10. Kapitel
«Nein!» schrie sie erneut, als sie feststellte, dass sie wieder zurück war und sprang auf. Die Nachtschwester, die gerade an ihrem Bett stand, blickte sie erschrocken an. «Frau Wagner! Was ist denn los? Sie dürfen sich noch nicht so anstrengen! Haben sie schlecht geträumt?» Einen Moment lang, war Alena völlig durcheinander. Was sollte sie der Schwester jetzt bloss erzählen? Dass ihr Drachenfreund vermutlich gerade in der Anderswelt um sein Leben kämpfte und sie eigentlich bei ihm hätte bleiben wollen? Nein, das ging nicht! Sonst wurde sie tatsächlich noch für verrückt erklärt. So setzte sie sich wieder auf den Bettrand und sprach: «J…ja, ich hatte gerade einen schlimmen Alptraum.»
«Oh, das tut mir leid. Kann ich irgendetwas für sie tun?»
«Nein, nein. Es geht schon wieder. Es war… ja nur ein Traum. Ich werde jetzt ein wenig lesen und dann versuchen, noch etwas weiterzuschlafen.»
«Soll ich ihnen einen Tee bringen?»
«Nein danke, ich habe noch Wasser hier, das reicht,» murmelte Alena und betete im Stillen, dass die Schwester sich bald wieder verziehen möge, damit sie möglichst schnell wieder zurück in die Anderswelt reisen konnte, um Mondtänzer beizustehen.
Doch sie fand einfach keine Ruhe mehr und auch als sie nochmals kurz einnickte, stellte sie beim Aufwachen enttäuscht fest, dass sie noch immer im Diesseits war.
Das machte sie richtiggehend fertig und immer wieder stellte sie sich die Frage, was wohl aus ihrem treuen Drachenfreund geworden war. Der Angriff von Tenebris war irgendwie so unerwartet und heftig gewesen.
«Was wäre wohl aus mir geworden, wenn Mondtänzer sich nicht zwischen ihn und mich geworfen hätte? Wäre es tatsächlich möglich, dass ich dort in der Anderswelt sterbe? Aber… das kann ich mir kaum vorstellen.
Dennoch… was der schwarze Drachen über diesen Schattenmeister gesagt hat, beunruhigt mich schon sehr. Steht vielleicht wirklich eine andere, böse Macht hinter diesem Monster? Habe ich mich geirrt, als ich dachte, Tenebris sei eine Schöpfung von mir und besässe auch eine lichtvolle Seite? Aber warum hat er dann diese wunderschönen Augen?»
Ihr Blick fiel auf die Zeichnung, die sie von dem finsteren Drachen angefertigt hatte. Nachdenklich und lange betrachtete sie es. Was nur hatte es mit alledem auf sich? War sie überhaupt in der Lage, diesem Feind irgendwann Herr zu werden? Mondtänzer hatte gesagt, dass sie noch nicht so weit sei. Aber wann war sie denn überhaupt jemals soweit? Oder war die Dunkelheit in ihrem Leben tatsächlich schon so stark, dass sie drohte die Überhand zu gewinnen...? Nein! Das durfte sie nicht zulassen! Sie musste kämpfen! Sie musste einen Weg finden! Auch einen Weg, um Tenebris auszuschalten.
Wieder dachte sie an das Schicksal von Mondtänzer. Er konnte dem schrecklichen Gebiss des grösseren Drachen kaum unbeschadet entkommen sein. Vielleicht lag er jetzt irgendwo schwer verletzt und sie konnte nicht zu ihm, um ihm zu helfen. Einmal mehr ergriff sie Verzweiflung, als… es auf einmal wieder an die Tür klopfte!
Schnell wischte sie die Tränen ab, die ihr über die Wangen gelaufen waren und fuhr sich einige Male durch ihr zerzaustes Haar. Wer war das wohl? Doch sogleich entspannte sie sich wieder etwas, denn es war nur die Tagschwester, welche ihr das Frühstück brachte.
Sie hatte jedoch kaum Appetit. Die Geschehnisse der letzten Nacht, nagten noch zu sehr an ihr. Seufzend erhob sie sich und ging langsam zum Badezimmer, um sich frisch zu machen.
