Mit dem Leben abzuschließen, ist eine Sache, die vielen schwerfällt. Und obwohl ich mich mit diesem Gedanken im Laufe meines Lebens zunehmend angefreundet habe und zudem keinen Ausweg zu sehen vermag – und dabei habe ich wahrlich schon in schlimmeren Klemmen gesteckt und überlebt – bin ich noch nicht bereit, meinen Frieden mit der Großen Jagd zu machen.
Es ist eine geheimnisvolle Sache, die einen dazu verleitet, das Leben dann am meisten zu schätzen, wenn sich der Tanz zwischen Jäger und Beute ihrem Ende zuneigt. Im Augenblick vor dem Biss, wenn Leben und Tod auf der Kippe stehen, überkommt uns dieses heilige Gefühl, dass alles möglich wäre. Dann sind wir Eins mit der Jagd, die weit vor unserer Zeit begann und lange nach unserer Zeit fortgeführt werden wird. Dann sehen wir offen und klar, wie die ganze Welt zwischen Tod und Leben balanciert, auf dem schmalen Grad, den wir gemeinhin Schicksal oder Glück nennen.
Doch trotzdem sich mir dieser Ausblick auf das große Bild eröffnet, in dessen Muster ich nur ein Farbklecks bin (ein grauer Farbtupfer, sei hier angemerkt), bin ich noch nicht bereit, mich in mein Schicksal zu fügen und meine Farbe trocknen zu lassen. Denn ehrlich, was wäre das für ein Schicksal für einen ehemaligen Krieger wie mich, nach allem, was ich erlebt habe, so zu sterben: Von einer Klippe baumelnd, nur eine trockene Wurzel zwischen den Zähnen und die Luft unter den Pfoten.
Nun gibt es sicherlich Kleingeister, die mich darauf hinweisen wollen, dass ich doch bitte am Anfang beginnen sollte, nicht mitten in der Geschichte. Doch, stellen wir uns den Fakten, in der Großen Jagd gibt es keinen Beginn, nur eine endlose Folge aus Jagdglück und gelungener Flucht, die sich mit all den Wellenkreisen bis heute fortsetzt und in die Zukunft weiterläuft. Ich wäre ein schlechter Jäger, wenn ich diese Wahrheit nicht ehren würde.
Aber vielleicht musst du wenigstens ein bisschen was erfahren. Ich bin ein Grauwolf, ein Canis lupus lupus. Das ist ein schlauer Menschenbegriff, und es bedeutet 'Grauwolf'. Erstaunlich! Außerdem bin ich ein Kanonikos. Das ist ein schlauer Wolfsbegriff, aus den Zeiten der großen Helden und Sternwölfe, und bedeutet 'gewöhnlicher Wolf'. In manchen Übersetzungen auch 'Pöpel'. Das bedeutet, dass ich kein Sternwolf bin, kein Königswolf, obwohl ich an der Seite dieser mächtigen, feueräugigen Wesen gekämpft habe. Zuletzt mussten wir aus unserer Heimat fliehen und leben nun in der Schimmerwelt. Ein Ort, wo Geschichten real und Träume Wahrheit werden. Während die alte Welt an die Menschen fällt und nun für uns verloren ist, gibt es in der Schimmerwelt noch Orte, wo Wölfe singen und träumen können.
Da ich nicht zu den Sternwölfen zähle, habe ich sie irgendwann verlassen. Ich habe ihnen zwar geholfen, das haben sie nicht vergessen, aber ich werde trotzdem niemals einer von ihnen sein. Um mich erneut einem Rudel anzuschließen, fehlte mir die Kraft. Ich habe bereits in vier Rudeln als Betawolf gedient, habe gekämpft und sie beschützt. Jetzt wollte ich meine Ruhe. Einsamkeit kann zwar erholsam sein, aber in gewissen Situationen auch ein Fluch.
