«Alena!» riss eine Stimme sie erneut aus dem Schlaf. Neben ihrem Bett stand, voller Besorgnis, Mondtänzer, in seiner menschlichen Gestalt. Die Nacht brach gerade wieder herein und sein flachsblondes Haar leuchtete noch etwas durch das Halbdunkel des Zimmers hindurch. Seine, wie mit blauem Licht hinterlegten Augen, mit den länglichen Pupillen, ruhten auf ihr und seine feingliedrige Hand lag auf ihrem Arm.
Die Frau blinzelte erstaunt und sprach: «Mondtänzer! Du hier?»
«Ja, ich musste unbedingt nach dir sehen. Auf einmal war da so ein schreckliches Erdbeben, das meine Heimatwelt erzittern liess. Einige der bereits gefrorenen Seen und Teiche zersprangen dabei in tausend Stücke und da begriff ich, dass etwas Schlimmes mit dir passiert sein musste.»
«Die Welt der Wasserdrachen wurde tatsächlich durch meine Leberblutung so erschüttert?»
«Ja!» rief Mondtänzer und man merkte die Verzweiflung in seinen Worten. «Du hattest eine… Leberblutung?»
«Ja. Diese soll von einem stumpfen Bauchtrauma, das ich während meinem Unfall erlitt, verursacht worden sein. Darum mussten sie mich operieren.»
«Oh bei allen Drachengöttern! Es muss ziemlich knapp gewesen sein, sonst hätten wir das in unserem Reich nicht so zu spüren bekommen.»
«Dann… hat meine körperliche und seelische Verfassung also tatsächlich so einen grossen Einfluss auf das Wasserdrachen- Reich?»
«Ja. Das habe ich dir ja schon einmal gesagt. Darum ist es ja so wichtig, dass du dein Leben wieder auf die Reihe kriegst. Unsere Existenz hängt davon ab.»
«Das ist eine unglaublich grosse Verantwortung, die ich da tragen muss,» seufzte Alena hilflos. «Es ist alles nicht so einfach, wie du glaubst.» «Ich glaube nicht das es einfach ist, aber dennoch sehr wichtig!»
«Ich weiss, ich weiss! Ach Gott! Was soll ich nur tun?»
«Am besten du hörst auf dein Herz. Was sagt dir denn dein Herz?»
«Das ist nicht einfach zu sagen. Da ich manchmal nicht sicher bin, wann genau mein Herz zu mir spricht und wann nicht.»
«Dann frage ich anders: Was würdest du denn gerne tun?»
«Weniger arbeiten! An einem schöneren Ort arbeiten…» erwiderte Alena ironisch, «aber das geht nun mal nicht von heute auf Morgen,» fügte sie dann etwas desillusioniert hinzu.
«Bist du sicher, dass es nicht geht?»
«Nein. Ich muss mich schliesslich ganz allein durchbringen.»
«Brauchst du denn so viel für dich allein? Wäre nicht dein Seelenfrieden wichtiger? Wenn du so weitermachst, wird Tenebris immer stärker und irgendwann wird sein Schatten dich und uns ganz eingeholt haben.»
Alena musste unmittelbar wieder an die schreckliche und doch so beeindruckende Begegnung mit dem finsteren Drachen denken, welcher doch so schöne Augen gehabt hatte.
«Ich glaube… Tenebris besteht nicht nur aus Schatten,» sprach sie schliesslich leise.
Die blauen Augen von Mondtänzer weiteten sich. «Wie kommst du denn jetzt auf einmal darauf?»
«Ich… äh, bin ihm vor kurzem begegnet.» erwiderte die Frau etwas zögerlich.
«Du bist ihm begegnet!» Entsetzen schwang in der Stimme des Wasserdrachen mit. «Bei den Göttern! Hat er dir das mit der Leberblutung womöglich angetan?»
«Ach was!» Alena winkte überzeugt ab. «Als ob so ein Schattendrache, der in einer vermutlich von mir eigens kreierten Welt sein Unwesen treibt, so etwas in meinem Körper anrichten könnte. Nein! Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Während des Unfalls wurde das Steuerrad in meine Bauch gerammt und dadurch entstand diese Blutung. Ausserdem begegnete ich Tenebris erst, nachdem ich ohnmächtig wurde. Und… da erkannte ich, dass er gar nicht nur aus Schatten besteht. Er hat sogar wundervolle Augen. Augen wie schwarze Opale, mit den unterschiedlichsten, farbigen Reflexen darin.»
