Ich folgte dem Gelächter und Stimmen, weil ich glaubte, Anna gehört zu haben. Eigentlich war ich auf der Suche nach meinem Mann, weil ich ihn, vertieft in ein Gespräch mit dem Bärchen, aus den Augen verloren hatte.
Simon hatte angefangen, sich einfach treiben zu lassen. Während ich in einem Sofa in der Scheune versunken war, um die Live-Musik zu genießen, war Simon herumgestromert. Die Wikinger hatten mitreißend getrommelt, die russische Band hatte unfassbar gute Laune versprüht und der ostfriesische Elvis hatte mich mit seiner gefühlvollen Version von »In the Ghetto« tatsächlich zu Tränen gerührt.
Simon war eine Zeit lang John gefolgt wie ein junger Hund, der alles unglaublich aufregend findet, aber sich in Schreckmomenten gern noch hinter seinem Herrchen versteckt. Irgendwann hatte ich ihn ohne John gesehen. Er hatte sich mit Leuten unterhalten, die ich gar nicht kannte. Er ja auch nicht. Aber er schien sich ausgesprochen wohlzufühlen. Immer wieder hatten wir Blicke getauscht und uns zugelächelt, irgendwann war er dann aus der Scheune verschwunden.
Wahrscheinlich ging es ihm genauso wie mir, er war fasziniert von den Menschen und der Atmosphäre. Aber jetzt hatte ich mich in dem großen, verschachtelten Haus auf die Suche nach ihm gemacht.
Anna zu finden, war aber auch nicht schlecht. Ich hatte den ganzen Abend noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden.
Ich klopfte an eine halb offen stehende Tür und linste vorsichtig in den Raum.
»Lena, komm rein!« Anna saß mit einem kleinen Rudel Frauen auf einem großen Bett. Ich erkannte im schummrigen Licht einer Nachttischlampe Steffi und Lilly. Ich betrat das Zimmer und sah mich um. Auch dieser Raum sah sehr nach Anna aus. Weiße Bücherregale bis unter die Decke, ein Schreibtisch am Fenster und jede Menge bunte Kissen. Ich setzte mich vorsichtig auf die Bettkante. »Ich will euch aber nicht stören!«
»Nein, du störst uns nicht! Kennst du Nicki schon?«
In dem kuscheligen Knubbel vertrauter Freundinnen setzte eine Frau mit umwerfenden blonden Dreadlocks sich auf und streckte mir die Hand hin. »Hi, Lena! Du musst das monogame Ehedrama sein!«
Ich stutzte einen Moment, aber Nickis Blick war so offen und freundlich, dass ich lachte. »Ja, das bin ich wohl. Ich kann mir vorstellen, dass ich euch exotisch vorkomme.«
Anna stopfte sich ein Kissen zurecht und kuschelte sich an Steffis Bein. »Ich hatte mir deinen Simon ganz anders vorgestellt. Viel steifer irgendwie!«
Ich sah sie verwundert an. »Ich auch! Aber er scheint hier irgendwie der Junge zu werden, in den ich mich verliebt habe. Ich will aber euer privates Gespräch nicht unterbrechen, ihr habt euch bestimmt alle lange nicht gesehen.«
Steffi kramte in der Nachttischschublade und brachte Schokolade zum Vorschein. »Nein, setz dich! Wir freuen uns doch alle, dass wir dich auch mal kennenlernen! Nicki und Lilly erzählen gerade von einem Abenteuer, von dem ich rote Ohren kriege. Mir wird nämlich gerade mal wieder bewusst, dass ich auch ein ehemaliges monogames Ehedrama bin!« Mir einem vergnügten Kichern schob Steffi sich Schokolade in den Mund. »Ich hatte aber wohl nicht so viel Glück wie du! Wenn ich meinen Ex hierher eingeladen hätte, wäre dem armen Kerl der Kopf explodiert!«
Anna hielt bittend die Hand auf und bekam ein Stück Schokolade. Zufrieden nuckelnd stieß sie Lilly mit dem Fuß an. »Jetzt erzähl weiter, ich platze vor Neugier!«