Als sie in den Spiegel schaute, musste sie auf einmal wieder an Stefan denken und der Gedanke an ihn, vertrieb etwas ihren Kummer. Sie dachte an seine liebevollen Worte zurück und daran, dass sie sich beinahe geküsst hätten. Und… auf einmal huschte ein versonnenes Lächeln über ihr Gesicht. Vielleicht war dieser Mann ja tatsächlich der Richtige für sie? Die Sehnsucht nach ihm, wurde auf einmal übermächtig und sie wünschte sich von Herzen, dass er sie bald wieder besuchen würde. Sie legte etwas Makeup auf, putzte sich gründlich die Zähne und ging dann zu ihrem Handy herüber.
«Ich werde ihn anrufen und ihn fragen, ob er Zeit hat vorbeizukommen,» dachte sie bei sich und wählte seine Nummer.
Kurz darauf antwortete er ihr, mit heiterer Stimme.
Alenas Herz klopfte so wild, als müsse es ihr sogleich aus der Brust springen. Tatsächlich sagte ihr dem Mann dann auch zu, mit den Worten: «Ich wäre heute vermutlich sowieso nochmals vorbeigekommen. Am Morgen muss ich zwar noch einige Dinge erledigen, aber danach hätte ich genug Zeit.»
So machten sie auf 13 Uhr ab.
Alena konnte es kaum erwarten und dachte etwas weniger über das Drama nach, dass sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte. Dennoch war sie fest entschlossen, baldmöglichst in die Welt der Wasserdrachen zurückzukehren, um nach Mondtänzer zu sehen.
Pünktlich klopfte Stefan um 13 Uhr an ihre Tür. Alena hatte sich schön zurechtgemacht und empfing ihn fröhlich, aber auch ziemlich nervös.
Der Mann trug in seiner Hand eine kleine, elegante Geschenktasche und reichte diese der Frau, als sie sich mit drei Küsschen auf die Wangen begrüsst hatten. Sie waren beide etwas verlegen und führten ein wenig Smalltalk, während Alena einen Blick in die Geschenktasche warf und eine kleine Schachtel zu Tage förderte.
«Ich war gerade in den Stadt und habe das hier in einem Schaufenster gesehen. Da dachte ich, es wäre ein passendes Geschenk für dich,» erklärte der Mann.
«Wow!» sprach Alena. «Da bin ich jetzt aber gespannt!» Sie öffnete die ziemlich kostbar wirkende Schachtel und darin befand sich ein wunderschöner, silberner Schmuckanhänger, in Form eines Drachens! Er war mit einigen blauen und weissen Edelsteinchen besetzt und sehr filigran gearbeitet.
«Oh mein Gott!» rief die Frau aus «der… ist einfach wundervoll! Aber… das war bestimmt sehr teuer!»
«Ach es geht…,» wehrte Stefan ab. Doch an seinem Ausdruck sah man, dass er doch ziemlich tief in die Tasche gegriffen haben musste, um Alena dieses Geschenk zu kaufen.
Spontan fiel ihm die Frau um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Sie freute sich wirklich wie ein Kind.
«Irgendwie… hat er mich an diesen Drachen Mondtänzer erinnert, von dem du einst ein Bild gemalt hast. Er ist doch auch so blauweiss- silbern.» meinte er verlegen und das Blut schoss in seine Wangen. Um etwas von seiner Unsicherheit abzulenken, griff er nach dem Zeichenblock und schlug die Seite mit dem Bild von Mondtänzer auf.
«Ja, du hast recht!» freute sich Alena. «Das habe ich auch gerade gedacht. Aber… das kann ich fast nicht annehmen…»
«Doch, du musst. Vielleicht hilft er dir ja auch etwas dabei, um den dir bestimmten Weg zu finden.»
Die Frau überlegte einen Moment. War sie wirklich schon bereit, sich so etwas Wertvolles von Stefan schenken zu lassen? Oder wollte er sie womöglich damit bestechen, um sie rumzukriegen? Nein, das war irgendwie nicht seine Art. Er meinte es ehrlich mit ihr und mit diesem Geschenk, hatte er einmal mehr seine Feinfühligkeit bewiesen. Der Anhänger war einfach wundervoll und sie spürte sogleich eine tiefe Verbindung dazu. Ja! Das musste ein Zeichen sein! Ein Zeichen, dass Mondtänzer sie weiterhin auf ihrem Wege begleiten würde. Und auf einmal machte sie sich wieder viel weniger Sorgen um ihren Drachenfreund.