Zum hundertsten Mal zupfte Simon nervös an seinem Hemd herum. Ich lachte sanft. »Guck auf die Straße, Hase!«
Simon drosselte seufzend das Tempo. »Diese ostfriesischen Landstraßen machen mich wahnsinnig! Ich hab die ganze Zeit Angst, den Auspuff abzureißen!«
Ich kam aus dem Seufzen und Kichern gar nicht mehr heraus. Dieser Roadtrip gefiel mir ausgesprochen gut. Simon brummelte. »Ich fühl mich so nackt ohne meinen Dresscode!«
Ich reichte ihm ein Himbeerbrausebonbon. Das hatten wir ewig nicht getan. Gift für die Zähne. »Glaub mir, Hase, wenn du die anderen siehst, wirst du froh sein, dass du auf mich gehört und ein ganz normales, kariertes Hemd angezogen hast. Das wird nicht so werden wie die Partys, an die wir gewöhnt sind.«
Simon knabberte hektisch auf seinem Bonbon herum. »Wo waren wir stehengeblieben? Ich glaube, du wolltest mir erklären, wieso du das Gefühl hattest, mich zu hintergehen. Oder dich selbst.«
Ich sah nachdenklich auf die schnurgerade Landstraße. »Hmhm, da muss ich eben überlegen, das war so ein diffuses Gefühl! Kennst du das, wenn du mehrere Gefühle gleichzeitig hast und die sich irgendwie widersprechen?«
»Oh, ja!«
Ich lächelte gerührt über Simons abgrundtiefen Seufzer. Natürlich kannte er das. »Weißt du, als wir da in diesem Café rumstanden und Annegret voll loslegte, da hatte ich das Gefühl, das ist einer dieser Momente, in denen es kippen kann. Ich war kurz davor, auf ihre Lästertiraden über Männer einzusteigen. Sie hatte so eine Art, sich punktgenau und irgendwie böse lustig zu machen, über ihre Dates, über Beziehungsalternativen und all das. Und ich wusste in dem Moment nur, dass ich mich irgendwie unwohl fühle, aber ich wusste nicht, warum. Und dann hab ich das sacken lassen und das alles sortiert und sie hat mit Sicherheit ein paar sehr kluge Dinge gesagt. Aber dann dachte ich an das Gefühl, das ich bei Sven, Anna und John hatte. Die drei sind auch sehr reflektiert und überdenken alles und so, aber sie machen das mit Gefühl. Sie haben mich immer wieder daran erinnert, dass niemand mit Absicht verletzend ist. Sie waren irgendwie unglaublich warmherzig, auch zu mir. Ich hatte nicht für eine Sekunde das Gefühl, dass sie über mich urteilen. Oder über dich. Sie wollten mir einfach nur helfen, die Dinge zu verstehen, damit ich einen sicheren Stand habe.«
»Einen sicheren Stand?« Simon streifte mich mit einem fragenden Blick.
Ich nickte eifrig. »John meinte, dass wir uns unnötig verletzen würden, wenn ich im Gespräch mit dir keinen sicheren Stand habe, wenn ich selbst noch verwirrt bin und nicht weiß, was ich will. Deswegen hat er versucht, mir deine Sicht der Dinge zu erklären, damit ich ein bisschen runterkomme und wieder ein Gefühl zu dir aufbauen kann.«
Eine Weile fuhren wir einfach nur durchs ostfriesische Nichts. Ich konnte aber richtig fühlen, wie es in Simon ratterte. Irgendwann sagte er: »Tut mir leid, dass ich dich für gleichgültig gehalten habe. Ich hatte keine Ahnung, dass du dir so viele Gedanken darüber gemacht hattest, wie wir uns zivilisiert verhalten können.«
Ich sah aus dem Fenster und murmelte: »Du wolltest eben deine Strafe kassieren, damit die Sache ausgestanden ist.«
»Ja, vielleicht.« Simon klang ungewohnt melancholisch. »Und dieser John ist also schwul?«
Ich grinste. »Nicht jeder Mann, der über Gefühle reden kann, ist schwul, mein Hase.«
Simon musste lachen. »Ja, okay. Ich denke mal wieder in Klischees.«
»Passiert mir auch ständig.« Ich schob mir vergnügt ein Bonbon in den Mund, dann fiel mir ein: »Ich will übrigens auf keinen Fall irgendwie respektlos über Annegret reden. Wenn du das Gefühl hast, dass ich mich im Ton vergreife, dann sag mir das bitte sofort.«
Simon lauschte auf das Navi und bog in die nächste schnurgerade Landstraße ein. Leise sagte er: »Ich bin erleichtert, dass wir inzwischen ihren Namen nennen können, ohne uns zu streiten.«
Ich nickte wieder eifrig. »Ich auch! Es tut mir so gut, mit dir darüber zu reden! Ich muss da so vieles sortieren und verarbeiten!«
»Und was?« Simons Augen ruhten wieder auf der Straße, das hier war immer noch nicht leicht für ihn.