Lilly bekam ganz rosige Wangen, dann wandte sie sich an mich und flüsterte geheimnisvoll: »Nicki hat mich nämlich auf eine Sexparty mitgenommen!«
»Auf eine was?« Ich riss die Augen auf, dann sah ich zerknirscht in die Runde. »Hab ich mich jetzt als sehr spießig geoutet?«
Anna lachte entspannt und lächelte mich an. »Du kannst ruhig schockiert sein, ich bin es auch. Immer wieder! Obwohl ich Nicki jedes Mal alle schmutzigen Details aus der Nase ziehe, wenn sie von einem ihrer Streifzüge durch die Wildnis zurückkehrt!«
Ich nickte erleichtert. »Aha. Du gehst also nicht auf solche Partys?«
Anna räkelte sich zufrieden. »Für mich ist das nichts. Ich bin ziemlich straight demi.«
»Hä?« Ich kratzte mich verwirrt am Kopf. Anna lächelte wieder so weich. »Ich bin demisexuell. Ohne das ganz große Gefühl geht bei mir gar nichts.«
Nicki grinste entspannt und kraulte Anna verspielt die Haare. »Außer bei Juri.«
Steffi kicherte und bestätigte: »Außer bei Juri!«
Anna lachte und schlug mit einem Kissen nach Nicki. »Mah, ihr seid doof! Natürlich hab ich bei Juri das ganz große Gefühl!«
Lilly hob naseweis den Zeigefinger. »Aber nur das eine!«
Steffi flötete unschuldig: »Anna und Juri wollen nur nicht den Sex durch eine Freundschaft gefährden!«
Die Frauen lachten los. Auch Anna. Sie kuschelte sich weiter an Steffi und genoss die Streicheleinheiten von Nicki. Die Stimmung zwischen diesen Frauen war so vertraut und zärtlich, dass ich mich fragte, wieso ich mit Leuten wie Natascha Besuchow Kaffee trank.
Lilly zog die Schultern hoch und kicherte. »Ich glaube, ich bin ein bisschen kinky!«
Ich wimmerte verzweifelt. »Was bedeutet das jetzt wieder?«
Lilly beugte sich zu mir und wisperte: »Irgendwie entdecke ich immer mehr, dass ich auf ein bisschen ausgefallenere Sachen stehe. Ich hab mich sogar schon gefragt, ob ich vielleicht placiosexuell bin!«
Steffi richtete sich auf und rief in den Flur: »Sven? Hallo? Können wir hier mal den Übersetzer für LGBTQ-Slang kriegen?«
Aber Nicki murmelte sanft: »Lass den Großen mal in Ruhe auf seiner Gitarre zupfen. Lilly ist nicht placiosexuell. Wenn du placio bist, guckst du zwar gern zu, aber du machst es nicht gern selber. Dann funktioniert deine Lust darüber, dass du gern zusiehst, wie dein Lieblingsmensch verwöhnt wird.« Sie beugte sich über Lilly und gab ihr ein zärtliches Küsschen auf die Stirn. »Du bist doch viel zu heiß auf das Malerchen, um nur zuzugucken!«
Lilly und Anna lachten los und gaben sich die Fünf. Anna seufzte selig. »Ich versteh nicht, wie man nicht heiß auf John sein kann!«
Ich war so fasziniert von der Stimmung auf diesem Bett, dass ich mir selbst ein Kissen zurechtstopfte, um es mir bequem zu machen. »Und John war mit auf dieser Party?«
Lilly sah mich verdutzt an, dann lachte sie auf. »Was? Nein! Ich würde vor Eifersucht sterben, wenn John sich da ins Gewimmel stürzt!«
Anna brummte: »Da müsste er auch erst mal an mir vorbei!«
Die Frauen lachten wieder, aber nicht wie kreischend gackernde Kegelschwestern, die zu viel gebechert hatten und rasant in die Pubertät zurückfielen. Sie lachten ganz warm und sanft. Anna erklärte: »John hat Lilly echt tapfer ihr Abenteuer erleben lassen.«
Lilly nickte eifrig. »Aber auch nur, weil ihr den Abend mit ihm verkuschelt habt, damit er nicht vor Eifersucht durchdreht.«
Nicki murmelte: »Und weil du ihm versprochen hast, mit niemandem zu schlafen!«
Lilly nickte mit einem Ruck. »Das auch!«
Steffi seufzte nachdenklich. »Und wie läuft so was jetzt ab? Ich kann mir das gar nicht vorstellen!«
