Unsere bunt zusammengewürfelte Truppe erreicht das Dorf nach einem förmlichen Geschwindigkeitsrekordritt.
Das Dorf besteht aus einer Handvoll niedriger Hütten aus Lehm und Wellblech, die offenbar dazu gebaut sind, großer Hitze zu widerstehen. Ich sehe mich verwirrt um. Die Kakteen, die im Mondlicht schlummern, die kleinen Hütten und die Kirche, die sich um einen Brunnen drängen, staubige Wege … das Bild kenne ich doch aus Westerncomics!
„Sagt mal – sind wir in Mexiko? Wie haben wir das denn geschafft?“
Der Kutscher wendet mir das hinter einem schwarzen Tuch verborgene Gesicht zu. „Offenbar haben wir alle den Orientierungssinn einer dreibeinigen, blinden Maus.“
„Wir hätten einen kompletten Ozean überqueren müssen!“, murmele ich entgeistert vor mich hin, aber alle weiteren Grübeleien werden von einem hohen Jaulen unterbrochen.
„Wölfe!“, flucht Hildtraut.
„Aber auf gar keinen Fall!“, empöre ich mich. „Kein Wolf, der etwas auf sich hält, würde derartig gruselig heulen! Auch keine Baileys.“
„Baileys?“, fragt Mortimer mich.
„Baileys. Rostwölfe. Die normalen Kanonikos in diesem Land.“
Meine Begleiter tauschen verwunderte Blicke.
„Ich glaube, ihr nennt sie mexikanische Wölfe“, grummele ich leise. „Aber das, was wir hören, sind keine.“
Mortimer schnalzt, worauf die Pferde wieder schneller werden. Der Kutscher hält direkt auf die Kirche zu.
„Moment, was habt ihr vor? Wir dürfen nicht in eine Kirche!“
„Du hast das Gejaule gehört, nicht wahr, du Baileys?“, knurrt Siebenschläfer. „Das sind irgendwelche Monster, und wenn wir die Nacht überleben wollen, müssen wir einen sicheren Ort finden.“
„Die Einzahl wäre Bailey“, verbessere ich instinktiv, während mein Blick über die Hütten gleitet. Die Vorhänge oder Fensterläden sind geschlossen, doch ich kann menschenförmige Schemen erkennen, die nach draußen spähen und uns beobachten. „Aber ich bin ein europäischer Wolf, ein Lupus oder Grauwolf.“
Das genervte Stöhnen, das Siebenschläfer ausstößt, macht mir klar, dass ich es mal wieder übertreibe. Also verstumme ich, während Mortimer die Kutsche hält und seine ‚Jungs‘ vom Wagen springen. Sofort beginnen die sechs, die schwere Kiste vom Wagen zu wuchten, während die Pferde nervös mit den Hufen stampfen und schnauben.
Die Tür zu einer der Hütte öffnet sich und ein Mexikaner kommt heraus. Zu meinem Erstaunen trägt er weder Sombrero noch Poncho, sondern sieht ganz normal aus. Ein älterer Mann mit schwarzen Haaren und leicht gebräunter Haut. Irgendwie sieht er aus wie ein Wirt.
„Wer seid ihr?“, fragt er mit einem hörbaren Akzent. Wenigstens etwas, das zu meinem Weltbild passt! „Hört ich das Heulen nicht?“
„Doch, wir hören es“, faucht die kleine Angela ihn an. „Deswegen wollen wir in eure Kirche.“
„Aber natürlich!“ Der Mann pfeift und mehrere Jungen – offenbar seine drei Söhne – kommen aus dem Haus. Einer nimmt die Zügel der Pferde und fährt unseren Wagen eilig in einen offenen Stall an der Seite der Kirche, der Vater und die anderen beiden Söhne packen mit an und wuchten die Kiste, die wir bewachen sollen, in die Kirche.
Ich bleibe vor der Pforte stehen. Ohne Daumen bin ich leider nirgendwo besonders hilfreich. Dafür höre ich plötzlich ein lautes Knurren ganz in der Nähe. Irgendwo direkt außerhalb des Lichtes, das aus den Fenstern fällt.
Mein Rückenfell sträubt sich wie eine Scheuerbürste. Ich drehe mich um und entdeckte ein Wesen im Schatten am Rand des Dorfes. Hager, haarlos, wie ein abgemagerter, bösartiger Kojote. Das Wesen funkelt mich mit gelblichen Augen an und wieder stößt es dieses Knurren aus.
„Ahhh!“ Mit einem Schrei flitze ich in die Kirche.
„El Chupacabra!“, schreit der Familienvater. Er und seine drei Söhne geben Fersengeld zu ihrem Häuschen und können die Tür im letzten Moment zuschlagen. Dann kracht das Biest von außen gegen die Tür und kratzt mit langen Krallen über das Holz. Sein Knurren geht mir durch Mark und Bein und scheint in den Steinen unter meinen Pfoten zu vibrieren.
„Schließt die Tür!“, brüllt Siebenschläfer und zieht ein Schwert. „Die Tür, na los!“
Die Bestie hört ihn und dreht sich um. Ihre Augen glühen, als sie den Blick auf uns richtet. Vor Entsetzen entweicht mir ein Winseln, als das knochige Wesen mit hungrigem Blick auf uns zu kommt, Schritt für Schritt. Es ist riesig! Die Visionen, die Lyssa in diesem Moment zeichnet, wären eine Fundgrube für jeden Horrorspielentwickler.
Dann werfen sich Mortimer und Hildtraut gegen die Kirchtüren und schlagen die Portale zu. Schlagartig wird es dunkel, denn im Inneren des Gotteshauses brennt kein einziges Licht. Draußen knurrt das Monster und ich höre, wie es über die Tür kratzt und dann mit einem Jaulen zurückweicht.
„Ja!“, ruft Siebenschläfer triumphierend. „Jaahahaa! Das hier ist heiliger Boden, Mistkerl!“
Wir lauschen auf Geräusche von draußen, können aber nichts hören. Stattdessen erklingt etwas im Inneren der Kirche. Es klingt wie ein gequältes Stöhnen.
„Was war das?“, frage ich alarmiert.
„Was?“, fragt Mortimer zurück. „Ich habe nichts gehört.“
„Da war ein Geräusch!“
Meine Begleiter reagieren sofort und entzünden die Fackeln, die überall im großen Kirchenschiff hängen. Bald füllt goldenes Licht diese Hallen und die flackernden Schatten erwecken den Eindruck, die Heiligenbilder an den Wänden würden sich bewegen.
Aber ein Verursacher des Stöhnens ist nicht zu finden. Nun, vielleicht habe ich mich getäuscht und es war nur das Ächzen der Holzbalken.
Wir lassen die Kiste mit Schätzen vor der Tür stehen und ziehen uns in einen Raum im vorderen Teil der Kirche zurück. Irgendeine Kapelle oder Kartei oder so … Ganz ehrlich, ich habe die Menschen und ihre Religionen niemals verstanden. Unsere Wolfsreligion stützt sich ja wenigstens auf Tatsachen, während die Menschen sich wegen ihrer Hirngespinste streiten. Sie haben ja gar keine Beweise für ihre Götter, das alles hat sich also irgendwann mal jemand ausgedacht! Wir dagegen – wir wissen, dass die Toten zu Sternen werden und über uns wachen.