Geneviève Bellier saß im Garten des Anwesens ihres Vaters und las in einem Buch. Diesen Eindruck erweckte es zumindest bei Außenstehenden. Doch in Wirklichkeit verhielt sich die Sache vollkommen anders. Das Buch in ihrer Hand diente lediglich als Vorwand, um dem ständigen Genörgel ihres Erzeugers zu entgehen, der sie immer wieder aufs Neue daran erinnerte, dass sie – wenn auch sein einziges Kind – illegitim geboren worden war.
Nach den Erzählungen Reenes, ihrer Zofe und Vertrauten, war sie das Ergebnis einer kurzen, aber stürmischen Liaison zwischen ihm und der bekannten Pariser Schönheit Camille Bellier.
Geneviève konnte sich kaum an die Mutter erinnern, da die einem mysteriösen Fieber erlag, als sie gerade vier Jahre zählte.
Nach Camilles Tod hatte Renee das kleine Mädchen geschnappt, eine Kutsche bestiegen, und war mit nur wenigen Habseligkeiten zum Palais de Saint Jacques gefahren, um dort beim Baron vorsprachig zu werden. So hatte es Camille in einem Brief verfügt, den sie wenige Tage vor ihrem Tod verfasst und der ein weiteres versiegeltes Schreiben enthalten hatte, auf dem neben dem Namen Claude de Lacroix auch die Anschrift des Palais’ vermerkt war.
de Lacroix war ziemlich überrascht gewesen, als Renee am helllichten Tag Einlass begehrte. Nachdem er den versiegelten Umschlag geöffnet und gelesen hatte, forderte er sie, die das kleine Mädchen noch immer an der Hand hielt, dazu auf, ihm in das Palais zu folgen. Kurz darauf befahl er seinen obersten Hausdiener, für Unterbringung von Frau und Kind zu sorgen. Keine Minute später war er zur Tür hinausgestürmt, zu den Ställen hinübergeeilt und davongeritten.
Renee, ihrer einstigen Herrin und damit auch deren Tochter treu ergeben, hatte die Angelegenheit nicht weiter hinterfragt und sich in den ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten, die sich im zweiten Stockwerk befanden, eingerichtet. Für die nächsten beiden Tage sah und hörte sie nichts von de Lacroix. Erst am dritten Tag nach ihrer Ankunft erbat der ihre Anwesenheit in seinem Arbeitszimmer.
Geneviève hatte nie erfahren, was in jenen zwei Stunden besprochen wurde. Doch nahm ihr Leben nach diesem Gespräch eine grundlegende Wendung.
Sie zog gemeinsam mit Renee in eines der großen Gemächer im Erdgeschoss um, und kam fortan in den Genuss, alle Privilegien der Tochter eines Adligen auszukosten.
de Lacroix trug überdies dafür Sorge, dass sie eine angemessene Schulbildung erhielt.
So wurde sie seit ihrem fünften Lebensjahr von einem Privatlehrer unterrichtet, der ihre intellektuellen Fähigkeiten ebenso zu fördern wusste wie auch ihre künstlerische Seite. Sie erfuhr eine umfassende Ausbildung in Recht und Geschichte, ferner in diversen Sprachen und Wissenschaften. Bereits im Alter von zwölf Jahren beherrschte Geneviève neben ihrer Muttersprache – dem Französischen – Englisch, Latein, Deutsch und Italienisch perfekt. Sie schrieb Gedichte, kleine Sonette, spielte Spinett. Darüber hinaus sang sie wundervoll.
Dennoch war Genevièves Leben sehr einsam, pflegte der Vater doch keinerlei Kontakt zu seiner Tochter. Die einzigen Lichtblicke, in ihrem tristen, wenn auch komfortablen Dasein, waren die Besuche von Sebastien de Castlemore, der, obgleich zwölf Jahre älter, immer für sie da war und sie später sogar den Umgang mit dem Dolch lehrte.
Als König Louis vor fünf Jahren im Juli zu einem Ball einlud, reiste sie in Begleitung von Sebastien nach Versailles. Es sollte der Tag werden, der ihr bisheriges Leben komplett veränderte, musste sie sich doch eingestehen, sich unwiderruflich in Sebastien, dem sie immer auf eine besondere Weise zugetan gewesen war, verliebt zu haben.
An jenem Nachmittag war sie dem König vorgestellt worden, der ein gesteigertes Interesse an ihrer Gesellschaft zeigte, sie in die unterschiedlichsten Gespräche verwickelte und sich zu guter Letzt nach ihrem Leben erkundigte. Bereitwillig hatte Geneviève all seine Fragen beantwortet.
Zu einem späteren Zeitpunkt philosophierte sie mit ihm und Sebastien sowohl über politische als auch gesellschaftliche Themen.
Es wurde sehr schnell ersichtlich, dass die erst Sechzehnjährige über einen ähnlich wachen Verstand wie Frankreichs Herrscher verfügte. Noch am selben Abend äußerte Louis den Wunsch, Geneviève möge Versailles künftig regelmäßig aufsuchen. Diesem Ansinnen war sie nur allzu gern nachgekommen, nicht ahnend, welch weitreichende Konsequenzen das nach sich ziehen sollte…
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