Mondtänzer blickte die Frau ungläubig an. «Das… kann ich mir gar nicht vorstellen.»
«Es ist aber so. Wo Schatten ist, ist also auch Licht. Sogar bei Tenebris. Vielleicht ist er gar nicht so böse und verdorben, wie wir denken.» «Also ich weiss nicht. Er kommt mir schon sehr böse und furchteinflössend vor. Hast du das nicht auch so empfunden, als du ihn das erste Mal in der Drachenwelt gesehen hast. Du warst verschüchtert wie ein kleines Kaninchen, das vor den Klauen des Adlers zittert.»
«Jaja, ich weiss. Dennoch… diese zweite Begegnung war anders. Obwohl Tenebris selbst es nicht gerne hörte, dass auch in ihm noch ein Licht schlummern soll.»
«Schon seltsam…» Mondtänzer wirkte nachdenklich. «Aber wenn das so ist. Dann… besteht vielleicht doch noch Hoffnung für meine Welt. Aber erhol dich jetzt erst einmal von deiner Operation und dann sehen wir weiter. Es ist wichtig dass du zu Kräften kommst, damit auch meine Welt wieder zu Kräften kommt.»
«Okay,» erwiderte Alena und erst jetzt merkte sie, wie müde sie eigentlich noch war. Mondtänzer streichelte ihr noch kurz übers Haar, dann begann sich sein Körper nach und nach wieder aufzulösen, bis nur noch seine blauen Augen zu sehen waren, die noch kurz in der Luft vor ihr schwebten und dann ebenfalls verschwanden. Das Ganze war immer ein eindrückliches Schauspiel. Doch Alena konnte nicht weiter darüber nachdenken und ihr fielen erneut die Augen zu.
8. Kapitel
Am nächsten Tag, war Alena sehr nachdenklich. Sie begann wieder etwas zu malen, um ihren Kopf freizukriegen. Eine Weile werkelte sie noch an dem Bild von Mondtänzer herum und blätterte dann zur schattenhaften Gestalt von Tenebris weiter. Lange schaute sie dessen Bild an, als wolle sie darin eine Wahrheit finden, die ihr bisher verborgen geblieben war. Schliesslich holte sie einige weitere Buntstifte hervor und machte sich daran, Tenebris Augen auszumalen, die bisher nur schwarze Rechtecke gewesen waren. Während sie das tat, fiel sie in einen seltsamen Zustand der Stille und des inneren Friedens.
So erschrak sie richtig, als eine der Pflegerinnen ihr einen weiteren Besuch von Stefan Hofer ankündigte. Schnell legte die Frau den Block zur Seite und strich ihr wohl ziemlich zerzaustes, blondes Haar etwas glatt. Hoffentlich sah sie nicht allzu übel aus. Aber was kümmerte sie das eigentlich? Warum war es ihr so wichtig, dass der Lastwagenchauffeur ein gutes Bild von ihr hatte? Sie kannten sich ja noch kaum.
Dennoch… als Stefan eintrat, begann ihr Herz auf einmal seltsam heftig zu klopfen und in ihrem Bauch schienen auf einmal viele, kleine Drachen zu kreisen.
Der Besucher bemühte sich, Fröhlichkeit zu verbreiten, denn er kam mit einem breiten Grinsen auf Alenas Bett zu.
«Hallo! Schön geht es dir wieder besser,» sprach er. «Ich habe dir etwas mitgebracht.» Er wühlte in einer Plastiktasche herum, die er bei sich trug und förderte einen professionellen Mal- Block, einige exklusive Mal- Stifte und ein Taschenbuch zutage. «Ich dachte mir, ich bringe dir das, damit du gut ausgerüstet bist und noch viele deiner schönen Bilder malen kannst.»
Alena nahm die Geschenke voller Freude entgegen. «Vielen Dank!» sprach sie. «Das ist… sehr aufmerksam von dir! Du machst mir damit eine riesige Freude!»
«Das Taschenbuch beschreibt, wie man Fantasiegeschöpfe malt. Es hat auch Drachen darin. Vielleicht kann es dich ja etwas inspirieren.»
