Simon raufte sich die Haare. »Okay, John, dann erklär mir, wie du auf all diese Sachen gekommen bist! Wieso lebst du so vollkommen anders als ich zum Beispiel?«
John rückte näher an den Tisch. Er kratzte sich nachdenklich die Stirn, dann lachte er verzweifelt. »Es ging einfach irgendwann nicht mehr anders. Solange alles warm und kuschelig ist, hast du ja gar keine Veranlassung, Dinge zu hinterfragen und zu ändern. Es wäre reine Energieverschwendung, etwas über den Haufen zu werfen, was funktioniert. Und du hast mit Lena vielleicht einfach Glück gehabt. Vielleicht musstest du das System einfach nicht hinterfragen, weil du dich darin wohlgefühlt hast.«
Simon senkte den Kopf und spielte nachdenklich mit meiner Hand. »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
John rubbelte sich übers Gesicht. »Ich muss zugeben, ich hab mich auch lange nicht mit solchen Dingen beschäftigt. Und lange Zeit war es mir auch völlig egal, in welche Schublade Menschen mich stecken und was irgendeine Norm von mir erwartet. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass ich Menschen verletze.«
Ich blieb mit der Gabel in der Luft hängen. »Inwiefern?«
John lehnte sich mit einem tiefen Atemzug zurück und verschränkte wieder die Arme. »Ich hab ständig Menschen enttäuscht. Ich hab ihr Vertrauen missbraucht. Das hat sich unglaublich mies angefühlt, aber ich stand ständig vor der Frage, ob ich den anderen treu bin oder mir. Und nach einem kurzen und heftigen Kampf hab ich dann meistens gewonnen. Aber diese Interessenkonflikte haben mich wahnsinnig gemacht. Irgendwann hab ich einfach resigniert. Und das hat mich verdammt einsam gemacht. Ich hab lange mit dem Gefühl gelebt, dass ich auf dem falschen Planeten lebe und einfach keine Verbindung zu den anderen kriege. Aber ich konnte mich an das, was andere Menschen völlig selbstverständlich als Beziehung betrachten, nie lange anpassen.«
Simon wechselte einen kurzen Blick mit mir. »Anpassen? Was meinst du damit?«
John lächelte traurig. »Grillen mit den Nachbarn. Familiengeburtstage. Zwei Wochen Urlaub. Ich drehe schon nach zwei Minuten Urlaub durch, weil ich nichts machen kann, was sich für mich sinnvoll anfühlt. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich mich zu Dingen zwingen muss, die ich hasse, weil man das eben so macht. Wer immer man ist, aber ich bin es jedenfalls nicht. Aber das alles war mir auch lange ziemlich egal. Ich hab nicht wirklich über mich nachgedacht, ich war ja damit beschäftigt, mich am Kunstmarkt hochzuboxen und eine große Nummer zu werden. Nicht aus Ego-Gründen, sondern, weil ich nichts anderes kann. Ich bin zu verpeilt, um was anderes zu machen. Ich wollte mir den Luxus erkämpfen, dass ich es mir leisten kann, den ganzen Tag allein in meinem Atelier Farben auf Leinwände zu schmieren. Das war alles, worauf ich fokussiert war. Für Menschen hab ich mich nicht besonders interessiert.«
Simon nickte ernst. »Das war bei mir ähnlich. Einmal das Ziel gesteckt und dann drauflos! Da war für nichts anderes mehr Platz.«
Ich streifte ihn mit einem nachdenklichen Blick aus dem Augenwinkel. Dass er das so empfunden hatte, war mir nie bewusst gewesen.
John wischte sich nachdenklich übers Gesicht. »Hmhm, genau so. Einfach drauflos! Alles andere hab ich einfach irgendwie mit mir passieren lassen. Mein Beziehungsleben war eine absolute Katastrophe. Sexuell fand ich Frauen und Männer spannend, aber emotional hat es mich immer zu Frauen hingezogen. Aber wenn man weiß, in welche Clubs man gehen muss, ist es mit Männern unkomplizierter, an unverbindlichen Sex zu kommen. Mit Frauen war einfach immer alles wahnsinnig kompliziert.«
Simon beugte sich über den Tisch, bis er fast auf seinem Teller lag. »Äh, ich frage für einen Freund, aber wie kommt man denn an unverbindlichen Sex mit Männern?«
John senkte den Kopf, dann warf er Simon unter seinen langen Wimpern einen so schüchternen Blick zu, dass Lady Diana dagegen gewirkt hätte wie ein grunzender Quarterback. Für einen winzigen Augenblick bekam John einen unfassbar verlockenden Schmollmund, dann wurde er rot und wandte den Kopf ab.