Lilly setzte sich auf und bekam wieder ganz glühende Bäckchen. »Also, das ist nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte! Obwohl Nicki mir versprochen hatte, dass das eine private Party und auf keinen Fall irgendwie schmierig ist, hatte ich trotzdem irgendwie so dieses Klischee im Kopf, dass es da so sein würde, wie man sich als Fernsehzuschauer einen Swingerclub vorstellt. So eine Mischung aus Puff und Hallenbad, wisst ihr, was ich meine?«
Nicki lachte hell auf. »Ja, irgendwas mit Fliesen, wo man mit dem Hochdruckreiniger durch kann, wenn die Gäste weg sind!«
Lilly prustete los und kippte gegen Nickis Bein. »Genau! Und wo man gar nicht wissen will, was das für Flecken in den roten Plüschsofas sind!«
»Igitt!« Steffi warf mit einem entsetzten Quieken ihr Schokoladenstück ins Bett. Anna fischte sich die Schokolade aus der Bettwäsche und schob sie sich in den Mund. »Jetzt merke ich, dass ich keine Pizza abbekommen habe!«
Steffi beugte sich seufzend über die Bettkante und zauberte Kekse aus dem Nachttisch. Nicki riss die Packung auf und erklärte: »Das Pärchen, das diese Partys organisiert, ist total niedlich! Die Gäste sind handverlesen und die dekorieren total liebevoll ihr Haus! Das Licht ist gedämpft, die Musik ist total romantisch und gefühlvoll, es gibt kleine Happen und Getränke, in der Luft schweben Vanille und andere sanfte Düfte. Und die Kondome richten sie total süß in so kleinen Kristallschälchen an, wie Pralinen.«
Ich riss wieder die Augen auf. Steffi nahm mir die Frage aus dem Mund. »Wie, und dann schläfst du da einfach mit irgendwelchen fremden Leuten?«
Nicki kraulte verträumt Lillys Haare. Lilly kuschelte sich an ihr Bein wie eine entspannte Katze. Nicki murmelte: »Sex hast du natürlich nur, wenn du möchtest. Wenn du nur zusehen möchtest, legst du dich einfach nicht auf eins der Betten. Da gibt es einen ganz klaren Kodex, an den sich auch jeder hält. Du kannst dich in einen Sessel oder auf ein Sofa kuscheln, ein bisschen herum schlendern, deinen Drink schlürfen, dich leise unterhalten, was immer du magst. So, wie Johns kostbare kleine Blume hier, die hat ja auch nur zugesehen.«
Steffi beugte sich gespannt zu Lilly. »Und wie ist das so? Ich das nicht tierisch peinlich, Leute beim Sex zu beobachten? Ich glaube, ich würde mich fühlen wie ein verzweifelter Spanner mit Fernglas im Baum! Irgendwie anstößig, auf jeden Fall hochgradig peinlich!«
Lilly musste lachen, aber sie beantwortete die Frage völlig ungeniert. »Klar war das am Anfang komisch, aber ich wollte ja unbedingt mal mit! Ich hatte auch echt ein bisschen Angst, dass ich mich als verklemmt kicherndes Huhn outen würde. Oder dass ich mich sogar irgendwie ekeln würde. Fantasien zu haben und eine Sache dann auch wirklich zu machen, sind ja zwei verschiedene Paar Schuhe. Aber ich hab ja niemanden heimlich beobachtet, das war ja einvernehmlich! Und die ganze Stimmung da war so natürlich, das war komplett unmoralisch im besten Sinne, verstehst du, was ich meine? Das war ein völlig wertfreier Raum oder besser noch, es war …«
Lilly rollte sich auf den Rücken, hob die Arme und spielte nachdenklich mit ihren Haaren. »Es war befreiend! Als wäre ich da angekommen, wo ich sein kann, wie ich bin. Alle waren wahnsinnig zärtlich und sinnlich und es war auf eine ganz warme Art angenehm kribbelig. Kennt ihr diese Szenen in Filmen, wo ein schwuler Mann zum ersten Mal von seinem Freund mitgenommen wird zu einer Orgie? Zu einer Orgie, wo es völlig normal ist, das Männer Liebe machen?«
