Zehn Minuten später saß Geneviève auf einem entwurzelten Baum, während ihr Retter mit hinter den Rücken verschränkten Armen umherlief.
Sie befanden sich in der Nähe einer Lichtung.
Nur die Geräusche des Waldes erfüllten die Nacht. Zu ihnen gehörten neben dem Gezwitscher der Vögel, dem Knacken der Zweige und dem Rascheln der Blätter, auch diejenigen, die kleinere Tiere hinterließen, wenn sie durch Moos und Gras huschten. Die Luft duftete nach Erde und Holz.
Es war ein wirklich schöner Platz. Viel besser als manches feuchtkalte Palais oder Chateau, in dem es muffig roch, weil das Dach undicht war. Hier bildete der Himmel selbiges.
„Es ist wunderschön hier“, richtete Geneviève das Wort an den geheimnisvollen Unbekannten, der sie zu ihrer Verwunderung anlächelte und ihre Hände ergriff.
„Geht es Euch gut, Mademoiselle?“, fragte er in stark akzentbehaftetem Französisch.
„Ich denke schon. Das ist allein Euer Verdienst. Habt vielen Dank. Wer seid Ihr?“
Er ließ sie los und platzierte sich neben ihr auf dem Boden.
„Das kann ich Euch nicht sagen.“
„Ich glaube es zu wissen… Ihr seid der, den sie den Schatten nennen, nicht wahr? Ihr seid keine Legende. Über Euch erzählt man sich die erstaunlichsten Geschichten, Monsieur. Demnach kämpft Ihr für den König. Zugleich versucht Ihr das Los der Unterdrückten zu mildern. Jene, die ihnen ein Leid antun wollen, werden von Euch zum Kampf herausgefordert. Die Gerüchte über Euch verstummen nie. Mehrfach glaubte man, dass Ihr getötet worden seid. Aber das stimmt nicht… Die Legende ist Wahrheit. Ist es nicht so?“
Zögernd nickte er.
„Eure Feinde würden Euch nur allzu gern hängen sehen.“
„Allerdings. Ist mein Geheimnis bei Euch sicher?“
„Ich verspreche es.“
„Ich danke Euch. Jetzt lauft nach Hause. Ich erwarte eine Nachricht. Möglicherweise ist der König in Gefahr. Und erzählt niemandem, was heute Nacht geschehen ist!“
„Ihr habt mein Wort.“ Für eine weitere Erwiderung ihrerseits blieb keine Zeit mehr, da Le ombre auf sein Pferd stieg und im Begriff war, zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Geneviève schaute ihm seufzend nach, erst dann zog sie sich den schützenden Umfang fester um ihren Körper und lief zurück zum Palais. Kurz bevor sie den geheimen Aufgang betrat, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. War es ein Omen, welches grausige Gefahren prophezeite?
Die Schatten schienen sich immer mehr zusammenzuziehen. Die Dunkelheit erfüllte nicht nur die Nacht, sondern ebenso Genevièves Herz. Der Wind wirkte wie ein Echo, beinahe als wollte er ihr irgendetwas sagen – sie warnen. Bewegungslos verharrte sie, spürte die Liebkosung der kühlen Luft auf ihrem Gesicht. Nachdem einige Zeit verstrichen war und sie sicher sein konnte, dass niemand ihr Eintreffen bemerkt hatte, schlüpfte sie in den Geheimgang.
Nachdem sie das Zimmer betreten hatte, lief ihr Renee bereits entgegen.
„Gott sei Dank, dass du wieder da bist, Mädchen! Dein Vater ist mit einigen Gästen aufgetaucht und verlangt nach dir!“
Während sie sprach, nahm sie ihrer Herrin den Umhang ab. „Beeile dich! - Trödele nicht herum!“
„Weißt du, was er von mir will? Es wäre das erste Mal, dass meine Anwesenheit bei einer seiner Soireen erwünscht ist.“
„Ich habe keine Ahnung. Darüber hinaus weiß ich nicht, wer die Leute sind…“
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