Lasse lachte dröhnend los. »Alter, wenn ich auch nur ein Prozent schwul wäre, ich würde dir sofort so was von einen Drink ausgeben, aber so was von!«
Lotta stöhnte: »Mein armer Bruder! Wie hält Svenne das mit dem Kerl aus?«
John grinste kurz den Fußboden an, dann hob er den Kopf. »Okay, wo waren wir stehengeblieben?«
Simon hauchte fasziniert: »Ah, du bist also der Schüchterne, der sich ansprechen lässt!«
John nickte kurz. »Auch bei Frauen. Ich bin passiver Aufreißer.«
Simon lachte verzückt und sah mich fragend an. »Wusstest du, dass es das gibt? Passive Aufreißer?«
Ich zupfte mir verwirrt am Ohrläppchen. »Ich glaube, es gibt so einige Dinge, von denen wir noch nie gehört hatten!«
Simon strahlte mich an und strich mir liebevoll über den Arm, dann drehte er sich mit glühenden Wangen wieder zu John. »Aber Beziehungen hattest du mit Frauen?«
John grinste traurig. »Ich weiß nicht, ob man das Beziehungen nennen kann. Ich hab so getan, auf jeden Fall. Ich hab mir riesige Mühe gegeben, ein echter Gentleman zu sein. Ich hab alles getan, was Frauen von mir erwartet haben. Ich hab zugehört, ich war höflich, ich hab gelächelt, alles, was meine Mama mir beigebracht hatte. Aber ganz tief in mir drin wusste ich, wie es ablaufen würde. Sie kriegt mich rum, wir treffen uns eine Weile, sie fängt an, unsere Beziehung zu planen und mir wird immer unbehaglicher, weil mir das alles viel zu eng ist. Ich finde soziale Interaktion unfassbar anstrengend, immer der ganze Smalltalk und das Lächeln und Nicken und alles, ich krieg das einfach nicht hin. Und ich wusste immer, früher oder später würde ich sowieso mit einer anderen Frau schlafen, weil das eine für mich nichts mit dem anderen zu tun hat!«
Ich blinzelte John verwirrt an. »Wie meinst du das, dass es nichts miteinander zu tun hat?«
John zog ratlos die Augenbrauen hoch und ließ den Blick über den chaotischen Tisch wandern. »Ihr könnt mich jetzt als völlig gefühlskalten Psychopathen betrachten, aber ich konnte da nie wirklich eine Verknüpfung erstellen. Ich wusste immer vom Kopf her, dass ich treu sein muss, um niemanden zu verletzen. Aber auf der Gefühlsebene hab ich es einfach nicht kapiert. Die Beziehungen, die ich hatte, die waren für mich irgendwie …«, John zog die Stirn kraus und nagte sich an der Lippe. »Austauschbar ist ein zu böses Wort. Aber ich war immer viel unterwegs. Ich bin jahrelang zwischen Deutschland, Dublin und New York gependelt und«, er grinste entschuldigend, »ich hatte mit vielen Frauen was laufen. Mal hier, mal da. Und oft hat sich das überschnitten. Aber jede Frau ist doch anders! Ich hab doch mit einer Frau was vollkommen anderes als mit einer anderen Frau! Also kann ich doch der einen Frau nichts wegnehmen, wenn ich was mit der anderen habe!«
Simon und ich lachten auf, halb empört, halb fasziniert von Johns Logik. John seufzte resigniert. »Ich wusste auf der intellektuellen Ebene, dass ich das nicht darf. Aber emotional hab ich mich immer gefragt: Wo ist der Unterschied? Wenn ich mit einer Frau aus New York schlafe und für ein paar Wochen nach Hamburg muss. Und da schlafe ich dann mit einer anderen.«
John sah uns fragend an. Simon und ich tauschten einen verwirrten Blick. John seufzte tief. »Wenn ich in Hamburg esse, E-Mails beantworte, Meetings mit Galeristen über mich ergehen lasse oder im Park sitze, ist das für die Frau aus New York in Ordnung, obwohl sie doch gar nicht spürt, sieht oder hört, was ich gerade mache. Wenn ich aber in Hamburg mit einer anderen Frau schlafe, dann ist das ein riesiges Drama! Obwohl sie es doch gar nicht spürt, sieht oder hört! Mir hat nie eine Frau eine Szene gemacht, wirklich nie, weil sie irgendwie erfahren hat, dass ich mir in Hamburg Schuhe gekauft habe! Nie! Aber bei Sex?«
John sah uns verzweifelt an. Simon und ich versuchten, nicht zu kichern. Simon räusperte sich. »Äh, du willst wissen, wo der Unterschied liegt?«
Lasse verschränkte grinsend die Arme. »Erklär es uns, Bohrerchen, wo ist der Unterschied?«
Simon wedelte empört mit der Hand. »Na ja, Sex ist eben«, er brach ratlos ab. »Sex.«
Lasse grinste. »Und live is life.«
Lotta schwenkte die Arme und sang: »Nanananananaaaaaa!«, dann sah sie ihren Bruder irritiert an. »Wie hieß denn die Band noch mal?«
Lasse brummte entspannt. »Opus. Opus is opus, live is life und sex is sex.«
Lotta trällerte: »Was wollen wir trinken, sieben Tage lang … und von wem war das?«
Lasse kratzte sich wieder auf seine gemütliche Art den Bart. »Mist. Jetzt hast du mich eiskalt erwischt.«
Ganz leise summte John: »Sind so kleine Hände, kleine Finger dran …«
Lasse und Lotta prusteten los. Bei aller Liebe, ein bisschen Häme konnte ich mir nicht verkneifen. Ich raunte Simon zu: »Siehst du? Die schwulen Hippies singen Friedenslieder!«
Simon grinste ertappt. »Okay, erschlag mich mit meinen eigenen Klischees, ich hab’s verdient!«