Anna murmelte: »Der Klassiker. Das wird dann immer so romantisiert. Sowohl die Orgie, bei der einfach keiner ein Schild aufgestellt hat, das darüber aufklärt, dass die Hälfte der Männer da verzweifelte, bezahlte Strichjungen sind, als auch der garantiert folgende Skandal.«
Steffi nickte. »Und den Skandal gibt es immer! In dem Moment, wo der Held eines Films auf dieser Party landet, weißt du schon, dass er dafür bezahlen wird!«
Anna setzte sich auf und nickte heftig. »Das ist ein ähnlich verankertes Narrativ wie der neue Serien-Trend, das eine Vergewaltigung nur stärker macht! Da müsst ihr mal drauf achten! Vergewaltigungen werden aktuell als eine Art Läuterung der Seele für zu weibliche Frauen dargestellt! Weiblich im Sinne von lieb und flauschig! Die Heldin wird vergewaltigt und dann verwandelt sie sich in das, was grade als starke weibliche Hauptfigur getaggt wird! Und stark ist eine weibliche Hauptfigur, wenn sie so viel toxische Männlichkeit erlebt hat, dass sie danach einfach selber völlig hemmungslos Leuten mit dem Schwert die Köpfe abschlägt!«
Ich sah Anna fasziniert an. »Stimmt, da hab ich auch schon drüber gegrübelt! So wie Sansa Stark in Game of Thrones!«
Anna nickte so wild, dass ihr die Locken ins Gesicht fielen. »Genau! Ist das nicht gruselig? Da hatte man im Nachhinein auch so das Gefühl, och, joah, irgendwie hat ihr die Vergewaltigung doch auch ganz gutgetan, jedenfalls kämpft sie jetzt gefühlskälter und grausamer als jeder Mann! Aber, hallo? Was propagiert das denn für Werte? Dieser angebliche Fortschritt ist immer noch komplett patriarchal gedacht! Ein Fortschritt wäre es, wenn die Männer mal reden lernen würden! Wenn die mal lösungsorientiert denken würden, anstatt immer nur alles zu zerstören.«
Nicki lachte sanft und zog Anna zu sich in die Kissen. »Ick liebe dir, du feministische Brumsel, aber solange wir in einem kapitalistischen System leben, wird sich daran auch nichts ändern. Das weltweite Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgerichtet. Und wenn der Wachstum stagniert, brauchen wir eben unseren Krieg, damit wir danach wieder in Aufbaustimmung kommen. Der Mensch ist eben eine destruktive Bestie, die es nicht besser weiß.«
Anna verschränkte die Arme und grummelte: »Ich hab die Chemie gekillt. Ich wollte euch mit meinem Exkurs nicht die Stimmung verderben.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das hast du nicht! Ich finde es wahnsinnig spannend, mal über den eigenen Tellerrand hinauszudenken.«
Steffi legte nachdenklich den Kopf in den Nacken. »Ja, aber ist es ein Ausweg aus dem patriarchalen Dilemma, wenn wir Frauen anfangen, selbstbestimmt unsere Lust auszuleben?«
Anna grinste. »Für mich schon!«
Nicki schnaubte ein kurzes Lachen. »Aber hallo! Natürlich ändert das was! Unsere Lust hat ein paar tausend Jahre nach den Regeln der Männer ein Schattendasein geführt! Wenn junge Frauen wie unsere kleine Blume hier entdecken, dass ihre Lust ihnen selbst gehört und dass sie sie in tausend Facetten ausleben können, dann ändert das ganz gewaltig was!«
Ich hauchte aufgeregt: »Was verändert das denn?«