Die Frau blätterte begeistert in dem Taschenbuch herum und sprach: «Das… ist… Ich bin echt sprachlos! Nochmals vielen Dank!»
«Keine Ursache! Wenn man so ein Talent wie du hat, sollte man es nicht verkümmern lassen.»
Alena war tief bewegt und ihr Herz öffnete sich auf einmal weit, für diesen liebevollen Mann, der sich so rührend um sie kümmerte.
«Ich habe übrigens angefangen an Tenebris Augen zu malen,» sprach sie, als Stefan sich zu ihr setzte. Dabei griff sie nach dem Block. «Auf einmal hatte ich, hinsichtlich seiner Augen, eine Eingebung. Die neuen Malstifte werden mir gute Dienste leisten, sie zu vollenden. Wie findest du es?»
Der Chauffeur betrachtete das Bild von Tenebris tief beeindruckt. «Das ist ja wunderbar! Die Augen wirken wie ein dunkler Nachthimmel mit bunten Sternen darauf. Wie ein… ein…»
«Ein schwarzer Opal,» vollendete Alena den Satz.
«Genau! Du hast recht! Sie sehen wirklich wie ein Opal aus. Diese Augen scheinen mir perfekt zu Tenebris zu passen. Irgendwie finde ich dieses Bild auch sehr tröstlich und ermutigend. Tenebris besteht zwar aus Schatten und Dunkelheit. Aber… da ist auch Licht und Farbe. Wie es bei den meisten Dingen ist, die in unserem Leben geschehen.»
«Genau!» rief Alena erneut sehr berührt von Stefans tiefen Einsichten. Er schien wirklich sehr feinfühlig zu sein und das gefiel ihr ausserordentlich.
«Jetzt da wir davon sprechen, merke ich, dass ich wohl gerade in einer Lebensphase bin, die zwar dunkel wirkt, doch auch ihre Schätze beherbergt,» sprach sie.
Der Mann nickte zustimmend und sichtlich berührt. «Ja, ich erlebte solche Phasen in meinem Leben auch schon oft. Wichtig ist, dass wir versuchen positiv zu bleiben und nicht zu verzagen. Wir… sollten Vertrauen haben, dass alles was geschieht, aus einem guten Grund geschieht.»
«Damit hast du wohl recht,» erwiderte Alena erneut sehr nachdenklich geworden. «Manchmal allerdings ist das gar nicht so einfach. Manchmal türmen sich Berge vor einem auf, die man glaubt niemals überwinden zu können.»
«Und doch gibt es immer einen Weg. Man muss ihn nur finden und das kostet manchmal einfach etwas Kraft. Vielleicht malst du auch deshalb Drachen.»
«Wie meinst du das?» Die Frau war neugierig geworden.
«Nun, Drachen sind sehr stark, weise und können mit ihren Flügeln ausserdem alle Hindernisse überwinden. Vielleicht ist da eine Sehnsucht in dir, das auch zu können.»
Wieder staunte Alena über die tiefgründigen Einsichten des Mannes an ihrer Seite. «Da könntest da tatsächlich recht haben.»
«War nur so ein Gedanke. Vermutlich hältst du mich jetzt für abgehoben.»
«Nein keineswegs. Ich finde es wunderbar, dass du dir solche Dinge überlegst. Vermutlich ist das eins der Lichter in der Finsternis.»
«Was willst du damit sagen?»
«Nun…, wenn ich diesen Unfall nicht gehabt hätte, dann hätte ich dich niemals kennengelernt. Das wäre doch sehr schade gewesen.»
«Das finde ich auch,» erwiderte Stefan und schaute Alena mit einem so liebevollen Ausdruck in den Augen an, dass sie richtig verlegen wurde. Etwas unbeholfen senkten die beiden den Blick und schwiegen sich eine Weile an.
Dann sprach die Frau jedoch: «Ich mag dich wirklich sehr. Ich weiss… wir kennen uns noch kaum. Aber… ich fühle mich sehr mit dir verbunden.»
«Mir geht es gleich.» Sanft ergriff Stefan nun Alenas Hand und drückte sie leicht. Sie lächelten sich an und dann näherten sich ihre Lippen den seinen… In diesem Augenblick jedoch trat einer der Ärzte ein und der perfekte Moment verflüchtigte sich wieder, wie die flüchtigen Schwingen eines Geisterdrachens.