Lotta hopste aufgeregt auf dem Stuhl rum und schlug ihrem Bruder gegen den Arm. »Jetzt haben die Komsomolzen gar nicht ›Bella Ciao‹ gesungen, da hab ich mich die ganze Woche drauf gefreut!«
Simon blitzte mich amüsiert an und flüsterte: »Machen die immer so irre Gedankensprünge?«
Verschwörerisch flüsterte ich: »Gib ihnen Zeit, sie schlagen den Boden bis zum Ende, das schaffen sie immer irgendwie! Hinterher kommt dir dann alles total logisch vor!«
Simon nickte nachdenklich, dann wandte er sich wieder an John. »Du kannst Eifersucht also überhaupt nicht verstehen? Du kennst das Gefühl gar nicht?«
John sah ihn mit leuchtenden Augen an und nickte stolz. »Doch. Ich bin dahinter gekommen!«
Simon blinzelte angestrengt. »Und wie?«
John flüsterte geheimnisvoll: »Es hat mich erwischt!«
Lotta griff sich röchelnd ans Herz und sackte in sich zusammen. »Nehmt keine Rücksicht auf mich, lasst mich einfach nur hier liegen!«
Lasse zitierte Gandalf. »Flieht, ihr Narren!«
John grinste. »Ich konnte nicht!«
Simon schüttelte sich. »Aber was genau ist denn passiert?«
Lasse beugte sich zu uns und murmelte: »Er hat unsere kleene Annika kennengelernt!«
Verwirrt fragte Simon: »Wen?«
John stand auf und holte sich ein Glas Wasser. »Anna. Ich hab Anna kennengelernt.«
»Die kleine quirlige, die die Dance-Battle moderiert hat? Die mit den wilden Locken und der heißen Soulstimme?«
Ich sah Simon empört an. »Auf was du alles achtest!«
»Äh, na ja, ähm, ich mein ja nur. Das war ja nicht zu übersehen.«
Für eine Sekunde weidete ich mich daran, wie Simon mit den Augen den Fußboden absuchte, dann grinste ich und stieß ihn an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du Anna mögen würdest!«
Simon räusperte sich. »Ich wusste nicht, dass sie das ist. Ich dachte erst, diese Moderatorin wäre eine von den Musikerinnen.«
John kam wieder an den Tisch und seufzte sehnsüchtig. »Sie hat mir ins Gesicht gesagt, dass sie diesen versierten Womanizer nicht ausstehen kann und wissen will, wer der echte John ist.«
Lasse lachte sein dröhnendes Lachen. »Oha!«
John sah zur Decke und schüttelte langsam den Kopf. »Ich hab Panik geschoben, totale Panik! Ich dachte, wenn sie den echten John kennenlernt, ist es aus! Den John, der ständig heimliche Affären hat und Namen verwechselt und Nachrichten an die falsche Adressatin schickt und das alles, dann bringt sie mich doch um! Habt ihr eine Ahnung, was passiert, wenn ihr nach dem Sex schläfrig im Bett liegt und aus Versehen den falschen Vornamen benutzt?«
Wir lachten alle drauflos. Die Vorstellung, wie dieser zierliche, stille Mann von einer wutentbrannten Frau mit dem Kissen verprügelt wird, war einfach zu komisch. John wartete mit einem verschämten Grinsen, bis wir uns wieder beruhigt hatten. »Ja ja, wer den Schaden hat …«
Simon wischte sich über die Augen und murmelte erleichtert: »Das ist mir nicht passiert!«
»Dein Glück!«, ich knurrte kurz warnend, dann wandte ich mich wieder an John. »Ich verstehe, dass du dich in Anna verliebt hast, aber du hast doch bestimmt vorher auch schon jede Menge Frauen kennengelernt! Was war denn bei ihr so anders?«
John neigte den Kopf und sah mich an, als wollte er fragen: »Ist das dein Ernst?«
Lotta streckte ihre langen Wikinger-Beine aus und verschränkte die Arme wie ihr großer Bruder. »Ich denk mal, er hat die Ansage dahinter verstanden.«
John rieb sich den Nacken und stellte leise fest: »Ja, genau das war es. Hier«, er tippte sich an die Stirn, »mein tumbes Frontalhirn hat überhaupt nichts kapiert. Ich wollte die Sache festmachen. Ich wollte das Ganze festzurren wie ein Segelbötchen im Orkan, diesmal aber richtig! Ich wollte der beste, monogamste, treuste, zuverlässigste John der Welt werden, um ihr meine Liebe zu beweisen. Ich wäre sogar mit ihr zum Grillabend bei den Nachbarn gegangen!«
Lotta grinste. »Ganz blöde Idee! Mit monogamen Kerlen war Annika durch, als sie hier gestrandet ist!«
Ich flüsterte gespannt: »Wegen Mono-Maik?«
John rollte mit den Augen. Aber Lotta kicherte unbeschwert. »Woher kennst du Mono-Maik?«
Ich flötete: »Anna hat da so was erwähnt.«
Simon sah mich verwundert an. »Aha. Und was?«
Ich erklärte: »Sie hatte einen festen Freund, der monogam war. Große Liebe und so. Aber er hat sich in eine andere Frau verliebt und sie verlassen.«
Simon schüttelte nicht einfach nur den Kopf, er schüttelte sich wieder komplett. »Jetzt versteh ich gar nichts mehr! Ich dachte, sie wäre schon seit der Schule mit diesem Sven zusammen!«
Ich nickte wie ein alter Poly-Hase, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Ist sie ja auch! Sie hatte dann eben beide Männer, aber Maik war wohl monogam. Er hatte erst nur sie und dann wollte er nur noch mit der anderen Frau zusammen sein!«
Simon stützte den Kopf in die Hände und stöhnte betroffen: »Mein Gott, die arme Anna!«
Ich sah ihn verwirrt an. Hatte mein Mann gerade eine Frau bedauert, die einen ihrer zwei Liebhaber verloren hatte? Ich kicherte leise.
