Haus habt und so. Die Ehefrau zu verlieren wird in solchen Szenarien irgendwie nie so dramatisch dargestellt, aber das Haus? Das muss doch wirklich jede Geliebte einsehen! Bei Immobilien hört der Spaß wirklich auf!«
Ich konnte einfach nicht mehr anders, ich prustete los vor Lachen. Ich japste: »Er kann mich nicht verlassen, weil der Briefträger krank ist?«
Entrüstet rief Anna: »Weißt du, was das kostet, wenn er dem Briefträger eine neue Niere kaufen muss? Er könnte das Haus verlieren!«
Ich wischte mir die Lachtränen aus dem Gesicht und hechelte: »Jetzt tut sie mir fast leid!«
Anna grunzte befriedigt, dann wurde sie ernst. Ganz leise sagte sie: »Ich versteh dich, Lena. Es tut wahnsinnig gut, sich über die blöde Schlampe lustig zu machen, die dir deinen Mann wegnehmen will. Aber in den wenigsten Fällen hat sie das wirklich verdient.« Annas Augen huschten hin und her, dann fügte sie hinzu: »Außer, die Annegret heißt Sonja.«
Ich flehte: »Oh, ja, bitte sag mir, dass du das Gefühl kennst!«
Annas Lippen wurden ganz schmal, aber selbst, wenn sie grimmig guckte, sah diese Frau einfach noch umwerfend sanft und niedlich aus. Sie brummte böse: »Wir nennen Johns Exfrau nur Pradotze!«
»Pradotze?« Ich starrte Anna so ratlos an, als hätte ich Sehstörungen. Aber sie war nicht verschwommen, ich sah so klar wie ewig nicht.
Schuldbewusst wisperte Anna: »Sie hat einen Handtaschen-Tick! Deswegen haben wir sie Prada-Fotze getauft! Aber Fotze sagt man nicht!«
Ich kreischte vor Lachen so los, dass ich fast rückwärts vom Stuhl gekippt wäre. »Pradotze! Das ist genial! Das muss ich mir merken!«
Anna lachte, aber dann nahm sie wieder meine Hand. »Nein, musst du nicht! Du brauchst keine Schimpfwörter!«
Atemlos sah ich sie an. »Brauche ich nicht?«
Anna schüttelte ganz langsam den Kopf und sah mir gefühlvoll in die Augen. »Glaubst du wirklich, dass ein Schäfchen wie dein Simon sich in eine ordinäre Wackelarsch-Dummbratze verlieben würde? Denkst du das? Würde er für einen schmutzigen Fick mit einer hohlen Cocktailtomate eure Liebe aufs Spiel setzen?«
Ich schluckte. »Woher weißt du, dass er so ein Schäfchen ist?«
Anna neigte nur den Kopf und sah mich abwartend an. Ich atmete ganz langsam aus, dann blinzelte ich verwirrt. »Ich glaube, ich würde jetzt gerne nach Hause fahren.«
Anna sah mich fasziniert an, mit diesen intelligent leuchtenden Augen. Ganz leise flüsterte sie: »Mach das! Und wenn ihr Lust habt, könnt ihr ja zur Silvesterparty wiederkommen. Im dämlichen Bettenlager kommt es auf zwei Leute mehr auch nicht an.«