Da klopfte es an der Tür. Rosie löste sich wieder aus der Umarmung und eilte zur Tür, um sie zu öffnen. Natürlich war es Elio gewesen, der geklopft hatte.
„Saskia, kommst du, wir müssen...“, er hatte mich gesehen. Ich kicherte. Was machte er denn für ein seltsames Gesicht?
„Ich glaube, du gefällst dem Herrn Elio“, meinte Rosie und warf mir einen bedeutsamen Blick zu. Elio schien sich in diesem Moment wieder gefangen zu haben. Er räusperte sich.
„Saskia, wir sollten uns auf den Weg zum Speisesaal machen. Nicht dass du noch zu spät kommst."
„Ja, ich komme ja schon. Nochmals vielen Dank, Rosi", murmelte ich, an Rosie gewandt.
„Nichts zu danken, Liebes. Und nun ab mit euch", meinte sie zwinkernd und scheuchte uns liebevoll aus dem Nähzimmer heraus.
Schweigend liefen wir die Gänge entlang. Es ging Treppen rauf und runter. Wir liefen durch mehrere Hallen und Säle. Ich konnte mir den Weg unmöglich merken. Alles sah gleich aus.
„Wie lange hast du gebraucht, bis du dich hier zurechtgefunden hast?“, fragte ich Elio.
„Nach ein paar Tagen kannte ich mich ein bisschen aus. Zumindest kannte ich den Weg vom Haupttor zum Trainingsraum. Aber ich entdecke heute noch Gänge und Hallen, die ich zuvor nicht kannte", meinte er nur. Drei Gänge weiter blieb er dann endlich stehen.
„Hier wären wir, Prinzessin“, sagte er grinsend und öffnete mir die Türe. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte. Mir war klar, dass ich eintreten sollte, aber ich hatte keine Ahnung, ob ich mich irgendwie verneigen musste oder so etwas in der Art. Hilfesuchend sah ich zu Elio. Der schien zu erkennen, was ich von ihm wollte.
„Geh einfach rein. Wenn unbekannte Elfen am Tisch sitzen, verneigst du dich, bevor du dich hinsetzt. Wenn nur dein Vater dort ist, kannst du dich einfach setzten. Ansonsten machst du einfach das, was dein Vater macht", wisperte er mir zu. Ich dankte ihm mit einem Lächeln und betrat dann den wunderschönen Saal. Dieser hatte einen hellrosa marmorierten Boden, Säulen, die mit den schönsten Blumen bewachsen waren, und riesige Fenster, wodurch man das ganze Elfendorf überblicken konnte. Die Schönheit des Saals verschlug mir den Atem. Überall waren Blumen und Schmetterlinge. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an dieser Farbenpracht. Plötzlich stupste mich jemand von hinten an, und ich wusste wieder, weswegen ich hier war. Das Mittagessen. Ich ließ meinen Blick durch den Saal gleiten und entdeckte zwei unbekannte Gesichter an einer vergoldeten Tafel in der Mitte des Saales. Unsicher versuchte ich einen Knicks zu machen, was wahrscheinlich nicht einmal halb so anmutig war, wie ich geplant hatte. Dann eilte ich zu der Tafel hinüber. Mein Teller war dieses Mal rechts von Falk platziert worden. Schweigend setzte ich mich. Die zwei unbekannten Elfen mussten die Gäste sein, von denen Falk beim Frühstück gesprochen hatte. Vorsichtig warf ich ihnen einen Blick zu. Beide hatten goldenes, seidiges Haar und blasse Haut. Sie sahen komplett gleich aus. Bis auf ihre Kleidung. Die eine hatte ein helles blaues Gewand an und die andere ein silbernes. Wahrscheinlich bedeutete das auch wieder irgendetwas, von dem ich wieder einmal keine Ahnung hatte.
„Saskia, das sind Abies und Alba, die Königinnen der Zukunft und der Vergangenheit. Sie regieren den Wald am grauen Gipfel", erklärte mir Falk. Ach herrje. Ich hatte es ja geahnt. Nun würde es noch viel mehr unbeantwortete Fragen geben. Da war zum Beispiel die Frage: Warum die Königinnen der Zukunft und der Vergangenheit?