Simon sah zu John. »Also, frontalhirnig wolltest du der Super-Mono-Mann werden, aber hier?« Simon klopfte sich auf die Brust. »Was war hier?«
»Ja, was war hier? Gute Frage!« John suchte mit den Augen die Decke ab, als hinge da ein Plakat mit der Antwort. Ich lächelte gerührt. Das war sein »Innen-Blick«. Er scannte die Daten in seinem Gehirn.
Ganz langsam sagte er: »Ich hab eine verwegene Ahnung davon bekommen, wie es sein könnte, einfach ich zu sein und trotzdem geliebt zu werden.« John sah meinen Mann an, als würde er gerade aus einem Traum aufwachen. »Verstehst du, was ich meine? Jemanden zu haben, der nicht von dir erwartet, dass du eine Rolle spielst, sondern dich wirklich liebt, wie du bist?«
Simon nickte sachte und streichelte meine Hand. »Ich beginne gerade, das Gefühl zu verstehen.«
Ich bekam das schönste Herzklopfen der Welt und wurde zu schüchtern, um meinen eigenen Mann anzusehen.
John murmelte verträumt: »Anna hat meine Welt komplett auf den Kopf gestellt.«
Lasse und Lotta grinsten sich wissend an. Offenbar hatten auch die beiden das große Gefühlskino mit Spannung verfolgt. Ich setzte mich auf. »Aber wie bist du dann dahintergekommen, wie Eifersucht sich anfühlt?«
John sah mir ernst in die Augen. Das war selten, dass er wirklich einen so intensiven Kontakt herstellte, so gut kannte ich ihn schon. »Als ich gefühlt habe, dass Anna einzigartig ist, dass die Beziehung mit ihr nicht austauschbar ist, sondern unverwechselbar, bin ich vor Verlustangst durchgedreht.«
Lasse säuselte leise: »Und dann kam Svenne.«
Wir mussten wieder alle lachen, ganz besonders John. Er wischte sich übers Gesicht und murmelte: »Im Nachhinein bin ich ganz froh, dass ich ihn nicht zum Duell gefordert habe.«
Simon reckte sich und lachte entspannt in sich hinein, aber dann fiel ihm ein: »Was hat Anna denn so anders gemacht als andere Frauen?«
John strubbelte sich grinsend durch die Haare. »Einfach alles. Bevor ich sie kannte, dachte ich immer, eine Beziehung zu führen, bringt mich automatisch in die Lage, mich zu verleugnen, früher oder später. Ich bin nie wirklich angekommen, weil ich immer wusste, dass es ja sowieso wieder auseinander geht. Vielleicht war das auch vorauseilender Gehorsam, aber ich dachte immer, dass ich die Versprechungen machen muss, die eben von mir erwartet werden. Und dabei hab ich mich schrecklich gefühlt, weil ich immer wusste, ich werde sie nicht halten können!«
Ich kam Simon zuvor. »Was denn für Versprechungen?«
John zuckte die Schultern und sah sich um. »Das Übliche. Sachen wie: Ich werde dich immer lieben! Oder: Ich werde nur noch Augen für dich haben! Solche Sachen hab ich nie über die Lippen gebracht, weil ich es einfach nicht wissen kann! Ich kann doch jetzt niemandem versprechen, was ich in zehn oder zwanzig Jahren fühlen werde!«
Für eine Weile saßen wir alle einfach nur still da und ließen Johns Logik in uns nachhallen. Aus der Scheune kam jetzt gefühlvolle, leise Gitarrenmusik. John wühlte sich noch einmal durch die Haare und blinzelte müde. »Diese Standardformulierungen kamen mir immer vor wie Gehirnwäsche. So, wie wenn Kinder sich streiten und die Eltern ihre Ruhe haben wollen. Dann sagen sie: Vertragt euch, gebt euch die Hände und sagt, dass ihr euch liebhabt. In dem Moment haben die sich aber nicht lieb! Die sind sauer aufeinander, die haben sich gestritten und sind wütend! Wieso sollten die sich dann die Hand geben und so tun, als hätten sie sich lieb? Das verdreht dir doch die eigene Wahrnehmung, wenn dir von außen auferlegt wird, was du fühlen sollst!«
Simon bekam seinen diagnostischen Blick. »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber kann es sein, dass du hochbegabt bist? Oder hochsensibel oder Asperger Autist oder etwas in der Richtung?«
Lasse flüsterte Lotta zu: »Gleich holt er den Bohrer raus und guckt dem Malerchen in den Kopf!«
Lotta und John kicherten. John hielt sich die gespreizte Hand vors Gesicht und grinste Simon durch seine schlanken Finger hindurch an. »Ich hab als Kind so viele Diagnosen bekommen, du kannst dir eine aussuchen!«
Lasse beugte sich zu uns und flüsterte: »Das verwirrte Malerchen hat ein paar Klassen übersprungen, falls dir das bei der Diagnostik hilft. Und mit sechzehn hat er seinen ersten Förderpreis eingeheimst.«