Nicki setzte sich auf. »Denk nach, Lena! Es verändert einfach alles! Das sind wahnsinnig komplexe Zusammenhänge. Die weibliche Sexualität war jetzt für eine Ewigkeit kanalisiert und verstümmelt. Während Männer immer ihre Geliebten hatten, während die Mätresse des Königs auch für alle anderen Männer eine wichtige gesellschaftliche Funktion hatte, nämlich als gesellschaftlich anerkanntes Ventil, damit sie mal Dampf ablassen können, gab es für uns Frauen nur zwei Möglichkeiten: Heilige oder Hure. Die Huren hatte keine Rechte, bekamen keinen Schutz oder Respekt. Für die Heiligen dagegen hatte Sex allein der Fortpflanzung zu dienen, und zwar im patriarchalen Sinne. Nicht der Name der Mutter wird an legitime Kinder weitergegeben! Eine Frau weiß immer, dass ihr Kind von ihr ist, immer, denn sie hat es geboren! Ein Mann hat diese Sicherheit nicht! Also haben sie versucht uns einzusperren. Die Ehefrauen für die Fortpflanzung, die Huren für den Spaß, sie haben uns getrennt, teile und herrsche. Da hast du als Frau die Wahl zwischen Pest und Cholera und beide Lager sind verfeindet!«
Ich spitzte die Lippen und sah diese Nicki völlig fasziniert an. Anscheinend war Anna nicht die einzige Frau in diesem kleinen Kosmos, die mit ihrer logischen Beweisführung mal eben alles umstoßen konnte, was ich mein Leben lang als selbstverständlich hingenommen hatte. Ich zog die Stirn kraus. »Ich beginne zu ahnen, was du meinst. Als mein Mann mich betrogen hat, da hatte ich tatsächlich zuerst dieses Bild im Kopf: Ich bin die Ehefrau, die Frau, die Respekt verdient!«
Steffi seufzte leise. »Logischer Umkehrschluss: Die andere verdient ihn nicht. So hab ich früher auch gedacht. Die Frauen, mit denen mein Mann was laufen hatte, waren in meinen Augen schuldig. Als hätte er keinen eigenen Willen.«
Anna nickte. »Ja, die armen Männer. Und ewig lockt das Weib, das gemeine Luder!«
Ich stöhnte. »Ich will so nicht über andere Frauen denken! Ich will uns nicht in Heilige und Huren aufteilen!«
»Dazu wirst du aber ganz subtil getrieben!« Nicki rutschte ein wenig näher und sah mich mit leuchtenden Augen an. »Aus kirchlicher Sicht dient die Ehe allein der Fortpflanzung! Deswegen sperren diese Herren im Vatikan, die übrigens in einer gleichgeschlechtlichen Gemeinschaft leben und Kleider tragen, sich doch so gegen die Homo-Ehe! Sie klammern sich an das Argument der Fortpflanzung! Und auf diesem Argument basiert unsere ganze Vorstellung von Romantik! Du erhältst als Frau erst einen Wert, wenn ein Mann dich als würdig erachtet, seine Kinder zur Welt zu bringen. Aber was passiert, wenn wir Frauen dieses Gedankenkonstrukt einfach durchbrechen? Wenn wir anfangen, Lust und Liebe so zu gestalten, wie wir das möchten? Wenn wir moralische Schranken einfach nicht mehr akzeptieren und vor allem endlich aufhören, uns gegenseitig fertig zu machen? Das verändert alles! Gesellschaft, Politik, Kultur, alles!«
Ich kratzte mich verwirrt an der Stirn. »Aber das alles ändert sich doch nicht, weil Lilly entdeckt, dass sie gern Menschen beim Sex beobachtet!«
Lilly setzte sich auf wie ein kleiner Springteufel. »Doch! In mir ändert das was und ich gehör auch zu dieser Gesellschaft!«
Ich musste lachen. »Ja, okay, aber was ändert es genau? Ist das irgendwie subversiv oder revolutionär oder was passiert da?«
