Morgen früh würde sie zu einem weiteren Besuch Versailles‘ aufbrechen. Heute jedoch hatte sie – wie an jedem Freitag – etwas zu erledigen. Mithin bat sie Reene, ihr den grauen, unansehnlich aussehenden Umhang heraussuchen, den sie immer trug, wenn sie sich auf den Weg durch die Stadt machte, um das La Maison aufzusuchen, bei dem es sich um ein Heim für verwaiste Kinder handelte.
Würde ihr Vater mitbekommen, wohin sie jeden Freitagabend verschwand, hätte er sie nicht mehr aus dem Haus gelassen – so viel stand fest. Gott sei Dank ahnte Claude nichts von den Ausflügen, die sie bereits seit mehr als fünf Jahren unternahm, um die Not der Kinder zu lindern, und dass ihnen vom Schicksal zugedachte Los ein wenig zu erleichtern.
„Bist du sicher, dass du gehen willst?“, fragte Renee. „Es ist um diese Zeit nicht ungefährlich, in Paris umherzulaufen.“
Der Ton der Zofe war warnend.
„Ich bin mir sicher.“ Impulsiv umarmte sie die Vertraute. „In ein paar Stunden bin ich wieder zurück. Mir wird gewiss nichts zustoßen“, beteuerte sie.
Besorgt folgte Renee ihrer Schutzbefohlenen in das Ankleidezimmer zu einer versteckt gelegenen Tür, die aus zusammengefügten, mit Mörtel verbundenen Steinen bestand. Als Geneviève auf einen der Steine drückte, verschob sich ein Teil der Wand nach hinten in einen Gang, der in undurchdringlicher Dunkelheit lag. Eine Wendeltreppe führte hinab. Diese endete unterhalb des Schlossgrabens an einer Stelle, wo dichte Hecken und Büsche den Ausgang verdeckten.
Unten angekommen, schob Geneviève die Zweige zur Seite und blickte sich um. Anschließend lief sie die schmalen Pfade zwischen den Bäumen entlang, die zur Rue de Saint Nom hinführten. Da geschah es… Drei stark angetrunkene Männer torkelten auf sie zu.
„Na, mein Täubchen. Was machst du denn hier so ganz alleine? Bist wohl auf der Suche nach Gesellschaft?“, lallte einer von ihnen und begrabschte sie mit seinen schmierigen Fingern.
„Nehmt Eure Finger von mir!“, brachte Geneviève erbost hervor.
„Warum sollten wir das tun, Herzchen?“, meinte der zweite.
„Du bist ein echtes Schmuckstück. Es wird uns eine Freude sein, dir den Abend zu versüßen.“
„Ihr werdet mir überhaupt nichts versüßen, Monsieur!“
Geneviève zog langsam den unter ihrem Umhang verborgenen Dolch hervor und stach zu.
„Du kleines Miststück!“, rief der Mann, den sie am Arm erwischt hatte, aus.
„Ich werde dir zeigen, was mit Frauen wie dir passiert. Haltet sie fest! Lasst sich ja nicht los!“, wies er seine Kumpane an. Dann machte er sich daran, seine Hose zu öffnen. Er schob ihre Röcke nach oben, und versuchte, die wild um sich tretende Geneviève zu besteigen.
„Fesselt ihre Hände!“, brüllte ihr Peiniger „Und sorgt endlich dafür, dass sie das Maul hält!“
Daraufhin hielten die beiden anderen sie am Boden fest und versuchten ihr einen Knebel in den Mund zu stecken.
Als sie einen von ihnen in die Hand biss, lachte der Anführer. Er schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht. Sie glaubte schon, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, als ein markerschütternder Schrei durch die Straße hallte. Ein Reiter galoppierte auf die Gruppe zu. Der kohlrabenschwarze Hengst raste derartig schnell dahin, dass er wie ein verschwommener Schatten wirkte. Schwarz glänzte die Kleidung, die den Reiter von Kopf bis Fuß verhüllte. Hinter dem Mann flatterte sein schwarzer Umhang wie eine Rauchwolke, die einem Feuer folgt. Sein hocherhobener Degen durchschnitt die Luft wie ein funkelnder Blitz.
Der Kerl, der sich über sie hatte hermachen wollen, drehte sich um - im ersten Augenblick verblüfft. Zu spät erkannte er die tödliche Gefahr.
Offensichtlich hatte der Fremde nicht vor, irgendwelche Fragen zu stellen oder auf Antworten zu warten. Er kannte kein Pardon und streckte den Mann, der sich an Geneviève hatte vergehen wollen, nieder. Anschließend schob er seinen Degen in die Scheide zurück, beugte sich zu ihr hinab, hob sie zu sich hinauf und setzte sie vor sich in den Sattel. Sein Rappen bäumte sich kurz auf, dann preschte er davon. Staub und Erde wurden hinter den Hufen des Tieres aufgewirbelt. Nur wenige Minuten später waren er und Geneviève in den Tiefen des angrenzenden Waldes verschwunden.
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