John lachte zufrieden. »Oh, ja, das war cool! Als das Geld da war, haben meine Mutter und ich wochenlang Käsekuchen gegessen. Einfach, weil wir konnten!«
Simon lehnte sich zurück und spreizte nachdenklich die Hand. »Ich versuche nur, ein Muster herauszufinden. Alle Menschen, mit denen ich mich heute in diesem Haus unterhalten habe, wirken auf mich auf den ersten Blick einfach wie bunte Paradiesvögel. Aber wenn man die Gespräche hört, wird einem ganz schnell bewusst, wie viel Substanz das alles hat!« Simon sah mich an. »Kannst du dir vorstellen, dass die Besuchows sich über so viele verschiedene komplexe Themen unterhalten?«
Ich musste lachen. »Dann würden wir sie vielleicht sogar freiwillig einladen!«
John beugte sich stirnrunzelnd über den Tisch. »Pierre und Natascha?«
»Wieso, kennst du die?« Simon sah John verdutzt an.
Ich kicherte und stieß Simon an. »Ich gehe mal davon aus, dass ein Mensch wie John irgendwann ›Krieg und Frieden‹ gelesen hat.«
Simon schlug sich vor die Stirn und musste lachen. »Okay, meine Welt ist nicht mit der gesamten Welt identisch, langsam verstehe ich es.«
Lasse neigte sich zu Simon. »Ich denke, du knabberst immer noch an der Frage, wieso manche Menschen glücklich im Mainstream vor sich hindümpeln und wieso andere an der Oberfläche kratzen und die Dinge ändern.«
Simon nickte heftig. »Genau, ganz genau!«
Lotta sah ihren Bruder kurz fragend an, dann erklärte sie: »Dahinter steckt immer eine Leidensgeschichte. Wenn du aus irgendwelchen Gründen nicht der Norm entsprichst, dann stolperst du in diese Welt mit dem Gefühl, dass du das hässliche Entlein bist. Weil irgendwas mit dir nicht stimmt. Du hast immer das Gefühl, ein Vollversager zu sein, der zu blöd ist, um so zu werden wie die anderen. So, wie bei John, der nie wirklich in der Standard-Beziehung angekommen ist. Er hat es nie geschafft, die äußeren Parameter mit seinem eigenen Bedürfnis nach Nähe, Distanz und Treue zu verknüpfen. Und wenn du solche Dinge nicht hinkriegst, dann zieht dich das runter, dann gibst du dir selbst die Schuld und zweifelst an dir. Du versuchst, dich an das System anzupassen und kommst erst mal nicht auf die Idee, dass der Fehler vielleicht im System liegt, nicht bei dir. Und genau das ist der Haken mit der Norm. Wenn du nicht drin bist, bist du draußen. Wenn es zum Beispiel zwei Geschlechter gibt und du dich mit keinem identifizieren kannst, fühlst du dich falsch, bis du Menschen triffst, die fühlen wie du. Aber von dir aus Selbstakzeptanz zu entwickeln, wenn dein ganzes Umfeld sagt, dass du kacke bist, weil du nicht so bist wie sie, das ist verdammt schwer. Aber wenn du ganz viel Glück hast, dann findest du irgendwann eine Freak-Show, in der du dich zu Hause fühlst. So, wie in dieser WG. Wir sind eine Familie, weil wir alle irgendwie anders sind, darin sind wir gleich.«
John gab ein leises Brummen von sich. »Ja. Genau das war es, als ich Anna und Sven kennengelernt hab. Sie haben gesagt: Malerchen, du bist nicht verkehrt oder irgendwie falsch, du musst nur lernen, verantwortungsvoll damit umzugehen, wie du bist.«
Ich flüsterte gespannt: »Und hat das geklappt?«
John warf mir einen ausdruckslosen Blick zu, dann fing er an zu lachen. »Als ich vor Eifersucht durchgedreht bin, hab ich getan, was ein guter monogamer Mensch dann eben tut. Ich hab erst mal ein Date mit einer anderen Frau klargemacht, damit Anna mal versteht, wie das ist!«
Simon schlug sich lachend die Hände vors Gesicht. »Oh, Gott, nein! Zum Glück hat Lena das nicht getan!«
John seufzte ergeben. »Ja, da war sie schlauer als ich. Die Sache ist dann auch gründlich nach hinten losgegangen, weil ich Franziska gesagt hatte, wenn sie mich abholen kommt, soll sie vorne an der Straße warten, also, Schlaglöcher und so, sie muss ja hier nicht extra auf den Hof fahren.«
Ich giggelte überdreht. »Mir schwant übles!«
John beugte sich anklagend zu mir und nickte. »Und jetzt rate, wer ihr die Tür aufgemacht hat, als sie einfach mal gucken wollte, wo ich jetzt wohne!«
»Äh, Moment!« Simon ließ den Finger durch die Küche wandern. »Da hast du noch hier im Haus gewohnt? Habt ihr euch hier in der WG kennengelernt?«
John nickte. »Ich hab im Garten gewohnt, in meinem Bauwagen. Das Nachbarhaus haben wir erst später dazugekauft.«