Lilly hauchte: »Neben mir auf dem Sofa saßen zwei Frauen, ein Pärchen. Die waren wahnsinnig verliebt. Und die haben auch einfach nur zugesehen und sich aneinander gekuschelt und es fühlte sich an wie die natürlichste Sache der Welt. Ich war richtig high! Als würde ich schweben! Alles war so surreal und sinnlich und lustvoll! Ich war so voller Sehnsucht! Und ich wusste genau, dass die beiden irgendwann nach Hause gehen und sich lieben würden und ich war unglaublich geflasht davon, wie frei und offen diese Frauen waren! Und dann fiel mir für einen winzigen Moment ein, dass ich vor einem Jahr selber noch mit meinem damaligen Freund in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung vor mich hin vegetiert hab und mir gar nicht vorstellen konnte, dass mein Leben auch völlig anders sein könnte. Er hat im Wohnzimmer gezockt und ich hatte Schuldgefühle, wenn ich mich mit einem erotischen Roman ins Bett verkrochen habe. Ich hatte das Gefühl, ihn zu betrügen, wenn ich sinnliche Fantasien hatte, so klein und eng war die Welt in meinem Kopf. Ich hatte Schuldgefühle! Als wäre er der Meister meiner Lust oder so was Bescheuertes. Als wäre es verboten, meine eigene Lust zu haben, die nicht durch ihn aktiviert wird!«
Anna seufzte. »Hochgradig gefährlich, eine Frau mit eigener Lust. Die hauen meistens ab.«
Lilly grinste. »Und dann hab ich da diese beiden Frauen erlebt, die so vollkommen entspannt und liebevoll miteinander geteilt haben, dass es ihnen gefällt, anderen beim Sex zuzusehen. Die waren sich so unglaublich nah, das war so echt und warm, dass sie gegenseitigen Respekt hatten für die Lust und die Neigung der anderen! Das war einfach wow.«
Ich fiel stöhnend hintenüber. »Oh, Gott! Vor ein paar Jahren hab ich Simon eine riesige Szene gemacht, weil ich im Browserverlauf was gesucht hatte!«
Steffi stellte fest: »Ah, die Porno-Falle!«
Ich hob den Kopf. »Ist dir das auch passiert?«
Steffi säuselte leise: »Er hat dir beteuert, dass er nur neugierig war und es nie wieder macht!«
Ich musste lachen. »Offenbar bin ich nicht die erste Frau, die diese Geschichte gehört hat.«
Anna beugte sich gespannt vor. »Was ist denn so schlimm daran, wenn ein Mann Pornos guckt?«
Steffi und ich rollten nur mit den Augen und fingen an zu lachen. Anna zuckte die Schultern. »Ich hab nie verstanden, wieso Selbstbefriedigung Betrug sein soll. Wenn ich mich nicht selbst erforscht hätte, hätte ich Svenne doch gar nicht zeigen können, was ich haben will.«
Steffi kicherte. »Du hast es nur für ihn gemacht!«
»Genau!« Anna grinste stolz.
Nicki seufzte gefühlvoll. »Und ich kenne wirklich keinen Mann, der so gut ausgebildet wurde wie Sven. Er weiß einfach, was ein Frauenkörper braucht, fast, als hätte er selbst einen.«
Anna verschränkte mit einem Nicken die Arme. »Eiserne Disziplin und Drill! Frau muss einem Mann die Dinge eben so zeigen, dass er sie auch versteht!«
Wir lachten und Nicki streckte die Hand aus, um Anna anerkennend zu tätscheln. »Du hast uns allen einen großen Dienst erwiesen! Wenn ich gerade einen dabei hätte, würde ich dir einen Orden verleihen!«
Ich rollte mich herum und sah Nicki fasziniert an. »Sag mal, bei diesen Partys, hast du da selber schon mal so richtig mitgemacht? Oder guckst du auch lieber nur zu?«
Nicki strahlte mich an. »Klar mach ich mit! Ich liebe das!«
Ich krächzte verwirrt: »Wieso?«
Nicki zuckte entspannt die Schultern. »Ich mag einfach wahnsinnig gern unkomplizierten Sex ohne diesen ganzen emotionalen Aufwand. Selbst zwischen mir und Sven sind die Dinge manchmal irgendwie kompliziert. Wenn ich mit jemandem schlafe, für den ich Gefühle habe, bin ich emotional bei ihm. Wenn ich mit jemandem schlafe, den ich nicht kenne, dann bin ich ganz bei mir. Dann ist das nur meine Lust, meine Gefühle. Wenn ich aber einen fremden Kerl mit zu mir nach Hause nehme oder sogar mit zu ihm gehe, dann fühl ich mich nicht immer unbedingt sicher.«
Anna knurrte warnend. »Das kann Svenne auch nicht ausstehen! Dann macht er sich echt Sorgen um dich!«
