Igor bedeutet mir mit einer Hand, einzutreten. Nervös schleiche ich ins Innere des Hauses und zuckte zusammen, als die Tür hinter mir mit einem lauten Knall ins Schloss fällt. Lyssa malt aus irgendeinem Grund Sargdeckel vor mein Inneres Auge.
Ich fühle mich in Menschenhöhlen einfach nicht wohl.
„Koooomm“, knurrt Igor mit noch stärkerem Akzent als der Schatten. Mensch, der Typ klingt wie Twisty, der Clown!
Ich tapse gehorsam an einem Holztisch heran und springe auf eine dunkle Bank. Auf dem Tisch entdecke ich Papiere und Landkarten.
Igor drückt einen knorrigen Finger mit einem langen, gelben Fingernagel auf die Karte. „Daaaas iiiist diee Rrrroute.“
Es folgt eine lange Erklärung, deren Niederschrift ich euch und mir an dieser Stelle erspare. Kurzum, es geht von Griechenland aus durch Bulgarien nach Rumänien, alles mit einem Kutschengespann, dessen Führer wohl sehr wortkarg sein sollen. Und weil es ihnen offenbar auch an Intelligenz mangelt, soll ich die Organisation übernehmen.
Transportiert wird eine längliche Kiste mit Schmuck und wertvollen Papieren. So wertvoll und alt in der Tat, dass der Inhalt niemals direktem Sonnenlicht ausgesetzt werden darf. Nachts dagegen soll die Kiste geöffnet werden, damit die Ware nicht zerquetscht wird, allerdings sollen die Kutschenfahrer und alle anderen Menschen von der Truhe ferngehalten werden, und sich am besten komplett außer Sichtweite aufhalten. Vor dem ersten Sonnenlicht soll die Kiste wieder verschlossen werden. Wasserspritzer sind zu vermeiden, weshalb es verboten ist, Flüsse zu überqueren. „Scharfe“ Dämpfe, zum Beispiel von kochenden Zwiebeln, können der Ware ebenfalls schaden. Und den Schatz durch Zuführen von weniger wertvollem Silber entedeln darf man ebenfalls nicht.
Das alles erklärt Igor mir über drei Stunden hinweg haarklein und mit einer Menge in die Länge gezogenen Vokalen. Am Ende fühle ich mich von seinem Mundgeruch benebelt und so müde, dass sämtliche Satzfragmente in meinem Kopf durcheinander wirbeln und sich zu neuen Sätzen zusammenfügen. Einer dieser Sätze lautet übrigens „Mehr Kakao.“ Und ein anderer „Hummeln sind schlechte Steuermänner.“
„Wann geht’s denn los?“, frage ich müde.
„Mooorrrrgen Aaabeend. Seeeiiii püüüünktliiich.“
„Ja, klar“, murmele ich und lasse mich nach draußen eskortieren, wo ich mich völlig erschöpft in der Gasse zusammenrolle und in einen ausgesprochen unerholsamen Schlaf falle, der angefüllt ist mit Träumen von schräg singenden Büchermassen, Schiffen, die auf See kentern, weil Hummeln keine Steuerräder bedienen können, und einmal träume ich doch glatt, dass ein Schwarm Fledermäuse an mir vorbei saust, durch die Tür gleitet, menschliche Gestalt annimmt und in einen Sarg klettert.
Verrückte Träume.
*
Am Morgen werde ich von der aufsteigenden Hitze wach. Ich stehe auf, strecke mich und stelle fest, dass es einige Stunden vor Mittag sein muss. Verflixt, ich muss noch einen halben Tag warten – da kann noch alles mögliche Unvorhergesehene geschehen, das mich im letzten Moment von meinem Weg zum Mond abbringt.
Dieser Gedanke war offenbar ein Stichwort, denn nun höre ich ein aggressives Fauchen hinter mir. Ich drehe mich um und sehe eine verdreckte, dürre Katze auf einer Mülltonne.
„Mein Revier!“, faucht sie mich an.