Simon stöhnte. »Und diese Franziska ist Anna direkt in die Arme gerannt?«
John grinste. »Oder umgekehrt. Jedenfalls war das bis dahin mit Abstand der peinlichste Abend meines Lebens. Danach kamen dann noch peinlichere, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen.«
Atemlos fragte Simon: »Hat Anna ihr die Augen ausgekratzt?«
Lasse und Lotta sahen erst sich an, dann Simon. Wie aus einem Munde fragten sie: »Hat dir jemand erklärt, dass Anna polyamor ist?«
»Äh, ist das dieses … kann sie mehrere Geschlechter lieben?«
Ich flüsterte ihm zu: »Polyamor ist was anderes als polysexuell.«
Lotta grinste und schoss einen unsichtbaren Pfeil ab. »Der Poly-Amor schießt meistens auf mehrere Menschen gleichzeitig.«
»Ah, okay, sie kann also mehrere Menschen lieben. Gleichzeitig.« Simon hämmerte sich gegen die Schläfe, wie er es früher getan hatte, wenn er für Prüfungen gebüffelt hatte. »Weiter!«
John neigte verträumt den Kopf. »Anna hat Franziska zum Essen eingeladen, Sister vor Mister! Und danach hat sie mir einen Einlauf verpasst, weil ich ihr nicht einfach offen gesagt hatte, dass ich mit einer anderen Frau schlafen will und weil die arme Franziska total ahnungslos war. Ich hab echt überhaupt nichts mehr verstanden. Dann hab ich Anna erst mal den Kopf abgerissen, weil sie nicht eifersüchtig war. Nach meinem Empfinden hätte sie ja um mich kämpfen müssen, wenn ich ihr irgendwas bedeutet hätte.«
»Deswegen warst du so sauer auf mich, als ich Annegret ins Haus gebeten habe! Du hast erwartet, dass ich um dich boxe wie ein Känguru!« Ich schlug Simon aufs Bein und sah verwundert auf meine Hand. Jetzt fing ich auch schon an, auf diese etwas ruppige Lotta-Art Kontakt aufzunehmen.
Simon atmete tief durch und sah mich schuldbewusst an. »Ich hab nicht kapiert, dass du besser um uns kämpfst, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Tut mir leid.«
John grinste verlegen. »Ich glaub, wir haben Lena ganz schön in die Mangel genommen mit unserer Weltsicht. Aber wir regeln solche Dinge eben anders.«
Ich lachte auf. »Ich gebe ja zu, im ersten Moment dachte ich selbst, in einer Freak-Show gelandet zu sein, aber in einer, die ich nie gesucht habe! Aber dann hab ich ganz schnell das Gefühl bekommen, bei Menschen zu sein, die nicht über mich urteilen. Bei denen ich einfach so sein kann, wie ich bin.«
Simon gab ein nachdenkliches Brummen von sich. »Hmhm. Und wenn du so eine bunte Welt gefunden hast, kannst du einfach mit zwei Menschen Händchen halten und keiner guckt dich blöd an. Oder du kannst unter deinen Freunden in einem samtenen Hausmantel spazieren gehen und über Literatur und Philosophie reden, als hättest du drei geisteswissenschaftliche Doktortitel.«
Lasse stieß Lotta an. »Er ist dem Bärchen in die Arme gelaufen.«
Simon schüttelte den Kopf. »Unfassbar, oder? Was dieser Junge auf der Pfanne hat, atemberaubend.«
John murmelte leise: »Anna und ihr Bärchen sind ein absolut kongeniales Team.«
Ich zögerte kurz, aber die Frage brannte mir zu sehr unter den Nägeln, um sie nicht zu stellen. »John, kannst du mir erklären, wie du es geschafft hast, deine Eifersucht auf Sven zu überwinden und Vertrauen zu Anna aufzubauen?«
John schürzte die Lippen und bekam einen unglaublich weichen, niedlichen Gesichtsausdruck. »Vertrauen. Vertrauen gewinnst du nur durch Offenheit. Ich wusste bei ihr immer, woran ich bin. Wenn ich Mist gebaut habe, hat sie es mir ins Gesicht gesagt. Sie hat mir immer ganz klar gesagt, was sie braucht und was sie will. Und dann hat sie mich entscheiden lassen, ob ich mich darauf einlassen will oder eben nicht. Sie ist immer total klar und ehrlich, Anna ist niemals manipulativ oder suggestiv. Wir haben uns gezofft wie die Kesselflicker, aber dadurch sind wir uns auch wahnsinnig nah gekommen. Diese Beziehungen, in denen man alles unter den Teppich kehrt, die hab ich nie ertragen. Anna hat mir das Gefühl gegeben, dass Konflikte total normal sind und dass sie zur Liebe einfach dazugehören.«
Simon drückte unter dem Tisch ganz sanft mein Bein, aber er sprach zu John. »Ja, aber, ist diese Offenheit nicht auch manchmal sehr schmerzhaft? Wäre es nicht manchmal auch leichter für euch, wenn ihr euch gewisse Dinge nicht erzählen würdet? Würdest du sie damit nicht vor Verletzungen schützen?«