Nicki lachte sanft. »Ja, das tut er. Aber wenn ich auf eine Party gehe, dann bin ich ja geschützt.« Sie zog die Schultern hoch und grinste frech. »Außerdem liebe ich es, wenn ich einfach in Lust baden kann, Haut, Atem, Lust, Zärtlichkeit, Begehren, ich könnt mich jetzt für bekloppt halten, aber ich kann mich ganz anders fallenlassen, wenn ich in einem lustvollen Rudel liege und gar nicht so genau weiß, wer mich gerade streichelt. Also, wenn hier jemand kinky ist, dann bin ich das wohl.«
Ich nickte verstehend. »Ah, und du bist aber trotzdem auch so richtig mit Sven zusammen?«
Anna und Nicki tauschten ein vertrautes Lächeln aus. Wie aus einem Munde sagten beide: »Immer mal wieder!«
Nicki senkte mit einem verträumten Lächeln den Kopf. »Na ja, es sieht wohl so aus, als wäre ich tatsächlich an diesem Wikinger hängengeblieben. Aber irgendwie ist es auch das große Ganze, weißt du, was ich meine? Sven und Anna und das ganze Drumherum. Der Liebes-Clan ist einfach meine Familie.«
Lilly schmiegte sich an Nicki und hauchte: »Meine auch.«
Ich holte tief Luft. »Ah, und, darf ich noch was fragen?«
Alle sahen sich an, dann schüttelten sie die Köpfe und grinsten. Ich musste lachen. »Ja, gut, die Frage kommt nach den ganzen intimen Themen ein bisschen zu spät. Aber, also, wenn ich das richtig verstehe, teilt ihr euch ja irgendwie Sven und John und …«
Ich lief knallrot an. Ich kam mir doch jetzt extrem indiskret vor, vertraute Stimmung unter Frauen hin oder her. Lilly beugte sich zu Nicki und flüsterte: »Ich glaub, sie will wissen, ob wir nicht nur die Männer teilen, sondern auch das Bett!«
Nicki streifte mich mit einem wissenden Blick und grinste mich schamlos an. »Ist spannend, oder?«
Ich schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, Gott, ist das peinlich! Ich hätte nicht fragen sollen!«
Ich hörte Annas Stimme, sanft und geduldig. »Lilly und ich teilen John, Nicki und ich teilen Sven. Wir haben die Knuddelmuddel-Höhle zum Kuscheln und oben haben Sven, John und ich unsere Schlafzimmer. Wen wir dahin mitnehmen und was da passiert, geht aber nur uns was an.«
Ich zog die Hände von den Augen und sah Anna fragend an. »War das für euch immer so selbstverständlich? Dieser offene Umgang damit?«
Anna lachte auf. »Bist du irre? Sven und ich haben Jahre gebraucht, bis wir halbwegs damit klargekommen sind, dass ich mich immer wieder unsterblich in andere Männer verliebe und dass er einfach wahnsinnig neugierig darauf ist, wie andere Frauen sich anfühlen. Und dann hatten wir noch ein paar Jahre alles schön säuberlich getrennt. Er hatte seine Freundinnen und ich hatte Maik, meinen Mann fürs Leben. Der ist dann aber nach ein paar Jahren gegangen.«
Nicki grunzte. »Mono-Maik hat Anna verlassen, weil er sich in eine andere Frau verliebt hat, der Spinner.«
Anna würgte nervös einen Kissenzipfel, dann grinste sie mich wieder an. »Als John dann aufgetaucht ist, hat er einfach alles irgendwie über den Haufen geworfen. Mit John haben wir irgendwie Grenzen verloren, die uns jahrelang total natürlich und wichtig vorgekommen sind.«
Nicki gluckste verträumt. »Das Malerchen ist aber auch eine unglaublich sinnliche kleine Sau!«
Ich verschluckte ein Lachen und dachte an den stillen, geheimnisvollen John. Offenbar schlummerte so einiges in diesem Mann.
Steffi seufzte hingerissen. »Oh, Mann, als ihr drei euch verliebt habt, das war spannender als jede Serie! Ganz großes Gefühlskino!"