Was uns zurück zur Klippe bringt, an der ich gerade allein und rudellos abhänge. Das hast du nicht vergessen, hoffe ich, denn für mich ist das alles eine große Sache. Ich habe gegen Drachen und Kanonikos, Sternenwölfe und Tollwütige gekämpft, und nun hängt mein ganzes Schicksal an einer einzigen, verdammten Wurzel, die jeden Moment reißen kann. Meine übereifrige Fantasie - sie heißt Lyssa, nach der Göttin des Wahnsinns - malt mir bereits in den tollsten Farben vor das Innere Auge, wie ich am Fuß der Klippe aufschlagen werde.
Nicht ganz das friedliche Ende, das ich mir erhoffte. Noch dazu hat keiner meiner verstorbenen Freunde sich bisher die Mühe gemacht, als tröstlicher, wabernder Geist seinen Auftritt zu nehmen. Das ist doch das Mindeste, was ich verlangen kann, immerhin war ich auch bei ihren Toden anwesend! Nun gut – der ein oder andere könnte noch Groll gegen mich hegen, also ist es vielleicht besser, wenn wir diese Party auf später verschieben. Man weiß nie, wie schnell so ein Geisterwolf noch eine Wurzel durchgebissen bekommt.
Jetzt aber mal allen Spaß beiseite, ich möchte nicht sterben. Nicht jetzt und schon gar nicht so! Das ist nicht fair.
Ja, und in diesem Moment pufft es dann plötzlich neben mir und auf so einer rosa Wolke schwebt da plötzlich ein seltsamer Typ.
Ein Mensch, von all den Gestalten, die hier herumgeistern könnten. Es hat, glaube ich, ziemlich ungewöhnlich dunkle Haut und lange Haare – ist also vermutlich ein Weibchen. Seine Augen dagegen … Seine Augen sind das markanteste, denn es sind Wolfsaugen. Obwohl ihre Form menschlich ist (soweit ich das sagen kann), sind es Wolfsaugen. Sie sind rot, aber sie sind keine Sternwolfaugen, eher noch entsprechen sie den Augen der Wölfe aus Fiebersterns Rudel. Gierig, glitzernd, gelbstichig. Keine angenehmen Augen.
Ich blinzele das Wesen an, das sich lächelnd oder zähnefletschend vorbeugt.
„Wunderschönen guten Tag.“
Der Typ setzt sich auf komische Menschenart auf seine Wolke, die Unterbeine so verschränkt, dass er bestimmt nicht wieder aufstehen kann. Ob er sich die Kniescheiben gebrochen hat? Aber er spricht wölfisch und seine Stimme macht mir auch noch etwas Neues deutlich: Er ist ein Alpha-Männchen.
Da er mich erwartungsvoll ansieht, nuschel' ich irgendwas Unverständliches durch die Zähne. Das scheint ihm zu reichen, immerhin ist es das Beste, was ich mit der Wurzel im Maul hinbekomme.
„Mein Name ist Clive Hanger. Ich bin gerade zufällig hier vorbeigekommen“, plaudert der Kerl weiter.
Spätestens jetzt ist ja wohl klar, dass hier was im Argen liegt. Ich blinzele ihn misstrauisch an. Wer heißt denn schon Clive?
„Der Name hat übrigens die Bedeutung 'klettern', 'aufsteigen' oder 'kleben'. Das Wort ist fast das Gleiche, egal in welcher Sprache es auftaucht. Einfach faszinierend, findest du nicht?“
Na toll, er ist ein Linguist. Die bedeuten niemals was Gutes. Ich zucke mit den Ohren.
„Cliven, kliva, klífa, kleben.“ Der Blick meiner neuen Bekanntschaft schweift verträumt in die Ferne. „Klippen.“ Er sieht mich an.
Ich knurre ungehalten. Komm zur Sache, Mensch. Wenn du so einen lustigen Knallstock dabeihast, dann verwende ihn wenigsten, ohne mir vorher noch etwas beizubringen!
„Aber nein, ich habe keinen Knallstock! Ich bin hier, um dir zu helfen.“ Clive bemüht sich um ein sympathisches Lächeln. Aber die Chance hat er vertan, als er damit anfing, in meinen inneren Monologen rumzustochern.