„Abies, Alba, das ist meine Tochter Saskia. Sie wurde bei den Menschen geboren und hat bis vor kurzem bei ihnen gelebt. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatten sich dann plötzlich ihre Elfenmerkmale gezeigt und so ist sie zu mir gekommen. Leider wissen wir noch nichts über ihre Magie oder anderes. Das Einzige, was wir wissen, ist"
„Dass Saskia im Zeichen des Schwans geboren wurde. Das weiß ich, Falk", unterbrach Alba ihn. Woher zum Teufel wusste sie das? Alba drehte ihren Kopf zu mir um und betrachtete mich. Warum sahen mich eigentlich immer alle so an, als wäre ich ein Alien, das gerade auf der Erde gelandet war? Natürlich war ich neu hier, aber trotzdem.
„Abies, ich wollte dich fragen, ob du uns etwas über Saskias Magie sagen könntest?“, fragte Falk dann die Dame in Silber.
„Falk, so gern ich dir helfen würde, ich kann nicht das sehen, was ich möchte. Ich sehe immer nur Visionen der Zukunft. Aber diese kann ich mir leider nicht aussuchen", antwortete Abies. Was? Visionen der Zukunft? Nun kapierte ich gar nichts mehr. Obwohl, da war doch etwas! Falk hatte die beiden Königinnen der Zukunft und der Vergangenheit genannt. Konnte es dann sein, dass Alba Visionen der Vergangenheit sah, wenn Abies Visionen der Zukunft sehen konnte?
„Könnt ihr die Vergangenheit und die Zukunft sehen?“, platzte es aus mir heraus. Abies lächelte mich freundlich an.
„So in etwa. Ich sehe immer wieder Visionen der Zukunft, während Alba, meine Zwillingsschwester, immer wieder Visionen der Vergangenheit sieht. Aber weder ich noch sie können uns die Augenblicke aussuchen, die wir gerne sehen würden", klärte mich Abies auf.
„Saskia, möchtest du nicht auch etwas essen?“, meinte Falk plötzlich. Ich sah auf meinen Teller. Komisch, ich hatte gar nicht gemerkt, dass man mir etwas zu essen gebracht hat. Und heute sah es… interessant aus. Ein guter Vergleich war angekohlte Rinde mit etwas zu viel Harz. Wie sollte ich das essen? Mit oder ohne Gabel? Warum mussten die Elfen auch so komisches Essen haben? Hilflos schielte ich zu Falk hinüber und sah, dass er die Gabel benutzte. Also griff ich mit gemischten Gefühlen nach der Gabel und stach in das undefinierbare Etwas, was viel weicher und fluffiger war, als ich erwartet hatte. Und es schmeckte phantastisch! Es war süß und schmeckte nach Pfannkuchen mit Ahornsirup. Den Rest des Mittagessens verbrachten wir damit, über die Wälder und meine Heimat zu sprechen. Abies war eine sehr freundliche und warmherzige Elfe während mir Alba etwas kalt vorkam. Aber vielleicht war es auch einfach meine Auffassung. Nachdem wir alle aufgegessen hatten, verabschiedeten sich die Königinnen. Doch bevor sie gingen kam Abies noch zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr.
„Ich hatte vorhin eine Vision von dir und diesem Elfen dort drüben", sie deutete auf Elio, der die ganze Zeit über neben der Türe gestanden hatte.
„Naja, ich sage so viel: Ich glaube ihr zwei solltet ein Auge aufeinander haben." Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. Ich sah zu Elio hinüber. Da spürte ich wieder ein feines Kribbeln in der Magengegend. Schnell senkte ich den Kopf etwas. Ich hoffte wirklich sehr, dass ich keine roten Wangen hatte. Da sah ich, wie Abies mir ein Lächeln zuwarf, das so viel wie „ich hab’s doch gewusst“ bedeutete.