Ich lachte verwirrt. »Diese Frau hat mich durch ein unglaubliches Gefühlschaos gejagt! Erst hab ich sie gehasst und konnte nur garstige Dinge denken über die blöde Schlampe, die mir meinen Mann wegnehmen will! Dann hatte ich Mitleid mit ihr und hab mich irgendwie solidarisch mit ihr gefühlt, weil wir ja irgendwie beide in derselben Situation steckten. Und dann hab ich gehört, wie Anna mit Lilly telefoniert hat.«
Simon fragte kurz nach. »Lilly?«
»Lilly ist auch mit John zusammen. Irgendwie arbeitet Anna wohl auch mit ihr. Sie haben jedenfalls über Sachen geredet, die nach Arbeit klangen. Aber sie haben gelacht und diskutiert und das alles, völlig entspannt. Wie Freundinnen. Ich dachte wirklich, sie telefoniert mit einer Freundin. Aber dann kam John rein und Anna hat ihn gefragt, ob er mit seiner kleinen Blume sprechen will. So völlig selbstverständlich! Und da hab ich mich gefragt, wie das wohl wäre. Wenn ich auch mit Annegret umgehen könnte, als wäre sie einfach nur eine Freundin.«
Simon atmete tief durch, dann nickte er verstehend. »Du hast gedacht, wenn du sie hereinbittest und dich ein bisschen mit ihr anfreundest, dann könntest du so sein, wie Anna.«
Ich musste über mich selbst lachen. »Ja, vielleicht.«
Um Simons Mundwinkel spielte ein Lächeln. »Was findest du so spannend an ihr?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht genau. Du wirst sie ja gleich kennenlernen. Ich mag sie einfach sehr. Vielleicht bin ich auch fasziniert, dass sie sich scheinbar ihren ganz eigenen Planeten geschaffen hat, zusammen mit ihren Männern. Nach ihren eigenen Regeln.«
Simon hielt bittend die Hand auf. »Haben diese Leute Regeln? Für mich klingt das alles total verworren, ich hab immer noch nicht kapiert, wer da wer ist.«
Ich gab ihm das nächste Brausebonbon und zählte auf: »Anna ist in diesem bunten kleinen Haus die Frau in der Mitte. Sie liebt Sven und sie liebt John.«
»Und die Männer machen das mit.«
Ich nickte wild. »Ja, tun sie! Die Männer sind ja frei und sie dürfen auch andere Frauen treffen. Und ich glaube, die Männer lieben sich auch. Anna hat gesagt, dass sie in einer Triade leben und ich habe gesehen, wie Sven und John sich umarmt und geküsst haben, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Ich glaube, sie teilen sich sogar zu dritt ein Schlafzimmer.«
Simon verschluckte sich an seinem Bonbon und holte pfeifend tief Luft. Ich kicherte und klopfte ihm aufs Bein, weil ich an seinen Rücken nicht herankam. »Hab ich dich schockiert?«
Simon röchelte dramatisch und holte noch einmal tief Luft. »Und wie machen die das mit …«
Er ließ das Lenkrad los und ruderte verwirrt mit der Hand. Ich musste lachen. »Ich hab keine Ahnung, Hase!«
Simon sah mich verdattert an. »Machen die das alle so? Diese Polys?«
Ich schüttelte rigoros den Kopf und fühlte mich wie eine Expertin von Weltrang. »Ich glaube, da gibt es viele verschiedene Konstellationen. Ich hab nämlich angefangen, das alles mal zu googeln. Witzigerweise war es Annegret, die mich auf die Idee gebracht hat, mir einfach mal den theoretischen Unterbau anzulesen.«
Simon stöhnte leise. »Ja, Theorie kann sie gut.«