„Nimm es mir nicht übel, aber dein Wurzelnuscheln kann doch keine lebende Seele verstehen.“ Clive legt den Kopf schief. „Ich vernahm so zarte Gedanken wie 'Ich will nicht sterben', entsprechen diese noch deinem allgemeinen Geisteszustand?“
Ich starre Clive an. Wer zur Hölle ist er?
„Nah dran, mein Junge. Also!“ Clive steht auf und reicht mir eine Hand entgegen. „Soll ich dich retten?“
Öhm. Ja. Bitte!
Während ich noch überlege, ob ich mich verrenken und ihm eine Pfote in die Hand drücken soll – Menschen machen so was doch, oder nicht? – holt Clive aus und schlägt auf meine Sicherheitswurzel, die natürlich prompt reißt. Mit einem Jaulen stürze ich in den sicheren Tod --- und lande keinen Meter tiefer auf weichem, hohen Gras. Verwundert springe ich auf und sehe mich um. Wie der Himmel erscheint mir der Ort nicht, eher wie eine Wiese am Fuß einer nicht besonders hohen Klippe. War das etwa die ganze Zeit …? Na toll, hätte ich nur mal einen Blick nach unten riskiert, statt Höhenangst zu schieben!
Clive schwebt auf seiner Wolke ein Stückchen über mir. „Du stehst in meiner Schuld, Grauwolf.“
„Stimmt nicht!“, belle ich. Ich schmecke Wurzel zwischen meinen Zähnen. Igitt.
„Tja, gerichtlich gesehen hättest du meiner Hilfe nicht bedurft, zugegeben.“ Clive rollt sich auf seiner Wolke herum wie eine Katze. Das macht ihn mir nur noch unsympathischer. „Aber du hast sie nun einmal in Anspruch genommen. Wenn du dir ein Brötchen gekauft hättest, obwohl du keinen Hunger hast, musst du ja auch bezahlen.“
„Ich hab noch nie ein Brötchen gekauft.“ Allerdings ahne ich, dass auch dieser Einwand mir nicht mehr viel hilft.
„Du stehst in meiner Schuld“, wiederholt Clive drohend. Ich ducke mich instinktiv, denn aus irgendeinem Grund scheint urplötzlich ein Gewitter aufzuziehen. Dunkle Wolken verdecken den Himmel und von allen Seiten grollt Donner. „Du wirst den Preis bezahlen müssen.“
Schicksalsergeben rolle ich mich auf den Rücken und entblöße die Kehle.
„Du wirst für mich drei Aufgaben erfüllen“, fährt Clive fort.
„Drei?“, belle ich. „Ist das nicht etwas übertrieben für einen einzigen Schnitt?“
„Es ist der Preis für ein gerettetes Leben.“ Clive lässt sich natürlich nicht beirren. Aber den Versuch war's wert. Wenn ich doch bloß nicht so hundsmiserabel im Feilschen wäre!
„Schön, was sind das für Aufgaben?“, frage ich also. Hoffentlich etwas, das sich vor der Abendjagd erledigen lässt.
„Zuallererst wirst du mir die Tränen des Mondkalbs bringen!“, donnert Clive. Seine nächsten Worte klingen dagegen weniger herrschaftlich, sondern unsicher. „Danach … sehen wir weiter.“
„Was? Was ist denn ein Mondkalb?“, stammele ich noch, doch es pufft und Clive verschwindet so plötzlich, wie er erschienen ist.
„Trääähääänen des Mohohondkalbs! Uuuhuhuhuuu!“, tönt es noch mit verhallender Stimme, als sich die letzten Wolkenpüffchen auflösen.
Ich stehe im Gras einer Wiese und alles ist normal: Vögel singen in den Bäumen, die Blätter rauschen, ein wenig Erde rollt über den Lehmüberhang, den ich fälschlicherweise für eine tödliche Klippe gehalten habe. Das Gewitter hat sich auch verzogen. Ich bin zwar verwirrt, aber mir ist klar, dass das eben Geschehene nichts Gutes war. Ganz im Gegenteil, es war ein großer Fehler. Denn in der Schimmerwelt werden nicht nur die Träume Wahrheit, die Albträume werden es auch.