„Hör mal, ich will dir nichts wegjagen oder so“, sage ich besänftigend. „Ich möchte hier nur bis zum Abend warten.“
Die Katze faucht noch mal. Allerdings klingt sie traurig. „Du scheinst ein ganz netter Kerl zu sein“, maunzt sie. Was mich beruhigt, denn ich will wirklich nicht ihre Krallen in der Nase haben.
„Dann darf ich hier bleiben?“, frage ich das magere Wesen.
Die Katze schüttelt den Kopf. „Tut mir leid. Solange es nicht regnet, bin ich dazu verflucht, in dieser Gasse zu jagen. Hier sind sowieso schon so wenige Mäuse, und es hat so lange nicht mehr geregnet.“
Sie sieht wirklich halb verhungert aus. Ich habe sofort Mitleid.
„Kann ich dir irgendwie helfen? Dir Beute bringen oder so?“
„Leider nein. Ich kann auch nur selbst Erjagtes fressen, Teil meines Fluchs. Solange du es nicht regnen lassen kannst, ist das einzige, was du tun kannst, weggehen.“
„Wer hat dich denn verflucht?“
„Ach, so ein komischer Kauz“, meint die Katze unbestimmt. „Total Plemplem und ständig als rosa Wolke unterwegs.“
„Clive Hanger!“
Die Katze sieht mich an. „Das war nicht sein Name. Dann wieder scheint er seinen Namen ständig selbst zu vergessen.“
Ich denke nach. Womöglich ist ‚Clive Hanger‘ gar nicht der echte Name meines geheimnisvollen Auftraggebers. Aber ganz sicher bin ich mir nicht mehr, dass es sich um die gleiche Person handelt.
„Ich gehe dann mal“, sage ich zu der Katze, die mich mit einem müden Wink ihres Schwanzes entlässt und sich frustriert auf den Deckel einer Mülltonne legt.
Tatsächlich verlasse ich die Gasse, doch mit dem festen Willen, diesem halb verhungerten Tier zu helfen. Gut, ich kann nicht für sie jagen und ihr vermutlich auch keine Beute in die Gasse schicken. Dann muss halt ein Regenzauber herbei!
Ich bin übrigens der Letzte, der abstreiten würde, ein hoffnungsloser Optimist zu sein.
Weil ich ja glücklicherweise noch in der Gegend bin, mache ich einen Abstecher zur Wikiothek und frage sie nach Möglichkeiten, Regen zu erschaffen. Ziemlich verwundert über meine frühe Rückkehr sucht sie mir diverse Regentänze, ein paar Götter und einen sehr komplexen, wissenschaftlichen Artikel heraus.
„Was treibst du denn schon wieder, Marv?“, fragt die Wikiothek besorgt.
„Ich hab ein Jobangebot, und als Lohn kriege ich eine Reise zum Mond und zurück“, erkläre ich stolz.
„Das ist super! Und wie hängt das mit dem Regen zusammen?“
„Öhm“, druckse ich herum. „Ich müsste heute noch ein wenig Regen machen, bevor es losgeht.“
„Heute noch?!“
„Ja, wieso? Hast du Wäsche draußen?“
„Nein, aber die Sprüche, die ich dir gegeben habe, brauchen alle mehr Zeit. Viel mehr Zeit.“
„Oh.“
„Das kürzeste, was mir einfällt, wäre, den Teller nicht leer zu essen, aber das hättest du gestern schon machen müssen.“ Die Wikiothek ringt ihre im Moment menschlichen Hände. „Warum bist du nur immer so spontan, Wolf?“
„Ähm. Na ja.“ Muss ich ihr wirklich erklären, dass ich viel zu viel im Kopf herumgehen habe, als dass ich langfristige Pläne machen könnte? Ich habe eine Lyssa da wohnen, zur Finsternis nochmal! Die bringt immer alles durcheinander.
Zum Glück fragt die Wikiothek nicht weiter nach, sondern seufzt und meint dann: „Gut, eine Idee habe ich noch. Weißt du, was ein Regenmacher ist?“
Ich spitze die Ohren. „Das klingt nach einem Gerät, das Regen macht.“
„Was du nicht sagst. Also kennst du es nicht. Hör zu, wir brauchen …“