Nicki strich mir sachte über den Arm. Vielleicht war das ihre Art, Kontakt aufzunehmen, durch sanfte Berührungen. Jedenfalls fühlte ich mich in diesem Moment unglaublich akzeptiert und zugehörig. »Wie ist denn das mit dir und deinem Mann? Anna hat erzählt, dass ihr euch auch aus der Schule kennt. Hattest du wirklich noch nie Sex mit einem anderen?«
Ich schüttelte ganz langsam den Kopf. »Noch nie.«
Ich erwartete Lacher oder ungläubiges Staunen, aber Nicki hauchte: »Das muss wirklich wahnsinnig schön sein, so eine Intimität. Das ist die totale Transparenz, oder? Wenn du weißt, dass dein Lieblingsmensch sein gesamtes Sexleben mit dir geteilt hat?«
Ich musste schlucken. »Ja, das war es.«
»Oh, Gott, und das hat er dir weggenommen!« Nicki sah mich entsetzt an, dann wedelte sie wild mit der Hand. »Tut mir leid, tut mir total leid! Ich wollte nicht taktlos sein!«
Ich atmete tief durch. In Nickis Augen las ich echtes Gefühl. Alle Frauen waren auf ihre sanfte Art ganz still geworden.
Lilly streichelte meine Schulter. »Ich weiß, dass niemand ersetzen kann, was du verloren hast. Aber wir waren alle schon mal an solchen Punkten, wo du was begraben musst, was dir immer wahnsinnig viel bedeutet hat. Und ich weiß nicht, ob dir das jetzt hilft, aber«, Lilly sah sich in dem chaotischen Bett voller Frauen und Kuschelkissen um, »wir haben jetzt das hier!«
Ich bekam feuchte Augen und grinste schief. »Wo kriegt man so was? Ich will das auch haben!«
Nicki lachte. »Was willst du haben, Freundinnen oder einen Liebes-Clan?«
Ich neigte nachdenklich den Kopf. »Ich hätte auch einfach wahnsinnig gern Menschen um mich, bei denen ich sein kann, wie ich bin. Bei denen ich keine Rolle spielen muss.«
Steffi reichte mir einen Keks. »Weißt du, was ich in diesem Haus gelernt habe?«
Ich schüttelte fragend den Kopf. Steffi grinste stolz. »Erst, wenn du aufhörst, eine Rolle zu spielen, können andere Menschen dich erkennen wie du bist. Und manche davon können dich dann wirklich lieben.«
»Oh!« Anna legte gerührt den Kopf an Steffis Schulter. »Das hast du schön gesagt.«
Mein Handy vibrierte. Ich zog es fast genervt aus der Tasche und las die Nachricht. »Wo steckst du? Du verpasst ein unglaublich spannendes Gespräch!«
Ich dachte: »Du auch!«, aber dann sah ich auf. »Wisst ihr, wo die Männer stecken könnten?«
Alle Frauen nickten. Anna stellte fest: »In der Küche! Die Männer hocken immer in der Küche.«
Steffi lachte träge. »In ihrem natürlichen Lebensraum.«
Nicki ergänzte schläfrig: »Da können sie in Ruhe über Männersachen reden.«
Lilly kicherte leise: »Über ihre Frisuren und Gefühle und so.«
Ich fragte mich, was Simon wohl gerade spannender fand, Frisuren oder Gefühle. Ich lachte, aber dann rappelte ich mich auf. »Ich seh mal nach meinem Mann.«
Anna hob den Kopf. »Warte! Wollt ihr heute Nacht das Zimmer hier haben oder wollt ihr ins Bettenlager? Ist vielleicht ganz schön, wenn ihr unter euch sein könnt, oder?«
Ich lächelte gerührt. »Wessen Zimmer ist das denn? Vertreiben wir hier jemanden?«
»Nö.« Anna schüttelte den Kopf. »Das war mal mein Zimmer, als ich hierher gezogen bin und John kennengelernt habe. Und manchmal verkrieche ich mich hier noch, wenn meine Männer mich nerven. Aber meistens nutzen wir es als Gästezimmer. Wir haben es jetzt einfach mal nicht belegt, weil wir nicht wussten, ob ihr es vielleicht haben wollt. Ihr habt hier auch ein eigenes Bad und eine kleine Küche. Falls ihr morgen in Ruhe frühstücken wollt.«
Ich strahlte. »Oh, das wäre wundervoll!«
Plötzlich kam mir der Gedanke, mit Simon allein zu sein, sehr verlockend vor. Ich fragte mich, wieso ich eigentlich noch nie mit meinem Mann so selbstverständlich, offen und »unmoralisch« über Lust und Liebe geredet hatte wie diese kleine Rudel wilder Frauen.