Ich merkte, dass ich tatsächlich völlig unbeschwert über seine leise Kritik an seiner Ex-Geliebten lachte, ohne mich schäbig zu fühlen. Ich musste Annegret gar nicht hassen, aber mögen musste ich sie auch nicht. Ich seufzte unbekümmert. »Weißt du, wenn man die Wörter, die man gern googeln würde, gar nicht kennt, ist das gar nicht so einfach, sich mit einem Thema zu befassen! Aber jetzt hab ich ja rausgefunden, nach was ich suchen muss. Also, Polyamorie hat klare Regeln. Beziehungen mit mehreren Beteiligten sind polyamor, wenn alle sich freiwillig dafür entschieden haben. Das setzt natürlich voraus, dass alle wissen, woran sie sind und dass niemand betrogen wird. Und polyamore Beziehungen sollen langfristige Liebesbeziehungen sein, das ist das Ziel. Wie lange die dann tatsächlich halten, können Polys bestimmt genauso wenig sagen wie andere Leute. Aber der Unterschied zu uns Monos besteht darin, dass sie eben nicht davon ausgehen, dass du dich entscheiden musst und dass du erst eine richtige Beziehung hast, wenn du eine Wahl getroffen hast. Sie finden eben, dass man mehrere Beziehungen gleichzeitig führen kann, auf Dauer.«
»Puh! Ich bin froh, dass du von uns Monos redest! Wenn du von Monos sprichst, gehe ich ja mal davon aus, dass du monogame Paare meinst.«
Ich lachte hell auf. »Natürlich sind wir Monos! Dachtest du, dass ich jetzt auch mehrere Männer haben will?«
Auf der Suche nach einem Straßenschild beugte Simon sich vor und blinzelte in die Dunkelheit. Ich konnte hören, wie er versuchte, möglichst wertfrei zu klingen. »Es hört sich manchmal ein bisschen so an.«
Ich kicherte vergnügt. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin nur fasziniert davon, was für verschiedene Arten es gibt, Beziehungen zu führen. Ich dachte immer, es gibt nur unsere. Aber ich finde, so ein bisschen Beziehungsanarchie würde vielen Paaren nicht schaden.«
»Beziehungsanarchie? Ist das was anderes als Polyamorie?«
Ich nickte stolz. »Bei der Beziehungsanarchie gibt es keine Regeln, die für alle gelten. Da baut jedes Paar sich seine eigenen Regeln, nach seinen eigenen Bedürfnissen, ganz individuell. Da gibt es Regelungen wie: Ich erzähl dir Sachen nur, wenn du danach fragst. Oder: Wir stellen uns einfach keine Fragen, dann müssen wir auch nichts erzählen. Oder: Ich will, dass du mir alles erzählst, bevor ich fragen muss! Und da kann man dann auch verschiedene Regelungen mit verschiedenen Partnern absprechen.«
Simon stöhnte. »Klingt, als sollte man sich als Beziehungsanarchist besser ein Notizbuch anschaffen!«
Ich kicherte. »Aber verbiesterten Paaren wie den Bolkonskijs würde ein bisschen Anarchie gar nicht schaden!«
Simon trat auf die Bremse und sah mich entsetzt an. »Wir haben die Besuchows vergessen!«
Ich blinzelte verwirrt. Seit wann nannte er die beiden eigentlich »die Besuchows«, während ich von »den Bolkonskijs« redete? Irgendwas hatte sich bei uns gewaltig verdreht. Plötzlich riss ich die Augen auf. »Du meinst, die stehen gerade bei uns vor der Tür?«
Simon nickte nur stumm. Ich prustete los. »Und was jetzt? Willst du wieder umkehren?«
Mein konventioneller Mann grinste breit. »Die kriegen bestimmt noch eine Flasche Sekt an der Tankstelle!«
Ich kreischte vor Lachen. Bei der Vorstellung, wie Natascha mit einem Mitbringsel im Arm noch einmal auf die Klingel drückte und ihrem Idioten befahl, noch mal seine Krawatte zurechtzurücken, quiekte ich los wie ein aufgeregtes Meerschweinchen.
Simon lachte still in sich hinein. Ich glaube, er amüsierte sich mehr über mich, als über die Besuchows. Bolkonskijs. Aber dann wurde er ganz sanft und leise. »Wir sind da, Liebes.«
Er deutete auf einen hell erleuchteten, großen Gulfhof am Ende einer kahlen Allee. Ich machte im Sitz einen aufgeregten Hüpfer. »Fahr mal näher ran, los!«
Simon seufzte ergeben, dann ließ er den Wagen langsam durch die von Schlaglöchern übersäte Allee rollen. Angespannt murmelte er: »Ich würde mich wirklich wohler fühlen, wenn wir uns für eine Silvester-Party ein bisschen rausgeputzt hätten!«
Wir fuhren langsam auf den großen Vorplatz mit altem Kopfsteinpflaster. Ich starrte durch die Scheibe und blinzelte, dann klappte mir der Mund auf. Ich griff nach Simons Arm und hauchte: »Oh, mein Gott!«