»Ich versteh, was du meinst. Es gibt bestimmt auch Paare, bei denen das funktioniert, aber nicht bei uns.« John grinste entschuldigend. »Wenn du immer alles unter den Teppich kehrst und dich mit Lügen durchmogelst, hat das noch einen ganz anderen Aspekt. Es ist nicht nur so, dass du selbst nicht vertrauenswürdig bist. Du kannst auch niemandem vertrauen. Weil du automatisch davon ausgehst, dass der andere dich genau so bescheißt, wie du ihn. Als ich gelernt habe, zu Anna ehrlich zu sein, hab ich auch gelernt, ihr zu vertrauen. Und dadurch hab ich dann eine unfassbare Nähe erlebt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Als ich mich dann in Lilly verliebt habe, hab ich gemerkt, dass Anna und Sven längst meine engsten Vertrauten geworden sind. Ich wäre geplatzt, hätte ich ihnen nicht von meinen Gefühlen erzählen können!«
Simon japste verwirrt. »Ich kapier es einfach nicht! Wieso haben sie dir nicht die Hölle heiß gemacht?«
John lächelte tatsächlich ganz warm und sanft. »Simon, in unserer Welt funktioniert das anders! Wir gehen davon aus, dass solche Dinge sowieso früher oder später passieren. Selbst, wenn du total straight mono bist, kannst du nie sicher davor sein, dass deine Gefühle machen, was sie wollen. Vielleicht verliebst du dich, obwohl du Treue gelobt hast. Vielleicht hast du auch einfach einen unbändigen Drang, mal mit einem anderen Menschen zu schlafen oder eine Neigung auszuleben, die dein Lieblingsmensch nicht teilt. Das sind Gefühle, die kannst du nicht kontrollieren. Was du kontrollieren kannst, ist dein Umgang damit. Deswegen haben wir einfach andere Strategien, damit umzugehen, wenn es passiert. Ehrlichkeit ist unsere Treue.«
Simon atmete tief durch. »Das setzt dann also voraus, dass ihr die Gefühle des anderen respektiert. Selbst dann, wenn sie euch verletzen.«
John blinzelte uns ganz langsam an. »Es setzt vor allem voraus, dass du erst mal deine eigenen Gefühle respektierst.«
Ich murmelte: »Sicherer Stand.«
John lächelte melancholisch. »Ganz genau. Erst musst du dich selbst verstehen, dann kannst du dich um die anderen kümmern.«
Simon ruderte hilflos mit den Armen. »Aber was tust du, wenn deine Lieblingsmenschen dann gar nicht wollen, dass du diese Gefühle auslebst?«
Lotta grinste. »Dann fangt ihr an zu verhandeln!«
Simon schüttelte sich wieder so verwirrt, dass ich ihn unglaublich niedlich fand. »Verhandeln?«
Lotta nickte. »Klar! Du kannst deine Menschen fragen, was sie brauchen. Welche Sicherheiten sie möchten, um dir die Freiheiten geben zu können.«
Simon stöhnte verwirrt. »Und wenn sie mir die Freiheiten nicht geben kann oder will?«
Lotta streifte mich mit einem amüsierten Blick und erklärte: »Dann hältst du dich daran und lässt die Finger von der anderen.«
Simon rieb sich die Augen. Ich konnte spüren, wie es in ihm rattert. »Ich verstehe. Ich stehe dann also vor der Wahl, ob ich auf eine Affäre verzichte oder auf das Vertrauen der Frau, die ich liebe.«
Alle sahen Simon vielsagend an. Ich senkte den Kopf und grinste. Mein Mann seufzte tief und murmelte: »Ich hab das Gefühl, dass ich sprechen lernen muss.«
Ich sah ihn an und flüsterte: »Ich auch.«
Wir sahen uns tief in die Augen, dann nickten wir uns zu. Simon flüsterte: »Wenn ich vorher gefragt hätte, hättest du mir die Affäre erlaubt?«
Ich horchte kurz in mich hinein, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, hätte ich nicht. Aber ich hätte erst mal geschluckt und dann hätte ich dein Vertrauen zu schätzen gewusst. Aber mit dieser Annegret?«
Simon und ich fingen an zu lachen. John wischte sich seufzend über die Augen. »Ja, ich hatte echt Glück, dass Anna und Sven Lilly so niedlich fanden! Als ich damals auf meine Exfrau gefallen bin, sah das ganz anders aus!«
Lasse und Lotta prusteten wieder los. Lasse stand auf, reckte sich und klopfte John anerkennend auf die Schulter. »Die Story mit deiner Ex, das war ganz großes Kino!«
John sah grinsend zu Lasse auf. »Schön, dass ihr was zu lachen hattet!«
Im Flur wurden wieder Stimmen und Gelächter laut. Sven und Anna passten mal wieder nicht durch die Tür, weil sie mit ihrem Huckepack-Spiel beschäftigt waren. Lilly flutschte an den beiden vorbei und hüpfte zu John. »Auf, auf, Maler! Es ist fünf vor zwölf!«
John rappelte sich mit einem resignierten »Ich hasse Silvester!« auf.
