Geneviève war wütend. Glaubten Belfort und seine Schergen tatsächlich, sie bräuchten lediglich in das Schloss einzudringen, die Wachtposten töten – und sie ginge mit ihnen? Solange sie Widerstand leisten konnte, würde sie sich dagegen wehren. Aber was dann? Verzweiflung erfasste sie. Selbst wenn es ihr gelang, Belforts Männer hinzuhalten, würden die sie irgendwann überwältigen. Wohin also sollte sie sich wenden?
Es gab nur eine einzige Fluchtmöglichkeit. Sie musste auf die Zinnen hinaufklettern. Doch allein bei dem Gedanken daran wurde ihr schwindlig, denn sie litt unter Höhenangst.
Auf der anderen Seite ertrug sie die elendige Warterei nicht länger. Daher öffnete sie die Tür.
Direkt davor stand ein Mann.
„Mademoiselle“, sagte der. „Ihr werdet mich auf Befehl meines Herrn jetzt begleiten!“
„Wer ist das?“
„Ich bin nicht gewillt, Euch das zu offenbaren.“
„Und ich bin nicht bereit, Euch zu folgen. Verschwindet! Ihr habt kein Recht, Euch hier aufzuhalten!“
Hinter ihm sah sie seine Gefährten die Treppe heraufkommen, bei deren Anblick sie beinahe der Mut verließ.
„Tut mir leid, Mademoiselle, Ihr müsst mit mir kommen.“
Energisch schüttelte sie den Kopf.
„Vergesst es! Ich werde nicht mit Euch gehen, Monsieur, denn Ihr dient einem Mann, der nichts Gutes im Schilde führt!"
“Schnapp sie dir endlich, Maurice!“, zischte der Anführer der Gruppe. „Unser Herr wartet auf seine Braut.“
„Mademoiselle“, versuchte es der Mann erneut, während er auf sie zutrat.
Geneviève zog ihren Dolch. Mit Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, dass die Angreifer zögerten.
„Wie Ihr sehen könnt, weiß ich mich zu verteidigen.“
„Ihr seid doch nur ein kleines Mädchen!“, meinte einer der Männer aus dem Hintergrund.
„Nehmt Euren Dolch endlich herunter. Wir werden Euch nicht verletzen!“
„Das werde ich mit Sicherheit nicht tun. Wenn Ihr mich zu packen versucht, gebt gut auf Eure unteren Körperteile acht!“
Nach ihrer Äußerung wurde der Mann merklich unsicher. Er sah zu jener Körperregion hinab.
„Lass dich von ihr nicht einschüchtern. Mademoiselle weiß gewiss nicht, wo sie den Dolch ansetzen muss.“
„Doch, das weiß sie“, versicherte Geneviève und zielte mit dessen Spitze auf das Gemächt des vor ihr befindlichen Mannes.
Im Treppenaufgang erklang Gelächter. „Und uns hat man gesagt, wir würden keine Rüstung brauchen.“
Am Ende seiner Weisheit angelangt, drehte sich Maurice um. „Mach du es, Robert.“ Er stieß einen anderen Mann in Genevièves Richtung.
Als der nach ihrem Arm greifen wollte, gelang es ihr, die Tür ihres Zimmers zuzuschlagen, zu verschließen, zum Fenster hinüberzulaufen und von dort aus auf die Balustrade zu klettern, was ihr wertvolle Minuten einbrachte. Und nun? Wie sollte es weitergehen?
Die Rettung nahte in Form einer Gestalt mit schwarzem Umhang, die durch die Nacht herangeflogen kam wie ein Rabe, offenbar ein Seil an einem Mauervorsprung weiter oben befestigt hatte und daran hing.
„Mademoiselle Geneviève!“, drang die Stimme zu ihr hinüber. „Kommt her! Haltet Euch an mir fest. Wir müssen hinunterspringen!"
“Eine behandschuhte Hand streckte sich ihr entgegen, zog sie zu sich und drückte sie an einen muskulösen Körper.
„Ich versuche, Euch hier herauszuholen. Haltet still, dann wird Euch nichts passieren!“
Zustimmend nickte sie, klammerte sich an ihn, seine Körperwärme durch die dünne Seide ihres Nachthemdes spürend.
„Ich vertraue Euch voll und ganz. Es ist ja heute bereits das zweite Mal, dass Ihr mein Leben zu retten versucht.“
Ein sanftes Lächeln überzog ihr Gesicht.
Hinter ihnen war das Klirren von Stahl zu vernehmen.
„Jetzt!“, rief er.
Sie spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, als sie von den Zinnen des Palais’ sprangen und in eine unergründliche und von Schatten verhüllte Tiefe stürzten...
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