»Guten«, Sven schraubte sich mit seinem strampelnden Rucksack durch die Tür, »Rutsch!«
Anna quiekte übermütig: »Nicki! Ich hab den Wikinger gefangen! Lass ihn nicht entkommen!«
Nicki kam lachend hinter den beiden in die Küche. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, flüsterte zärtlich: »Nimm dies!« und gab Sven einen gefühlvollen Kuss.
Anna linste über Svens Schulter, warf John einen Blick zu und zog das Näschen kraus. »Süß die beiden, oder?«
»Dann wollen wir uns mal angucken, wie die Landbevölkerung ihre sieben Raketen zündet!« Lotta rappelte sich träge auf und stapfte nach draußen.
John musste lachen, dann stolperte er los, weil Lilly aufgeregt an seinem Arm rüttelte und ihn zur Tür zog. Lasse schob den wilden Knubbel einfach nach draußen und sang dabei lauthals: »Should auld acquaintance be forgot …«
Plötzlich wurde es still in der Küche. Simon sah mich melancholisch an. Ich konnte sehen, wie ihm der Kopf raucht. Er lächelte. »Ist das nicht das Silvester-Lied aus ›Harry und Sally‹?«
Ich erwiderte sein sanftes Lächeln. »Den haben wir lange nicht gesehen.«
Simon grinste. »Wir müssen ja auch immer ›Dirty Dancing‹ gucken.«
Ich streifte ihn mit einem bösen Blick und kicherte. Simon zeigte mit einem Nicken zur Tür. »Die wilde Bande da, John mit seinen Frauen und dieser Sven, wie nennt man das?«
Ich überlegte kurz, dann grinste ich so breit wie ein Wikinger. »Flexible Fünferkette!«
Simon sah mich ungläubig an. »Ernsthaft?«
Ich fing an zu lachen. »Nö. Aber manche Dinge muss man so erklären, dass ein Mann sie versteht!«
Simon lachte empört, aber dann legte er mir sanft die Hand an die Wange. »Halt jetzt deine freche Klappe, ich will dich küssen!«
Ich sah ihn verwundert an. Das war unser erster Kuss, seit das alles passiert war. Mit klopfendem Herzen schloss ich die Augen. Ich spürte, wie Simon mir ganz nah kam. Ich fühlte seine Wärme auf meiner Haut. Sein warmer Atem strich über meine Schläfe, dann berührten seine Lippen vorsichtig suchend meine Wange. Er küsste so sachte, dass es kitzelte, meine Schläfe, meine Stirn, dann nahm er mein Gesicht in beide Hände und küsste meine Lippen. Hauchzart und voller Gefühl. Er flüsterte: »Wir müssen reden!«
Ich senkte den Kopf und lachte leise. Simon lachte selbst, ganz weich und gelöst. »Okay, die Formulierung klang nach Drama. Aber du weißt, was ich meine.«
Ich nickte stumm. Simon strich mit den Lippen über meine Stirn und hauchte: »Ich will ganz viel mit dir reden. Über das Leben, über uns, über alles.« Er gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Mit meiner besten Freundin. Meiner engsten Vertrauten.«
Ich schlug die Augen auf und sah die liebevolle Wärme in seinem Blick. »Glaubst du, dass wir es schaffen?«
Simon neigte den Kopf und sah mich bittend an, dann lachte er leise. »Wo waren wir heute vor einer Woche?«
Ich grinste. »Bei deinen Eltern.«
Simon nickte ganz langsam. »Wir waren im Land der Ehepaare, die das Sprechen verlernt haben.«
Ich streifte seine Lippen mit meinen und hauchte: »Da, wo es verdammt kalt und einsam ist.«
»Und da wollen wir nie wieder hin.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nie wieder.«
Simon küsste stürmisch meine Hände. »Liebes, ich will dich nicht teilen!« Er grinste schief. »Und mein Bedarf an Abenteuern ist gedeckt!«
Ich lachte erleichtert auf. Simon atmete tief durch und sah mich forschend an. »Aber falls uns noch mal etwas passiert, womit wir nicht gerechnet haben, glaubst du, wir könnten uns dann ein bisschen mehr so verhalten wie John und seine Lieblingsmenschen?«
Ich nickte heftig und lachte. Draußen hörten wir in der Ferne die erste Silvesterrakete in den Himmel fliegen. Simon stand auf und reichte mir die Hand. »Bist du bereit für einen Neuanfang, Liebes?«
Ich stand auf und legte ihm die Arme um den Hals. »Bin ich!«